Tichys Einblick
TICHYS WAHLBAROMETER

Wenn aus einer großen eine kleine Koalition wird …

Eine schwarz-grüne Koalition, die angeblich die Mehrheit will, bekommt sie nicht. Das geben die Zahlen zur Zeit genau so wenig her wie eine schwarz-gelbe Koalition.

„Prognosen sind schwierig, vor allem wenn es um die Zukunft geht“. Über diesen Witz haben schon viele Statistiker gelacht. Will man in dem Wust an Umfragen, die sich jede Woche neu „erfinden“, nicht den Durchblick verlieren, muss man sie zusammenfassen und in unterschiedliche Klassen einteilen, um dann den Verlauf zu beobachten. Diese Methode führt zu dem nachfolgenden Bild:

Quelle: www.Wahlrecht.de und eigene Berechnungen. In Prozent aus den Zweitstimmen. Alle Umfragen der sieben führenden Wahlforschungsinstitute: Allensbach, Emnid, Forsa, Forschungsgruppe Wahlen, GMS, Infratest dimap, INSA; veröffentlicht in der Zeit zwischen 6. und 9. September 2017.

Alle an der Sperrklausel gescheiterte Splitterparteien, deren Stimmen „unter den Tisch fallen“, während die entsprechenden Mandate anteilig auf die Parlamentsparteien umverteilt werden. (Sperrklausel-Zugewinn)

Statistische Bewertung

Bekanntlich wählen die Deutschen nicht mit einer Stimme, sondern mit zwei: der Erst- und der Zweitstimme. Keines der sieben führenden Wahlforschungsinstitute nimmt darauf Rücksicht. Sie alle schenken der Erststimme nur wenig oder gar keine Beachtung. Niemand weiß daher, wie groß das Stimmensplitting sein wird. Danach wird überhaupt nicht gefragt. Niemand kann deshalb sagen, wie viele Überhänge entstehen: bei welcher Partei, in welchem Land. Und weil sie das nicht „auf dem Schirm“ haben, gibt es keine Aussagen zu den Ausgleichsmandaten. Doch der schwedische Nationalökonom Gustav Cassel hat den treffenden Satz geprägt: „Schlechte Zahlen sind besser als gar keine“.

WAHLPROGNOSEN
Wahlrecht: Fornoff und Schönenborn zucken mit den Achseln
Nimmt man die methodische Schwäche der gängigen Wahlprognosen hin, kann man die folgenden Tendenzen als wahrscheinlich bezeichnen: Beide Großparteien, CDU/CSU und SPD, haben bei der Zweitstimmen-Prognose einen oder sogar zwei Prozentpunkte verloren. Sie befinden sich im Sinkflug. Das ergibt sich aus dem Vergleich mit der erstmaligen Veröffentlichung von Tichys Wahlbarometer für die Zeit v. 19. bis 24. August 2017 in dem Beitrag: „Fornoff und Schönenborn zucken mit den Achseln“. Die Grünen stagnieren bei 8 Prozent der Zweitstimmen, Linke, FDP bei 9 Prozent. Die AfD legt zu. Bei der AfD muss man berücksichtigen: Eine unbekannte Menge an Wählern, vor allem der „Schmuddelparteien“, sagt bei Umfragen nicht die Wahrheit. Dieser Effekt kann dazu führen, dass die AfD unterschätzt wird. (Vgl. dazu in Tichys Einblick: „Die Treffsicherheit von Wahlprognosen“)
Koalitionspolitische Bewertung

Ein lauer Wahlkampf deutet darauf hin, dass es eine laue Wahlbeteiligung geben wird. Franz Müntefering hat zu seiner Partei gesagt: „Opposition ist Mist“ und ihr damit die „GroKo“ schmackhaft gemacht. Wie zweischneidig eine große Koalition ist, das zeigt sich im Wahlkampf zum 19. Deutschen Bundestag. Die SPD kann sich als Koalitionspartner einer „Groko“ als Alternative zur Regierung profilieren. Das ist das Schicksal von Martin Schulz. Ein wenig hier, ein wenig da kann er anderer Meinung sein. Als glaubwürdige Alternative wird er von den Wählern nicht wahrgenommen und kann er auch nicht wahrgenommen werden.

„Der Mensch denkt, Gott lacht“
Zur Treffsicherheit von Wahlprognosen
Die Einwanderungsfrage ist allerdings das Thema, das der Bevölkerung unter den Nägeln brennt. Auch hier hat die SPD immer „mitgemacht“. Und „mitgefangen, mitgehangen“. Und dieses Thema wird von der CSU, vor allem aber von der AfD besetzt. Beiden Parteien ist es gelungen, den Einwanderungs-skeptischen Wählern klarzumachen, dass es sich lohnt, für sie Partei zu ergreifen. Der parteipolitische Konkurrenzkampf zwischen AfD und CSU ist daher eine besonders spannende Frage. Qui vivra verra – wer leben wird, wird sehen. Beckenbauer würde sagen: „Jetzt wählen mer mal und dann sehn mer schon.“

Christian Lindner hat den Braten schon gerochen: Ein Dreier-Bündnis geben die Umfragen gar nicht mehr her. Die FDP wird vermutlich als Oppositionspartei in den Bundestag einziehen. Verständlich dass der FDP-Vorsitzende, die Notbremse zieht und eine Dreierkoalition aus Union, FDP und Grünen in Frage stellt, wenn nicht sogar ausschließt. Realistisch betrachtet ist die Wahl gelaufen. Alles spricht dafür, dass es wieder eine „GroKo“ gibt. Wirklich?

Wann man die Zahlen betrachtet, ohne sich in den Details zu verzetteln, dann werden beide Großparteien an Zweitstimmen wohl deutlich abnehmen. Die große Koalition wird zur kleinen Koalition. Und da gibt es Schmerzgrenzen. Wenn die Union unter 34 Prozent der Zweitstimmen sinkt, dann gibt es eine „Götterdämmerung“. Dann ist der Ruf der großen Kanzlerin der großen Koalition dahin.

Wenn die SPD weniger als 22 Prozent der Zweitstimmen erreicht, kann niemand die Hand ins Feuer halten, ob es noch einmal zu einer „GroKo“ kommt, zumal sich viele SPD-Mitglieder, vor allem auf dem linken Flügel der Partei in der Opposition schon immer wohler gefühlt haben als auf der harten Regierungsbank, mit allen Kompromissen und „Kröten“, die man dort schlucken muss.

So wie es aussieht, bleibt nur noch eine große Koalition übrig. Aber was passiert, wenn sich die SPD einer Neuauflage der „GroKo“ etwa in einer Mitgliederumfrage verweigert, wie sie 2013 schon einmal abgehalten wurde? – … dann gilt Artikel 63 Grundgesetz!

Artikel 63

(1) Der Bundeskanzler wird auf Vorschlag des Bundespräsidenten vom Bundestage ohne Aussprache gewählt.

(2) Gewählt ist, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages auf sich vereinigt. Der Gewählte ist vom Bundespräsidenten zu ernennen.

(3) Wird der Vorgeschlagene nicht gewählt, so kann der Bundestag binnen vierzehn Tagen nach dem Wahlgange mit mehr als der Hälfte seiner Mitglieder einen Bundeskanzler wählen.

(4) Kommt eine Wahl innerhalb dieser Frist nicht zustande, so findet unverzüglich ein neuer Wahlgang statt, in dem gewählt ist, wer die meisten Stimmen erhält. Vereinigt der Gewählte die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages auf sich, so muß der Bundespräsident ihn binnen sieben Tagen nach der Wahl ernennen. Erreicht der Gewählte diese Mehrheit nicht, so hat der Bundespräsident binnen sieben Tagen entweder ihn zu ernennen oder den Bundestag aufzulösen.

Wird der vom Bundespräsidenten zur Kanzlerwahl Vorzuschlagende nicht mit der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages gewählt, kann der Bundestag innerhalb von zwei Wochen selbst einen Vorschlag zur Abstimmung bringen. Findet auch dieser Vorschlag im Parlament keine Mehrheit, ist gewählt, wer im unverzüglich nachfolgenden Wahlgang die meisten Stimmen erhält (einfache Mehrheit).

Der Bundespräsident kann binnen sieben Tagen die Ernennung verweigern und den Bundestag auflösen, es sei denn der Vorgeschlagene hat in der Abstimmung die (absolute) Mehrheit der Stimmen erreicht. Im Klartext könnte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Ernstfall eine CDU/CSU-Minderheitsregierung akzeptieren, muss aber nicht.

Das ganze Elend der Verhältniswahl wir hier besonders deutlich. Die Wähler geben ihre Stimme ab, und was danach passiert, steht in den Sternen. Denn in den Koalitionsverhandlungen machen die Parteien, was sie wollen. Darf man den Umfragen glauben – und das soll man nur mit Zurückhaltung tun – wünscht sich Mehrheit der Befragten eine schwarz-grüne Koalition. Doch die bekommt sie nicht. Das geben die Zahlen zur Zeit genau so wenig her wie eine schwarz-gelbe Koalition. Zahlen lügen nicht.

Die Regierungsbildung wird vermutlich spannender als die Wahl. Vielleicht gibt es gar keine Regierung. Doch wie Eingangs schon gesagt: „Prognosen sind schwierig, vor allem wenn es um die Zukunft geht“. Doch soviel ist sicher: Es grummelt im Wahlvolk.


Der Autor lebt in München und hat als rechts- und wirtschaftswissenschaftlicher Publizist mehrere Bücher zum Wahlrecht veröffentlicht, zuletzt den Traktat: „BWahlG – Gegenkommentar / Wenn die Wähler nicht das letzte Wort haben, haben sie auch nicht das entscheidende Wort.“ Vgl. zur Person des Autors und zum Wahlrecht dessen Internetseite: www.manfredhettlage.de .