Tichys Einblick
Hinter den Kulissen

Wie die UN-Mitgliedstaaten den globalen Migrationspakt verhandelt haben (Teil 1)

Wen interessiert, wie der UN-Migrationspakt und der UN-Flüchtlingspakt zustande kamen, wird auf der Website des International Institute for Sustainable Development (IISD) fündig. Konferenzberichte und weiterführende Informationen geben Einblicke, wie um die umstrittenen Kompromiss-Papiere gerungen wurde.

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Strittig war, ob der Pakt die nationale Souveränität antastet. Australien, Ungarn, China, Russland u.a. betonten den juristisch nicht bindenden Charakter des Textes. Österreich, für eine Gruppe von 27 europäischen Staaten, sowie Australien schlugen vor, „should“ oder „could“ anstelle von „must“ oder „commit“ zu schreiben. Uganda, Bangladesch, Chile, Mexiko, der Vatikan u.a. warnten hingegen, den Text nicht zu „schwächen“. Der Vatikan regte entsprechend an, zumindest von „politisch bindend“ statt „nicht juristisch bindend“ zu sprechen. Unklar blieb auch, als wie freiwillig finanzielle und sonstige Beiträge zum geplanten „Kapazitätsaufbaumechanismus“ angedacht sind. / Der Pakt enthält jetzt zahlreiche „wir verpflichten uns“-Passagen.

Österreich warnte, stellvertretend für die Europäer, vor einem Text, der die Presse-/Medienfreiheit verletzt. / Die endgültige Vereinbarung betont zum Beispiel unter Ziel 17 „das Recht der freien Meinungsäußerung“, nennt aber zugleich eine „konstruktivere Wahrnehmung von Migration“ als Ziel des Diskurses.

Ungarn kritisierte im Kontext der allgemeinen Würdigung von Menschenrechten, Migration werde fälschlich als grundlegendes Menschenrecht dargestellt, und forderte gleichzeitig, deren eigentliche Ursachen stärker in Angriff zu nehmen. Demgegenüber postulierten El Salvador, als Vertreter mehrerer lateinamerikanischer Länder, und Burkina Faso, menschliche Mobilität sei sehr wohl ein Menschenrecht. / Im Pakt werden diverse Aspekte der Migration, aber nicht Migration per se unter Menschenrechten subsumiert.

Die Gruppe afrikanischer Staaten sowie eine Fraktion lateinamerikanischer Länder forderte erweiterte Wege für reguläre Migration, auch für irreguläre Migranten. Die afrikanische Staatengruppe sowie Länder aus dem südamerikanischen und asiatischen Raum meinten zugleich, dass alle Migranten ausnahmslos einen Anspruch auf die Gewährung von Menschenrechten und internationale Unterstützung hätten. Andere Ländergruppen, darunter die europäische, plädierten für eine klare Unterscheidung zwischen (akzeptierter) regulärer und (unerwünschter) irregulärer Migration und legten Wert auf die Feststellung, dass Menschenrechte und Grundleistungen allen Migranten zu gewähren seien, die Teilnahme am Wirtschaftsleben zum Beispiel jedoch nur regulären Zuwanderern zustehe. / In der Endfassung des Paktes werden allen Migranten unabhängig von ihrem Status Grundleistungen zugesagt. Andererseits ist viel von Rechten der „Arbeitsmigranten“ die Rede, womit wohl implizit reguläre Migranten gemeint sein dürften.

Für Ungarn ist der Vertrag ein „Pro-Migrations-Dokument“. Migration lege den Staaten ein großes Risiko auf, Multikulturalismus sei kein Wert an sich. / Der Pakt selbst verfolgt als Ziel Nr. 16 klar das Leitbild einer multikulturellen, vielfältigen Aufnahme-Gesellschaft.

Eine Reihe von Delegationen betonte die Notwendigkeit, genauer zwischen Migranten und Flüchtlingen zu unterscheiden. Ein heißes Eisen war, inwieweit der Pakt auf Klima-Migranten eingehen sollte, ihnen ggf. legale Zuwanderung erlauben sollte, wie der Inselstaat Tuvalu anregte. / In der Endfassung des Migrationspaktes wird zugesagt, „kohärente Ansätze zur Bewältigung der Herausforderungen von Migrationsbewegungen im Kontext plötzlicher und schleichender Naturkatastrophen (zu) entwickeln“.

