Tichys Einblick
Verlorene Grenzen

Wie uns die Sprache verrutscht

Wo zwei einer Meinung sind, ist einer überflüssig: Die Kritik an der „Instrumentalisierung“ von Gewalttaten ist im Kern autoritär. Und Freiburgs Polizeichef verwechselt Statistiken mit Prinzipien.

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In | stru | ment, das
Substantiv, Neutrum
Jemand, etwas als Mittel, dessen man sich (wie eines Werkzeugs)
zur Ausführung von etwas bedient

Instrumentalisieren erklärt der Duden so: „als Instrument benutzen, missbrauchen“. Linguistisch ist der Begriff also neutral: Er kann positiv (im Sinne von benutzen) oder negativ (missbrauchen) verwendet werden. Politisch ist „Instrumentalisierung“ dagegen eigentlich immer ein Angriff.

Dabei gibt es argumentativ ein ziemlich einheitliches Muster: Irgendetwas passiert. Irgendwer sagt dazu irgendetwas. Jemand Anderes kritisiert das mit dem Hinweis, das Gesagte habe mit dem ursprünglichen Ereignis nichts zu tun. Zwei – leider – prominente Beispiele aus jüngster Zeit:

„Nach dem Mord an der 14-jährigen Schülerin Susanna F. aus Mainz haben Politiker von Union und SPD vor einer politischen Instrumentalisierung des Falls gewarnt. Es dürfe kein Hass gesät werden. ‚Ich verwehre mich dagegen, wenn solche Fälle dafür genutzt werden, um Hass und Hetze zu verbreiten‘, sagte Bundesjustizministerin Katarina Barley (SPD) der Oldenburger ‚Nordwest-Zeitung‘ am Samstag. Auch die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Annette Widmann-Mauz (CDU), sagte, es dürfe nicht zugelassen werden, dass Hass gesät werde und ganze Gruppen unter einen Generalverdacht gestellt würden.“ (Domradio.de)

(Nach der Gruppenvergewaltigung in Freiburg) „So warnt der Freiburger Stadtrat Sebastian Müller von den Grünen vor einer Instrumentalisierung des Verbrechens: ‚Ich bin es leid, dass in Freiburg und anderswo immer wieder Gruppen versuchen unsere Trauer und unser Entsetzen über schreckliche Verbrechen politisch auszuschlachten‘, schreibt er auf Facebook.“ (n-tv)

Wenn man genau hinsieht, wird hier tatsächlich instrumentalisiert – und zwar gleich doppelt: Denn beide Seiten benutzen die Gewalttaten als Argumente für ihr jeweiliges politisches Anliegen.

In der Kommunikation dieser Tage geht es erkennbar weniger um Konsistenz als um Krach. Deshalb soll hier auf die zwar logisch nahe liegende, aber politisch eben doch irgendwie naive Frage verzichtet werden, wie redlich es ist, Gewalttaten dafür zu instrumentalisieren, vor ihrer Instrumentalisierung zu warnen. Honi soit qui mal y pense.

Ertragreicher ist die Frage, ob „Instrumentalisierung“ als Vorwurf überhaupt taugt.

Wo zwei einer Meinung sind, ist einer überflüssig: Die Kritik an der „Instrumentalisierung“ von Gewalttaten ist im Kern autoritär. Durch Beschränkung oder Unterdrückung der öffentlichen Debatte über bestimmte Themen kann nie das gesellschaftlich beste Ergebnis für ein Problem entwickelt werden. Das ist die gedankliche Grundlage der Demokratie.

Dass ein Problem – irgendeines – zu komplex, zu heikel oder zu sonstwas wäre, um öffentlich debattiert zu werden, ist ein arrogant anmaßender, elitär dünkelhafter und zutiefst undemokratischer Ansatz. Jedes Mal, wenn ein Politiker zum Beispiel fordert, ein Thema „aus dem Wahlkampf herauszuhalten“, sollte man diesen Politiker alleine schon wegen dieser Aussage abwählen. Der Wahlkampf ist der Ort, an dem unterschiedliche Auffassungen über jedes (!) Thema der Gesellschaft präsentiert werden. Ja: zugespitzt. Ja: vielleicht auch polemisch. Na und? Wer ein Thema für „zu wichtig für den Wahlkampf“ hält, hat entweder Angst vor Zuspitzung und Polemik – oder er will das Thema lieber nicht mit diesem lästigen Volk diskutieren. Oder beides.

In der Demokratie kann jedes Thema Gegenstand einer öffentlichen Debatte sein.

