Tichys Einblick
Kulturlos

Windräder: Das Märchenland ist in Gefahr

Früher postulierten nicht nur Grüne: Erst stirbt der Wald, dann der Mensch. Und jetzt? Ihr hessischen Grünen, was hat der Märchenwald Euch denn getan? Eure norddeutschen Parteifreunde sagen inzwischen, Repowering sei genug, keine neuen WKAs.

Der Reinhardswald morgens im Spätherbst

Wenn ich durch den Reinhardswald mit seinen uralten Bäumen streife, dann fühle ich mich klein wie ein Zwerg. Einer der Zwerge aus der Truppe um Schneewittchen. Die werden Sie wohl kennen, ebenso wie Dornröschen, den gestiefelten Kater und all die anderen Protagonisten aus den Märchen der Gebrüder Grimm. Hier sind sie durch die Wälder gezogen, haben gelauscht, die alten Geschichten aufgeschrieben und in die ganze Welt getragen.

Doch was sie heute zu berichten hätten, das wäre kein Märchen, sondern ein Albtraum. Wären wir heute wirklich die Figuren aus Grimms Märchen, wir wären sehr traurig. Und zornig – angesichts eines Herrschers aus dem Süden, der gemeinsam mit seinen mächtigen Ministern sich anschickt, unseren Märchenwald samt angrenzenden Wiesen und Feldern in eine Höllenlandschaft zu verwandeln …

Mal der Reihe nach. Unser Märchenland, das ist das obere Wesertal, nahe Kassel an der Nordspitze Hessens. Das Tal an sich ist schon ein Märchen. Doch vollständig wird es erst durch die weiten Wälder, die es umschließen. Einer davon ist der Reinhardswald, des Landes größtes zusammenhängendes Forstgebiet, mit 23.000 Hektar Fläche, 18 Naturschutzräumen, Artenvielfalt in elf geschützten Flora-Fauna-Habitaten und archäologisch einzigartiger Geschichte in Deutschland. Es ist schwer, den Zauber dieser Welt zu beschreiben – am besten, Sie erleben selbst einmal den weiten Blick über die endlose Natur, vielleicht von der Kaffeeterrasse der Sababurg aus, unserem Dornröschenschloss, mit Europas ältestem Tierpark. Ich garantiere Ihnen: Spätestens dann verstehen Sie sofort, was ich meine …

Der Reinhardswald morgens im SpätherbstDer Reinhardswald morgens im SpätherbstDer Reinhardswald morgens im SpätherbstBlick über das OberwesertalDie OberweserDie Oberweser in Richtung OedelsheimDie OberweserOberweser bei GieselwerderReinhardswald mit Sababurg
„Bitte beunruhigen Sie das Wild nicht – bleiben Sie auf den Wegen!“ So mahnten Tafeln den Spaziergänger und Erholungssuchenden auf Wanderparkplätzen noch bis vor kurzer Zeit. Und nun?

Inmitten dieser Idylle sollen nun mindestens 40 Windräder gebaut werden, die derzeit größten, jedes davon 230 Meter hoch! Ich sehe die Zerstörung vor mir: Kahle, gerodete Flächen in der Größe von zusammen etwa 80 Fußballfeldern; anschließend über Monate Großbaustellen – mitten im Wald: 6.000 Schwerlastfahrten quer durch die Stille sorgen für nicht revidierbare Bodenverdichtungen auf eigens dafür in die wehrlose Natur hinein geschlagenen breiten Pisten, es entstehen 5 Meter tiefe Fundamente, jedes davon 20 Meter breit, hergestellt aus 40.000 Tonnen Schotter und Stahlbeton. Das Wildleben: erstorben, mit seinen Tiergeräuschen, dafür machen die Radflügel Tag und Nacht einen irren Lärm. Und fangen die 3.000 Liter Schmieröl in der Gondel auf 150 Metern Höhe Feuer, so kommt keine Feuerwehr an sie heran, „kontrolliert abbrennen lassen“ ist dann die Devise – die abbrennenden Teile fallen herunter und setzen bei Trockenheit den Wald womöglich  großflächig in Brand.