Strittig war, ob der Grundsatz der Nichtzurückweisung auf Migranten oder nur auf Flüchtlinge anzuwenden ist. / Der völkerrechtliche Ansatz der Nichtzurückweisung ist jetzt in der Endfassung des Migrationspaktes in Ziel 21 sinngemäß wiederzufinden.

Ein weiteres Anliegen einzelner Staaten war die „Nicht-Kriminalisierung“ von Migranten, etwa bei illegalem Grenzübertritt. Beim Thema Kinder-Migranten standen vor allem die Abschaffung des Arrests/der Internierung von minderjährigen Zuwanderern („child migrant detention“) und der Schutz der Einheit der Familie als Grundprinzip auf der Tagesordnung. / Der Pakt hält in der Endfassung jetzt fest, man werde „mittels bestehender relevanter Menschenrechtsmechanismen die unabhängige Überwachung der Freiheitsentziehung bei Migranten verbessern und dabei gewährleisten, dass sie nur als letztes Mittel eingesetzt wird, … und dass Staaten Alternativen zur Freiheitsentziehung fördern, umsetzen und ausbauen, vorzugsweise nicht freiheitsentziehende Maßnahmen und Regelungen für die Betreuung in der Gemeinschaft, insbesondere im Falle von Familien und Kindern“.


Derzeit ist in Presse und Öffentlichkeit viel über den UN-Migrationspakt „Global Compact for Safe, Orderly and Regular Migration“, neuerdings auch den Flüchtlingspakt, zu hören und lesen. Zu spät eigentlich, denn das Vertragswerk, in Vorbereitung seit April 2017, liegt bereits seit Mitte des Jahres in der Endfassung vor und soll bekanntlich auf einer Konferenz am 10./11. Dezember in Marrakesch in Marokko angenommen werden. Dies im Rahmen einer „Migrations-Woche“ mit zahlreichen Veranstaltungen, darunter eine Tagung des Global Forum on Migration and Development (GFMD).

Eine Reihe europäischer und außereuropäischer Staaten hat inzwischen signalisiert, sie wollte das völkerrechtlich nicht bindende „soft law“ in der vorliegenden Form nicht mit tragen. Befürworter und Kritiker stehen sich nicht nur in Deutschland unversöhnlich gegenüber, der Bundestag stimmte am 29. November darüber ab. Und so mancher Leser des Vertragstextes fragt sich, von wem genau wohl die ein oder andere Regelung inspiriert wurde. So fiel dem Berliner „Tagesspiegel“ auf, dass im finalen Entwurf des Abkommens „Migration war schon immer Teil der Menschheitsgeschichte, und wir erkennen an, dass sie in unserer globalisierten Welt eine Quelle des Wohlstands, der Innovation und der nachhaltigen Entwicklung darstellt“ steht, während in der Ursprungsfassung („zero draft“) diese Aussage in abgeschwächter Form lediglich als eine Möglichkeit wiedergegeben worden sei („darstellen kann“). Das Auswärtige Amt zeigte sich allerdings angesichts der „Tagesspiegel“-Anfrage wenig auskunftsfreudig. „Zahlreiche Elemente, die im deutschen Interesse sind, konnten dabei umgesetzt werden, dafür gab es an anderer Stelle Zugeständnisse.“

Nun ist das World Wide Web aber ergiebig, und wer suchet, der findet. In diesem Fall: Informationen über die Verhandlungsrunden zum Migrationspakt zwischen Februar und Juli 2018 einschließlich der diversen Konferenzen, die sich um diese rankten. Die Berichterstattung über die Konferenzen der UN-Mitgliedstaaten stammt vom International Institute for Sustainable Development(IISD)/Internationalen Institut für Nachhaltige Entwicklung. Das 1990 gegründete IISD ist ein großer unabhängiger Think Tank mit Büros in Kanada, den USA und der Schweiz, der sich das Bemühen um nachhaltige Lösungen der Probleme des 21. Jahrhunderts auf die Fahnen geschrieben hat. Es finanziert sich durch Gelder zahlreicher Regierungen, Organisationen der Vereinten Nationen, Stiftungen und des privaten Sektors. Zum Tätigkeitsfeld des Instituts gehört die aktuelle Berichterstattung über viele größere internationale Umwelt- und Entwicklungskonferenzen unter dem Dach des IISD-Projekts SDG Knowlegde Hub/SDG Wissen(szentrum). Es bietet regelmäßig Informationen und Analysen, die die 2030 Agenda for Sustainable Development/Agenda 2030 für Nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen unterstützen. Unter dem Stichwort „migration compact“ zeichnet das IIDS das Zustandekommen des Paktes nach.

