Tichys Einblick
Bericht des Verfassungsschutzes

Wie rechtsextrem ist Deutschland?

Der neue Bericht des Verfassungsschutzes ist raus. Geht es nach Aussagen von Ministerin Faeser und Behördenchef Haldenwang, dann ist Rechtsextremismus unser gravierendstes Problem. Doch der Bericht konterkariert das Narrativ.

IMAGO / Future Image

Deutschland hat ein Traumpaar für innere Sicherheit. Es heißt Thomas Haldenwang und Nancy Faeser. „Das BfV war in seiner Geschichte selten in einer solchen umfassenden Intensität gefordert wie gegenwärtig“, sagte der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV). Und die Bundesinnenministerin erklärte: „Wir müssen gerade jetzt angesichts der Bedrohung des Friedens in Europa durch Putins furchtbaren Angriffskrieg gegen die Ukraine den Frieden in unserem Land stärken.“ Denn: Die Corona-Leugner von gestern sind die Pro-Russen von heute. Klingt merkwürdig? Haldenwang sagt es tatsächlich: „Corona-Leugner sind nun häufig prorussisch.“

Die drei Zitate spiegeln den Ton der Pressekonferenz wider: Der Verfassungsschutz arbeitet am Limit, weil Deutschland der rechtsextreme Umsturz bevorsteht, aus den umstürzlerischen Corona-Leugnern formt Putin nun seine Kolonne, um Unruhe in Deutschland zu schüren. Überraschend ist, wie viel von diesen Hiobsbotschaften übrigbleibt, wenn man sich den tatsächlichen Verfassungsschutzbericht für das vergangene Jahr anschaut. Rund 50 des 368 Seiten starken Papiers widmen sich dem Rechtsextremismus und Rechtsterrorismus in Deutschland.

Verfassungsschutzbericht: Rechtsextreme scheiterten bei der Unterwanderung der Corona-Demos

Doch wer nun endlich auf eine Bestätigung des angekündigten Horrorszenarios hoffte, sieht sich enttäuscht. Nichts anderes war im zweiten Corona-Jahr zu erwarten gewesen. Rechtsextreme Musikveranstaltungen? Deutlich niedrigeres Niveau als vor der Pandemie. Gesamtzahl von rechtsextremen Straf- und Gewalttaten? Sank um 9,6 Prozent – der Hauptanteil (58,7 Prozent) entfällt auf Propagandadelikte. Rechtsextreme Brandstiftungen? Deutlicher Rückgang.

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Dann gibt es die zweite Art der Gefahrenbeschwörung. Der Bericht beschreibt Unterminierungsversuche der Gesellschaft in Krisenzeiten, etwa bei den Corona-Demonstrationen oder der Flutkatastrophe. Es folgt jedoch immer eine Enttäuschung der aufgebauten Spannung. Beispiel Corona-Demos: Die Beteiligung von Rechtsextremen am Protestgeschehen war „rückläufig“. Und: „Der Schulterschluss mit bürgerlich-demokratischen Protestierenden misslang.“ Ähnlich bei der Flutkatastrophe. Dort versuchten rechtsextreme Helfer gemäß Verfassungsschutz, Sympathien und Unterstützung zu erreichen. Aber: „Einzelne Hilfsaktionen wurden medial breit gestreut, fanden aber nur geringe Resonanz in der Bevölkerung.“
Der Verfassungsschutz sieht sinkende Zahlen bei Parteimitgliedern und Strafdelikten

Das Einzige, was aus diesen Abhandlungen deutlich wird: Der klassische Nationalsozialismus findet bei den Deutschen selbst in Krisenszenarien keine Anhänger. Das bürgerliche Immunsystem ist offenbar besser ausgebildet, als der Verfassungsschutz es wahrhaben will. Denn Rechtsextremismus ist auch laut offizieller Definition des Verfassungsschutzberichts vor allem das, was die meisten Menschen in Deutschland darunter verstehen: „Im Rechtsextremismus entscheidet die Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Nation oder Rasse über den Wert eines Menschen. In einer solchen ethnisch-rassistisch definierten ‚Volksgemeinschaft‘ werden die zentralen Werte der freiheitlichen demokratischen Grundordnung missachtet.“

