Tichys Einblick
Über allem die Freiheit

Zum 50. Todestag von Konrad Adenauer

Der erste Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland setzte die Westbindung durch, weil ihm Freiheit vor Einheit ging. Damit gewann er die Deutschen, die zuvor unheilvoll "den Staat zu ihrem Götzen gemacht hatten", letztlich für die Demokratie.

© Keystone/Getty Images

Als Konrad Adenauer 1876 geboren wurde, war Otto von Bismarck Reichskanzler. Sein Leben überspannte zwei Weltkriege, Hitlers Holocaust und Deutschlands dunkelste Stunden. Als er am 17. April vor fünfzig Jahren starb, bewegten Studentenproteste das Land. Das Ende einer bleiernen Zeit? Mitnichten. Adenauer hatte die Bonner Republik begründet, den Staat, dem das Glück der Bürger mehr galt als allen anderen zuvor. Er war kein Mann von gestern, sondern der Titan, der die Bundesrepublik aus den fatalen Irrwegen ihrer Geschichte löste, so gut es eben ging.

Dieses Werk beginnt lange bevor Adenauer zum ersten Bundeskanzler gewählt wird. Die Frage der Gesellschaftsordnung ist ihm wichtiger als die Frage der Einheit. Freiheit statt Sozialismus, Freiheit statt Einheit: das sind die beiden großen Entscheidungen, die er gegen heftigen Widerstand auch in der eigenen Partei durchsetzt. Beide sind eng miteinander verbunden. Adenauer glaubt, dass die Westdeutschen nur dann für die Demokratie zu gewinnen und dem Nationalismus zu entwöhnen sind, wenn Westdeutschland wirtschaftlich rasch genesen kann. Die Einheit wäre nur als sozialistische Einheit zu haben gewesen. Das begreifen damals nicht viele.

Was drauf steht, ist nicht drin
DER SPIEGEL Nr. 15: Dünn
Die Westdeutschen haben Glück im Unglück. Die wichtigste Entscheidung wird ihnen von den Alliierten abgenommen. Die Demokratie kommt ganz undemokratisch über sie. Aber sie sind von der Überlegenheit des Kapitalismus noch nicht überzeugt. Die SPD ist noch Klassen- und keine Volkspartei. Ihr Anführer Kurt Schumacher verbindet Sozialismus mit einem nationalistisch getönten Kampf für die Einheit Deutschlands. Nie wieder wollen Sozialdemokraten als vaterlandslose Gesellen gelten. Aber gefährlicher noch sind Adenauers Gegner in der CDU. Verstaatlichung der Industrie, Aufteilung des Grundbesitzes sind Ziele, die Adenauers Antipode, der Berliner Jakob Kaiser vertritt. Der glaubt auch, Deutschland müsse eine Sonderrolle zwischen West und Ost spielen, eine Brücke zwischen den Blöcken bilden. Kaiser trägt heute völlig zu Unrecht einen Heiligenschein, und ein Parlamentsgebäude in Berlin seinen Namen.

Adenauer erscheint zunächst als der Schwächere. Noch hat er nicht Ludwig Erhard an seiner Seite, noch ist die Marktwirtschaft nicht durchgesetzt. Kaiser und seine Anhänger wollen „um fast jeden Preis die Reichseinheit erhalten“ klagt Adenauer, zeigt sich scheinbar kompromissbereit. Noch im Ahlener Programm der CDU (1947) heißt es, das kapitalistische Wirtschaftssystem sei den „Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden.“

Ein erbitterter Kampf tobt hinter den Kulissen. Adenauer kann nicht ausschließen, dass die öffentliche Meinung gegen ihn ausschlägt, wenn er offen ausspricht, was ihn bewegt. Es ist kein gewöhnlicher Machtkampf, der zwischen ihm und Kaiser um den Vorsitz der neuen Partei CDU tobt.

Die Teilung Deutschlands wird feierlich beklagt, auch von ihm. Adenauer aber weiß, dass den Deutschen vorübergehend genommen werden muss, was sie in den Abgrund getrieben hat. Sie haben ihren Nationalismus übertrieben und missbraucht. Den Deutschen gilt damals noch nicht die Freiheit des Individuums als höchster Wert. Das unterscheidet sie von den Nachbarn im Westen. Adenauer kämpft gegen beide Formen des Kollektivismus: Nationalismus und Sozialismus. Er setzt die Deutschen auf Entzug. Denn er weiß, dieses Volk „hat den Staat zum Götzen gemacht und auf den Altar erhoben. Die Einzelperson, ihre Würde und ihren Wert hat es diesem Götzen geopfert“. Adenauer wettert gegen diesen „preußischen Geist“, wie er ihn nennt.