„Ich verwehre mich dagegen, wenn solche Fälle dafür genutzt werden, um…“ Das ist ein geradezu klassisches Argumentationsmuster zur Delegitimierung einer solchen öffentlichen Debatte. Dabei ist der Vorwurf „Verallgemeinerung“ sozusagen der siamesische Zwilling des Vorwurfs „Instrumentalisierung“. Aber Einzelfälle zum Anlass zu nehmen, um übergeordnete gesellschaftliche Meinungsverschiedenheiten auszutragen, ist nicht nur legitim, sondern sogar nötig. Größere Probleme haben Konsequenzen, die sich in Einzelfällen niederschlagen. Einzelfälle weisen durchaus oft auf größere Probleme hin. Den Zusammenhang zu leugnen, ist nachgerade albern.

Linguistisch ist „instrumentalisieren“ übrigens ein schwaches Verb. Man könnte geneigt sein zu sagen: Auch politisch ist der Vorwurf ein Zeichen von argumentativer Schwäche.

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Prin | zip, das
Substantiv, Neutrum
1. Grundsatz, den jemand seinem Handeln und Verhalten zugrunde legt
2. allgemeingültige Regel, auf der etwas aufgebaut ist

Das ist das Stichwort für Bernhard Rotzinger. Der 62-Jährige ist Polizeipräsident von Freiburg im Breisgau. Dort wurde nach derzeitigem Ermittlungsstand Anfang November eine junge Frau Opfer einer Gruppenvergewaltigung durch mindestens sieben syrische Flüchtlinge und einen Deutschen. (Das ist die Tat, vor deren „Instrumentalisierung“ – siehe oben – der Grüne Stadtrat Müller warnte.)

Schon die bisher bekannten Umstände des Verbrechens sind einigermaßen verstörend: Der 22-jährige Hauptverdächtige soll laut Staatsanwaltschaft zusammen mit dem Opfer einen Club verlassen und die Frau dann in einem Waldstück in der Nähe vergewaltigt haben. Danach soll er zurück in den Club gegangen sein und die anderen Verdächtigten darüber informiert haben, dass die Frau (die möglicherweise durch ihr in einem offenen Getränk heimlich verabreichte Drogen wehrlos war) noch „zwischen den Bäumen“ liege. Die Männer sollen dann nacheinander aus dem Club gekommen sein und sich ebenfalls an der 18-Jährigen vergangen haben.

Vielleicht noch verstörender sind die Angaben zu den mutmaßlichen Vergewaltigern: Der 22-jährige Hauptverdächtige ist laut Polizei ein Intensivtäter. Allein seit Sommer 2018 werden ihm drei Körperverletzungen, zwei „Taten mit Sexualbezug“ und der Handel mit Marihuana vorgeworfen. Im Zusammenhang mit dem Mann steht laut Ermittlern auch der Verdacht einer weiteren Sexualstraftat aus dem Jahr 2017: In der Wohnung des Syrers soll es noch eine andere Gruppenvergewaltigung an einer damals 20-Jährigen gegeben haben. Von den anderen sieben Verdächtigen sind nur zwei bislang strafrechtlich nicht in Erscheinung getreten, fünf sind wegen Delikten wie Leistungserschleichung oder Körperverletzung polizeibekannt. Drei von ihnen hatten außerdem im Internet Fotos von sich veröffentlicht, auf denen sie mit Waffen posieren. Die Polizei vermutet deshalb eine Nähe zur syrischen Kurden-Miliz YPG bzw. zur verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK.

Möglicherweise am verstörendsten ist ein Interview, das Polizeipräsident Rotzinger dem „Spiegel“ gegeben hat. Dort sagt er:

„Der Anteil nichtdeutscher Tatverdächtiger an diesen Delikten (Sexualdelikte, Red.) ist höher als ihr Anteil an der deutschen Bevölkerung, ähnlich wie auch bei Gewalttaten.“

Rotzinger mag das für eine hilfreiche Geste an diejenigen halten, die ihn demnächst wählen sollen: 2019 gibt er sein Amt als Polizeipräsident vorzeitig auf und wird CDU-Kandidat für den Gemeinderat. Und manch einer mag das für ein hilfreiches Argument gegen den weiteren Zuzug von Ausländern nach Deutschland halten.

Beides ist falsch.

Ja, der Anteil von „nichtdeutschen Tatverdächtigen“ in der Kriminalstatistik ist einerseits höher als der von Deutschen. Und ja, andererseits werden in Deutschland, absolut gesehen, natürlich die meisten Straftaten von Deutschen begangen. Das ist quasi unausweichlich.

Aber das ist Statistik. Tatsächlich geht es um Prinzipien.