Die hier von IISD-Vertreter/innen referierten Verläufe der Sitzungen – die Haupt-Runden wurden moderiert von der Schweiz (UN-Botschafter Jürg Lauber) und Mexiko (Diplomat Juan José Gómez Camacho) – bieten keinen Stoff für sensationelle Enthüllungen. Sie belegen nur, was man ohnehin ahnt: Es gab zu einzelnen Formulierungen und einzelnen inhaltlichen Punkten unterschiedliche Vorstellungen zwischen Ländern und Länderverbünden, so zur Frage, wie viel Druck auf die UN-Mitgliedstaaten ausgeübt oder inwiefern mehr legale Migration ermöglicht werden soll. Unbehagen am Pakt, wie ihn in Deutschland zahlreiche Beobachter artikulieren, lag also auch bei den UN-Verhandlungsrunden schon in der Luft, wobei bemerkenswerter Weise ja bis zum Sommer dieses Jahres ein halbwegs konsensfähiger Text geboren wurde. Hier spiegelte sich – selbst wenn das ganz spezifische „deutsche Interesse“ nicht konkret zu identifizieren ist – klar die Interessenlage der Staaten, teilweise abhängig von deren geografischer Lage, politischer und wirtschaftlicher Verfasstheit und hauptsächlicher Rolle im Migrationsprozess als Herkunfts-, Transit- oder Aufnahmeländer.

Nicht bindend – bindend?

Die zentrale Frage, wie bindend der formal völkerrechtlich nicht bindende UN-Migrationspakt ist und ob er die nationale Souveränität antastet, hat auch auf verschiedenen UN-Konferenzen bereits für Irritation gesorgt. So äußerte Australien die Befürchtung, der Pakt könne ein Risiko für die Souveränität der Staaten bedeuten, Migration zu managen. Brasilien und andere Länder hielten dem entgegen, sich auf den juristisch nicht bindenden Charakter des Textes zu beziehen und gleichzeitig auf die Souveränität der Staaten, könne die Botschaft senden, dass die UN-Staaten ihn nicht umsetzen möchten. Der Vatikan schlug vor, statt „nicht juristisch bindend“, ins Positive gewendet, „politisch bindend“ zu sagen. [5. Juni]

Nepal begrüßte den Pakt wie zum Beispiel auch Argentinien, Bolivien, Kanada, Ecuador, Liechtenstein, Mexiko und Uruguay, mahnte dabei gleichzeitig an, man dürfe nicht hinter die Verpflichtungen der 2030 Agenda for Sustainable Development sowie die New York Declaration for Refugees and Migrants/New Yorker Erklärung für Flüchtlinge und Migranten vom September 2016 zurückfallen. [15. Mai]

Ungarn stellte kritisch fest, dass sein Ansatz von Migration nicht mit dem des Paktes übereinstimme. Migration dürfe nicht als grundlegendes Menschenrecht betrachtet werden. Der Schutz der Grenzen sei für jeden Staat eine Verpflichtung, und eine Grenze zu verletzen, sei vor allem zwischen zwei friedvollen Staaten ein Verbrechen (Berichtstext: „a crime“). Überhaupt sei Migration nicht die beste Antwort auf demografische und ökonomische Probleme. [5. Juni]

Eine Reihe weiterer Staaten, darunter Singapur [5. Juni], China und Russland [12. April], ebenso Indien [1. März], betonten den juristisch nicht bindenden Charakter des Vertragstextes. Im Gegensatz dazu waren Uganda, Bangladesch und der Vatikan der Ansicht, dies würde den Text schwächen (Formulierung im Bericht: „this would weaken the text“). Auch Chile, Mexiko, Nepal, die Philippinen, Uruguay und Brasilien hielten es für eher kritisch, es ins Ermessen der UN-Mitgliedstaaten zu stellen, ob sie die „Verpflichtungen“ (Berichtstext: „actionable commitments“) umsetzen wollten.