Wir sind fassungslos, können nur mit dem Kopf schütteln und werfen einen Blick zurück auf die letzten Jahre … wie fing nur alles an?

Nach Gutsherrenart

2011. Nach Fukushima räumt die hessische Landesregierung mit dem 2-%-Flächenbeschluss der Windkraft im Wald den Weg frei: Zwei Prozent der Landesfläche sollen für Großwindanlagen zur Verfügung gestellt werden. Man erwartet wohl keinen Widerstand in der nördlichen, strukturschwachen Region – überproportional viele Flächen werden für die Wälder rund um Kassel und besonders für den Reinhardswald vorgesehen. Formell lässt die Staatskanzlei in Wiesbaden im Einvernehmen mit Wirtschafts- und Umweltministerium, beide grün (GRÜN!) besetzt, das Regierungspräsidium (RP) Kassel den sogenannten „Teilregionalplan Energie Nordhessen“ offenlegen.

Der Plan löst umgehend eine starke Gegenbewegung aus. In unserer Heimat schießen etliche Bürgerinitiativen wie Pilze aus dem Boden, in fast jedem Dorf eine. Sie bündeln ihre Aktivitäten, informieren die Bevölkerung auf Marktständen und Parkplätzen, in Kundgebungen und Dorfgemeinschaftshäusern, bei Bürgerfesten und Ratsversammlungen. Sie schreiben unzählige Pressemitteilungen, erklären und stellen klar, schrecken auf und blasen mit großem Erfolg zum Widerstand gegen den Regionalplan: Über 32.000 einzelne  Stellungnahmen werden beim RP Kassel eingereicht, das Monate braucht, um sie überhaupt nur zu sichten. Dieser derart massive politische Aufstand gegen WKAs im Wald kommt unerwartet, er ist bis dahin wohl auch einzigartig. Und – dass Wildvögel und Windräder sich spinnefeind sind, versteht sich von selbst: So entsteht zum ersten Mal überhaupt in den hessischen Wäldern um die Oberweser herum eine differenzierte Avifaunakartierung, weil engagierte Vogelschützer ehrenamtlich, jedoch fachkundig begleitet von Ornithologen, hunderte Kilometer durchs Gehölz unterwegs sind, um unzählig viele Horste und Flugbewegungen rechtssicher festzustellen – und damit offiziell festzuhalten, woran wir Einheimische uns, seit wir denken können, das ganze Jahr über freuen: das in Deutschland einzigartige und schützenswerte Aufkommen an Wildvögeln im oberen Weserbergland. Schwarzstorch und Rotmilan, Falke, Bussard und viele Arten mehr sind hier im Märchenland zuhause.

Doch – abgesehen von der erheblichen Verzögerung – erreicht der Proteststurm bei den Entscheidern fast nichts! Nur kleinste Eckchen der geplanten Bebauungsflächen fallen weg, hie und da noch etwas kosmetische Veränderungen, fertig ist der Plan. Am 07. Oktober 2016 peitscht die nordhessische Regionalversammlung die Akte durch – in Anwesenheit einer fassungslosen, hilf- und machtlosen Gegnerschaft auf den Zuschauerrängen. Nein, so wird uns erklärt, die Anzahl und die Eindringlichkeit all der Gegenstimmen, vorgebracht von vielen Bürgern, Bürgermeistern, Lokalpolitikern – habe hier nicht an sich Gewicht; unsere Warnrufe, u.a. gegen die Zerstückelung des zusammenhängenden, intakten Naturraumes, die zu erwartende, empfindliche Störung des Landschaftsbildes und den Rückgang des Tourismus – sie genügen also nicht für eine ernsthafte Korrektur dieser Agenda.

So geht Energiewende auf hessisch! Wir erleben live und in Farbe ein Musterbeispiel für mangelnde Gewaltenteilung. Es gibt kein Korrektiv. Kontrolle durch die bürgerliche Basis, durch die Betroffenen, scheint nicht erwünscht und wird nicht zugelassen.