Die Mitgliedschaften in den rechtsextremen Parteien – NPD, Die Rechte, Der III. Weg – sind allesamt gefallen. Keine einzige davon ist eine relevante Größe. Zusammen haben sie heute noch 4.300 Mitglieder. Dass der Verfassungsschutz dennoch von 11.800 rechtsextremen Parteimitgliedern und damit fast dreimal so viel warnen kann, liegt allein an einer Sache: der Einstufung der Jugendorganisation „Junge Alternative“ (JA) als Verdachtsfall sowie die Hinzuzählung des AfD-Flügels. Indem es alle Jungen Alternativler als Rechtsextremisten zählt, kann das BfV eine stattliche Bedrohung insinuieren.

Aus: Verfassungsschutzbericht 2021, Seite 52

Der erweiterte Suizid in Königs Wusterhausen: ein „rechtsextremes Tötungsdelikt“

Zuletzt kommt das BfV auf eine Gesamtzahl von 33.900 Rechtsextremisten (nach Abzug von Mehrfachmitgliedschaften). Mehr als ein Drittel davon – 13.500 – sei gewaltorientiert. Nach dieser Rechnung läge die Gefahr also tatsächlich nicht bei den klassischen Glatzen, sondern vor allem bei der Jungen Alternative; doch es gibt noch eine Zahl, die diese Statistik massiv beeinflusst. Das BfV zählt die „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ hinzu, die ansonsten im Bericht eine eigene Stellung einnehmen – und auch gemäß der vom Verfassungsschutz vorangestellten Definition keine Rechtsextremisten sind.

Der Gipfel der Verzerrungen stellt jedoch der Umgang mit einem „vollendeten Tötungsdelikt“ mit vier Todesopfern dar. Ohne Kontext könnte man von einem rechtsextremen Mord ausgehen. Zitat Verfassungsschutzbericht:

„Bei dem vollendeten Tötungsdelikt handelt es sich um einen Fall, bei dem der Täter mit einer illegal erlangten Schusswaffe im eigenen Wohnhaus seine Ehefrau, ihre drei Kinder und sich selbst erschoss. In einem Abschiedsbrief hatte der Mann antisemitische Verschwörungsideologien im Kontext der Coronamaßnahmen geäußert.“

Mit Zahlentricks macht das Bundesamt das rechtsextreme Bedrohungspotenzial größer als das linksextreme

Volksbegriff und Menschenwürde
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Diese abenteuerliche Argumentation steht tatsächlich so auf Seite 53 des Berichts. Weil der Mann sich im Abschiedsbrief antisemitisch äußert, sind Frau und Kinder aus antisemitischen, und daher rechtsextremistischen Gründen getötet worden. Würde das BfV wirklich der Argumentation Glauben schenken, dass es sich um eine von den Corona-Maßnahmen beeinflusste Tat handelte, dann hätte der neu eingeführte Phänomenbereich „Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ (dazu ein andermal mehr) zumindest ansatzweise die richtige Kategorie darstellen können.

So zeigt sich die Kategorisierung als bloßer Versuch, den Rechtsextremismus als größeres Übel neben dem Linksextremismus zu positionieren. Das Linksextremismus-Potenzial liegt nämlich derzeit bei 34.700 Personen in Deutschland (nach Abzug von Mehrfachmitgliedschaften), davon 10.300 gewaltorientiert. 34.700 Linksextremisten gegen 33.900 Rechtsextremisten in Deutschland – aber wie sähe diese Statistik aus, zöge man die „neu gewonnenen“ Verbände wie die JA oder auch die ideologisch nicht deckungsgleichen Reichsbürger davon ab? Das Verhältnis wäre nicht mehr 3:3, sondern nur noch 3:2. Aber trickreiche Rechnereien sind in Beamtenstuben wohl gewollt, wenn das Ergebnis stimmen muss.

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