Brasilien wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die einzelstaatliche Souveränität ohnehin von internationalem Recht eingeschränkt und nicht absolut sei. Österreich, für eine Gruppe von 27 europäischen (EU-Mitglied-)Staaten, und dies ist interessant, sowie Australien warnten laut IISD andererseits ausdrücklich davor, eine Sprache mit Vorschriftcharakter („prescriptive language“) im Text zu verwenden, und schlugen vor, „should“ oder „could“ anstelle von „must“ oder „commit“ zu schreiben. [12. April]

Sie konnten sich damit aber nicht durchsetzen, wobei ja gerade das häufige „we commit to“/„wir verpflichten uns“ in der UN-Vereinbarung für Kritiker ein rotes Tuch ist. So oder so bewegt sich der Text semantisch im Spannungsfeld zwischen Freiwilligkeit und Vorgaben, die man schon einhalten sollte: Punkt 7 der Präambel schwankt zwischen nicht bindend und verpflichtend: „Dieser Globale Pakt stellt einen rechtlich nicht bindenden Kooperationsrahmen dar, der auf den Verpflichtungen aufbaut, auf die sich die Mitgliedstaaten in der New Yorker Erklärung für Flüchtlinge und Migranten geeinigt haben.“ Passage 15.c „bekräftigt das souveräne Recht der Staaten, ihre nationale Migrationspolitik selbst zu bestimmen, sowie ihr Vorrecht, die Migration innerhalb ihres Hoheitsbereichs in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht selbst zu regeln.“ Ein Vorrecht, das man nach Lage der Dinge nicht in Anspruch nehmen muss: So erläuterte Bundeskanzlerin Angela Merkel am 21. November bei einer Veranstaltung der Konrad-Adenauer-Stiftung zum Thema „Parlamentarismus zwischen Globalisierung und nationaler Souveränität“: „Nationalstaaten müssen heute – sollten heute, sage ich – bereit sein, Souveränität abzugeben …“ (Quelle: Die Welt online, 22.11.2018)

„Konstruktivere Wahrnehmung von Migranten“

Die Gefahr, dass die Vereinbarung vermitteln könnte, eine positive Wahrnehmung von Migration und Migranten als unumstößliche Realität durchsetzen zu wollen – für Kritiker ein weiterer Stein des Anstoßes –, scheint in den Verhandlungsrunden weniger Besorgnis ausgelöst zu haben. Immerhin warnte Österreich, stellvertretend für die Europäer – anknüpfend an Ziel 17 des UN-Migrationspakts – vor einem Text, der die Presse-/Medienfreiheit verletzt. (Berichtstext: „Austria on behalf of a group of 27 EU States cautioned against text that would infringe on the freedom of the press.“) [15. Mai] Punkt 33 in der Endfassung des Paktes versucht hier ein bisschen die Quadratur des Kreises: „Wir verpflichten uns ferner, in Partnerschaft mit allen Teilen der Gesellschaft einen offenen und auf nachweisbaren Fakten beruhenden öffentlichen Diskurs zu fördern, der zu einer realistischeren, humaneren und konstruktiveren Wahrnehmung von Migration und Migranten führt. Wir verpflichten uns außerdem, im Einklang mit dem Völkerrecht das Recht der freien Meinungsäußerung zu schützen, …“. (Hervorhebung durch Verfasserin)
Die Gruppe afrikanischer Staaten sowie Brasilien gehörten zu den UN-Mitgliedern, denen es wichtig war, dass die Endfassung des Paktes sich klar gegen Rassismus und alle Formen von Diskriminierung von Migranten stellt. [15. Mai/16. Juli] Diesem Anliegen ist im Migrationspakt an diversen Stellen Rechnung getragen, so in Punkt 15.f „Wir bekräftigen außerdem die Verpflichtung, alle Formen der Diskriminierung, einschließlich Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Intoleranz, gegenüber Migranten und ihren Familien zu beseitigen.“

In Teil 2: Fokus auf Menschenrechten – Gehört Migration dazu?

Elke Halefeldt


Mehr zum Thema:
Roland Tichy (Herausgeber), Der UN-Migrationspakt und seine Auswirkungen. Tichys Einblick, 112 Seiten, 12,00 €.
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