… über die Köpfe der Bürger hinweg

Allein es ist noch viel schlimmer. Denn nicht nur dass das Kasseler RP nach unserem Eindruck als verlängerter Arm der Landesregierung die vielen Einsprüche in beispielloser Arroganz vom Tisch wischt, statt in Wiesbaden für die Region einzutreten. In Kassel gibt es ja auch noch die andere spielentscheidende Behörde, den „Treuhänder“ der landeseigenen Waldflächen, die Hessenforst. Und – richtig! Sie untersteht (praktischerweise?) ebenfalls den Drahtziehern der hessischen Energiewende; Weisungsbehörde ist das Wiesbadener Umweltministerium! Und so gibt Hessenforst nun die landeseigenen Wälder für die Windkraftbebauung zum Abschuss frei, auf dass sie dem Land für sein Entgegenkommen möglichst Pachterträge in Millionenhöhe in die Kasse spülen. Und wer bezahlt dafür? Wieder richtig: wir alle hier, über unsere Stromrechnung! Absurd … man müsste lachen – wenn es nicht so zum Heulen wäre: Die Bürger unserer Region werden bei der Entscheidung außen vor gelassen, weil „deren“ Märchenwald formal in Landesbesitz steht und die hessische Regierung nach Gutsherrenart darüber zu verfügen gedenkt.

Auf der Website von Hessenforst kann man unter Leitbild Folgendes lesen: „Wir haben die Verantwortung für Schutz, naturnahe Pflege und umweltgerechte Nutzung des hessischen Waldes.“ Und weiter unten wird angemahnt, der Wald brauche eine kompetente Lobby. Mit Ausrufezeichen. Das kann man wohl sagen! Denn Hessenforst ist dafür offensichtlich nicht mehr zuständig. Wiederholt wird uns zudem angedeutet, dass den nordhessischen Förstern ein „Maulkorb verpasst“ worden sei: Sie sollten sich zu den Windradplänen nicht öffentlich äußern. Mitarbeiter, die jahrzehntelang ihren Auftrag dem Leitbild entsprechend wahrgenommen haben, nämlich den Lebensraum Wald zu schützen und für die kommenden Generationen zu bewahren, sind entsetzt und mit dem Vorgehen der Regierung nicht einverstanden. Denn ihr Berufsethos lässt sie immer noch den Unterschied zwischen Waldverantwortung und Waldvernichtung deutlich erkennen.

Früher postulierten – zu Recht! – nicht nur die Grünen: Erst stirbt der Wald, dann stirbt der Mensch. Und jetzt? Ihr hessischen Grünen, was hat der Märchenwald Euch denn getan? Er hat still dagelegen, jahrhundertelang. Er hat Generationen von Menschen und Tieren beherbergt, hat ihnen Lebensraum und Lebensgrundlage gegeben, ist schon immer ein treuer Spender  frischer Atemluft gewesen, putzt im Gegenzug locker mehr als das gesamte ausgeatmete Kohlendioxid der Kasseler Einwohnerschaft weg und kämmt aus dem Wind den Staub heraus. Und jetzt kommt Ihr mit Eurem kurzsichtigen Plan um die Ecke, der gerade mal 20 Jahre umfasst, um dieses uralte Naturwunder für immer zu schädigen, koste es was es wolle, nur weil Ihr glaubt, damit zur Energiewende einen Beitrag zu leisten. Und das in einer ausgewiesenen mitteldeutschen Schwachwindzone, mit Werten knapp oberhalb der Grenze, ab der von „Windenergie“ so gerade noch die Rede sein kann (5,75 m/s). Eure norddeutschen Parteifreunde sagen inzwischen, Repowering sei genug, keine neuen WKAs, jetzt müssten nur noch Leitungen und Speicher her. In Eurem sicher wohlmeinenden Bestreben, der Umwelt gerecht zu werden, betreibt Ihr hier vor Ort deren Zerstörung! Wacht endlich auf, lieber spät als nie, so wie Dornröschen! Sonst droht Euch zu Ende 2018 von der hessischen Nordspitze aus eine Wählerklatsche, die bis nach Wiesbaden zu hören sein wird.

Von Jan Eric Müller-Zitzke.