Der deutsche Staat hat die Aufgabe, seine Bürger im Rahmen seiner gesetzlichen Möglichkeiten vor Straftätern zu schützen. Das ist ein Prinzip. Dabei spielt es zunächst einmal keine Rolle, welche Nationalität der Straftäter hat und wo er herkommt. Wahr ist auch, dass jedweder Zuzug in einer zahlenmäßig relevanten Größenordnung die Kriminalität erhöht. Wo Menschen sind, ist Kriminalität – wo mehr Menschen sind, ist mehr Kriminalität. Das ist kein Werturteil über Menschen, sondern wiederum Statistik.

Als Gast hat man sich anders zu benehmen denn als Gastgeber. Auch das ist ein Prinzip. Erstaunlicherweise wird das oft wenig respektvolle Verhalten deutscher Touristen im Ausland gerade von denen gerne angeprangert, die hier in Deutschland Nachsicht mit Ausländern einfordern. Dass auch Deutsche gegen Gesetze verstoßen, ist natürlich wahr – aber dass (und in welchem Ausmaß) sie das tun, spielt keine Rolle: Man kann Verfehlungen von Gästen nicht damit rechtfertigen, dass auch die Gastgeber nicht alles richtig machen.

Genau deshalb ist es in der Debatte um die deutsche Ausländerpolitik irrelevant, ob anteilmäßig mehr Ausländer straffällig werden als Deutsche – oder weniger oder genauso viele. Das ist ein statistisches Scheinargument.

Die prinzipielle Frage lautet: Wie gehen wir mit den Verfehlungen unserer Gäste um?

Seit dem 10. Oktober, also mehr als drei Wochen (!) vor der Gruppenvergewaltigung von Freiburg, gab es wegen anderer Ermittlungen zu schweren Straftaten einen Haftbefehl gegen den Hauptverdächtigen. (Die Polizei hatte diesen Haftbefehl fünf Tage vorher beantragt; dass es fast eine Woche dauerte, bis er ausgestellt wurde, sagt auch etwas über den Zustand unserer Justiz aus.) Den Haftbefehl wollte die Polizei aber erst am 23. Oktober vollstrecken. Man habe „nicht das Personal, um sofort losreisen zu können,“ erklärt der zuständige Freiburger Ermittlungsleiter.

Das wirft eine weitere prinzipielle Frage auf: Was sind unsere Prioritäten (in diesem Fall: die der Freiburger Polizei unter ihrem Präsidenten Rotzinger)?

Jeder, der in Deutschland falsch parkt oder zu schnell fährt und dabei erwischt wird, kann sich zu einhundert Prozent darauf verlassen, zügig und unnachsichtig von Polizei und Justiz zur Rechenschaft gezogen zu werden. Aber ein polizeibekannter Intensivtäter und mutmaßlicher Vergewaltiger bleibt trotz Haftbefehl unbehelligt – so lange, bis er (vermutlich) eine weitere junge Frau vergewaltigen kann.

Es ist eine Prinzipienfrage: Welche Straftaten werden vorrangig verfolgt? Es sollten die schwersten sein – und nicht die am leichtesten aufzuklärenden.

Der Bürger, Steuerzahler und Souverän kann außerdem erwarten, dass seine Regierung ihn davor bewahrt, mit zugereisten Straftätern zusammenleben zu müssen. Aber diese Regierung höhlt den Rechtsstaat aus, indem sie den offenbar heiligen Schutz des Asylparagrafen auch auf Straftäter ausweitet – sowie auf solche, die es nach den Erkenntnissen der Geheimdienste erst noch werden wollen und die verharmlosend „Gefährder“ genannt werden. Etwa 250.000 – eine Viertelmillion (!) – Migranten leben in Deutschland, obwohl sie nach Recht und Gesetz das Land verlassen müssten.

Wenn die Ressourcen für einen umfassenden gleichzeitigen Schutz aller Rechte nicht reichen, müssen zwangsläufig auch im Rechtsstaat Prioritäten gesetzt werden. Auch das ist eine Prinzipienfrage: Wessen Rechte werden vorrangig geschützt? Es sollten zunächst die der Gastgeber sein – und dann die der Gäste.

Freiheit ist in Deutschland völlig zurecht und glücklicherweise ein hohes Gut. Aber sie hat Grenzen: Die Freiheit des Einzelnen endet in der Regel dort, wo die Freiheit des Anderen beginnt. Die Schnittstellen regeln die Gesetze. Das sind sozusagen die inneren Grenzen, die wir uns selbst setzen.

Deutschland hat darauf verzichtet, seine äußeren Grenzen zu schützen. Jetzt verzichtet es darauf, seine inneren Grenzen zu schützen.