Man muss es so klar sagen: Die Teilung ist für ihn nicht bloß eine unerwünschte Nebenwirkung des Kalten Kriegs. Das ungeteilte Land hätte an der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft nicht teilgenommen, also aufs Wirtschaftswunder verzichten müssen. Natürlich darf der Alte niemals zugeben, dass er so denkt. Für drei Viertel der Deutschen ist das ein Segen, den Rest beißen die Hunde. Adenauers westdeutsche Staatsräson lautet: „Wir haben der Welt mit immer größerer Lautstärke verkündet, die Wiedervereinigung ist das erste Problem der Welt. Das ist falsch. Das erste Problem ist, dass wir in Frieden und Freiheit bleiben, zunächst die 50 Millionen, und dann kommen die 18 Millionen.“ Sein Argument erweist sich später als richtig: Nur ein starker Westen werde die Sowjetunion zwingen, sich aus Ostdeutschland zurück zu ziehen.

Adenauer lehnte konsequent alle Avancen Stalins ab. Er selbst fragte Moskau, ob die DDR nicht nach dem Vorbild Österreichs ein neutraler, halbwegs demokratischer Staat unter Kontrolle der UNO werden könnte. Wieder sein Kredo: Er hält die nationale Einheit für zweitrangig, es geht ihm um möglichst viel individuelle Freiheit für möglichst viele Deutsche. Schon Adenauer erwägt heimlich die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur DDR (Globke-Plan). Die Entspannungspolitik Willy Brandts baut später darauf auf.

Seinen ersten Wahlsieg verdankt Adenauer Ludwig Erhard. Mit einer einzigen Stimme schafft er es ins Amt. Er lehnt dennoch gegen starke Kräfte der eigenen Partei eine Große Koalition ab, und wird dies später als die neben der Aussöhnung mit Frankreich wichtigste Entscheidung seines politischen Lebens bezeichnen. Acht Jahre später gewinnt seine Partei zum einzigen Mal in der Geschichte die absolute Mehrheit, verzichtet dennoch auf Alleinregierung.

NATO ANNIVERSARY: The Federal Republic of Germany becomes a member of NATO 6/05/55. Germany (Chancellor Konrad Adenauer) takes a seat at the Council table. NATO celebrates its fiftieth anniversary on Washington DC on April 23rd 1999. (photo by NATO)

Wäre es nach Adenauer gegangen, hätte auch die europäische Einigung einen anderen Weg genommen. Als ein noch immer nationalistisches Frankreich nein sagt zur europäischen Verteidigungsgemeinschaft, ist dies in Adenauers Augen „ein schwarzer Tag für Europa“. Und als die Saarländer abstimmen dürfen, zu wem sie gehören wollen, plädiert Adenauer für ein französisches Saarland, weil er das größte Hindernis für die deutsch-französische Freundschaft aus dem Weg haben will, den Schlüssel zur Westbindung. Das passt nicht in die Heiligenlegende des Adenauerhauses. Angela Merkel schwadronierte über die Saarabstimmung als Vorläuferin der Wiedervereinigung. Die Kanzlerin mag vieles sein, eine Erbin Konrad Adenauers ist sie nicht.

Für seine großen Ziele geht Adenauer fragwürdige Kompromisse ein. Ein Viertel der Deutschen plädiert 1950 in Umfragen noch für einen Einparteienstaat, zehn Prozent halten Hitler noch immer für einen verdienstvollen Staatsmann. Deshalb schont Adenauer die alten Nazis, bindet sie ein, schützt sie vor Strafe, bemüht sich, ihnen Vertrauen in die Demokratie einzuimpfen.

Der von der Geschichte desillusionierte Misanthrop ist nicht reaktionär. Er glaubt nur nicht an ein plötzlich geläutertes Volk. Die Liberalisierung des Landes werden andere nachholen müssen. Die Deutschen lernen die Demokratie in Gestalt eines Patriarchen kennen. Er wendet Mittel an, die nicht aus dem Poesiealbum stammen. Und auch manch falsche Weichenstellung kommt vom Misstrauen Adenauers vor der Gesinnung der Wähler.

Seinen großen Zielen zuliebe verstößt er gegen die eigenen ordnungspolitischen Grundsätze. Zunehmend überbordende Sozialpolitik ist sein Mittel, die Gesellschaft auf Konsens zu trimmen. So wird etwa die Kapitaldeckung der Rentenversicherung aufgegeben, Adenauer gewinnt damit die am tiefsten von Nationalsozialismus imprägnierten Alten. So ein System kann nur mit überdurchschnittlichem Wachstum funktionieren; Probleme sind vorprogrammiert.

Doch bei allen fundamentalen Entscheidungen von der Marktwirtschaft über die Wiederbewaffnung bis zu Westbindung ist Adenauer nicht herrschenden Stimmungen nachgelaufen, sondern hat um seine zunächst unbequemen und unpopulären Überzeugungen gerungen. Adenauers Politik ist das schiere Gegenteil dessen, was die derzeitige Kanzlerin treibt. Sie ist nur eine Amtsinhaberin. Adenauer war Staatsmann.

Auch von Adenauers Schwächen ließe sich lernen. Er konnte sich nicht rechtzeitig von der Macht trennen. Wie später Kohl, wie heute Merkel. Eine vierte Legislaturperiode tut keinem Kanzler gut.

Dieser Beitrag ist in der neuen Ausgabe von ‚Tichys Einblick‘ 05/2017 erschienen: