Tichys Einblick
Rekonstruktion einer surrealen Revolte

Was ist wirklich im Kapitol passiert?

Der Sturm auf das Kapitol hat etwas verwirrendes: Einerseits Bilder der Brutalität, manch andere Eindringlinge wirken aber eher wie Museumsbesucher. Abseits von schockierenden Videos - wie lässt sich die Gewalt quantifizieren?

imago images / ZUMA Wire

Fast drei Wochen sind die gewaltsamen Ausschreitungen von Trump-Anhängern auf dem Capitol Hill nun her. Die deutsche Presse zeichnet ein klares Bild: Von „Mordabsichten“ ist die Rede, von einem organisierten Mob, der den Angriff auf den amerikanischen Parlamentssitz im Voraus geplant habe. Es gibt Vorwürfe, Polizisten und sogar republikanische Kongressabgeordnete hätten bei der Erstürmung assistiert. Doch was ist Wahrheit, was ist Fiktion? Was wissen wir tatsächlich über die Gewalt am Kapitol?

Geplante Selbstjustiz, sogar Lynchjustiz an Politikern, trieb einige Krawallmacher sicherlich an. Videos zeigen, wie die Menge „Hängt Mike Pence“ skandiert. Der Vizepräsident konnte nur wenige Momente vor dem Kontakt mit den Eindringlingen aus dem Gebäude evakuiert werden. Doch während die Politiker in Sicherheit gebracht wurden, entlud sich die Gewalt des Mobs an den Beamten vor Ort: Ein Kapitolpolizist wurde mit einem Feuerlöscher derart geschlagen, dass er später an seinen Verletzungen starb. Videos zeigen einen anderen Beamten, der von Trump-Anhängern in einer Tür eingeklemmt und angegriffen wird – minutenlang schreit der blutende Mann vor Schmerzen. Über 50 Polizisten wurden teils schwer verletzt. Bei Festnahmen stellten Beamten mehrere Schusswaffen und zwei Rohrbomben sicher, ähnlich jener, die vor dem Hauptquartier der republikanischen Partei detonieren sollte. Aber es gibt eben auch die ganz anderen Bilder des Tages: Der „Schamane“ Jake Angeli läuft seelenruhig durch die leere Kammer des Senats, andere schauen ehrfürchtig auf die ausgestellten Gemälde an den Wänden, machen einen Spaziergang, einer raucht Marihuana.

Die Polizei sorgte mit ihrem Verhalten für Irritationen. Sie zog sich zurück, soll Barrikaden geöffnet haben und räumte das Gebäude sogar zeitweise: Vorgänge, die einige dazu verleitet haben, den Behörden und Beamten vor Ort Sympathien für die Eindringlinge, sogar eine Komplizenrolle bei den Ausschreitungen zuzuschreiben. Wahrscheinlich nur die Anti-Polizei-Reflexe einer Fraktion, die mindestens seit dem Sommer darauf aus ist, Polizisten generell in möglichst schlechtem Licht dastehen zu lassen. Doch die lächerlich geringe Polizeipräsenz vor Ort hat Fragen aufgeworfen, die es zu beantworten gilt. Im Blick auf die Amtseinführung Joe Bidens am 20. Januar hat die US-Regierung reagiert: Trump selbst hat zum Tag der Machtübergabe zehntausende Nationalgardisten nach Washington D.C. beordert.

Die Demonstranten drangen an mindestens drei Stellen ins Kapitol ein. Einmal wurde die Polizei hier vom schieren Druck der Masse zurückgedrängt, ein anderes mal ließ die Polizei die Demonstranten direkt, widerstandslos eintreten. Um Druck von der Masse zu nehmen, weil Widerstand zwecklos war? Das Vorgehen wirft in jedem Fall Fragen auf. In den Hauptteil des Gebäudes unter der Rotunde des Kapitels drangen die Randalierer gewaltsam durch Einschlagen von Fensterscheiben ein und drängten die Polizei trotz Knüppeln im Saal immer weiter zurück. Vor allem grassiert dann das Chaos im Gebäude. Während große Teile der Kapitolpolizei damit beschäftigt sind die Eindringlinge unter der Rotunde zurückzudrängen, werden die beiden Kammern des Kapitols in denen getagt wird, von nur sehr wenigen Polizisten bewacht. Als Demonstranten dann kurz vor der Kammer des Repräsentantenhauses stehen, ereignet sich die dramatischste Szene des Tages.

Wenige Polizisten die vor einer verrammelten Tür (der vorletzten vor dem Plenarsaal) stehen und zunehmend unter Druck geraten, verlassen den Ort des Geschehens schließlich, weil sie die Information erhalten haben, eine Spezialeinheit sei da. Die wird auch wenige Augenblicke später die Situation entschärfen können – aber die Randalierer denken anscheinend, die Polizei räume die Stellung, und beginnen, die Fensterscheiben in der Tür einzuschlagen. Eine junge Demonstrantin, eine Veteranin der Air Force, versucht durch das eingeschlagene Glas der Tür zu steigen, als die zahlenmäßig überlegene Spezialeinheit bereits wenige Meter entfernt ist. Doch ein sichtlich panischer Polizeimann hinter der Tür schießt der Frau – ohne Warnung – direkt in den Hals, sie stirbt wenig später. Dieser Tod war völlig sinnlos, weil die taktische Einheit bereits in dem Moment, in dem die getroffene Frau zu Boden geht, am Ort des Geschehens eintrifft und durch ausreichende Mannschaftsstärke die Menschenmenge problemlos auflösen kann.

Hier zeigt sich das Kernproblem: Die Polizei hat sich an vielen Stellen bewusst zurückgezogen um Menschenleben zu schonen. An sich nicht unbedingt eine falsche Entscheidung. Die Menschenmenge wurde also teilweise bewusst nahe an Abgeordnete gebracht, die Situation war aber unter Kontrolle. Nur wussten das nicht alle und die Bilder waren natürlich von ungeheuerlicher Dramatik.

Wenige Meter entfernt sind Abgeordnete auf der Galerie der Kammer eingeschlossen, da die Polizei die Türen zum Schutz vor Angreifern verriegelt hat. Als sie den Schuss hören, ruft einer seine Frau an und beschreibt später, dass er in diesem Moment dachte, es sei sein letzter Anruf gewesen. Die Bilder und die Panik sorgten dafür, dass eine Situation eskalierte, die allein dadurch entstand, dass die Polizei bewusst Stellungen aufgab um Menschenleben zu schonen. Niemand wusste etwas, Abgeordnete im Gebäude dachten sie werden gleich gelyncht.

Bei aller Schelte für die Polizei muss man eines schon sagen: Angesichts der dramatischen Unterbesetzung, die wohl auch auf die polizeifeindliche Haltung der Washingtoner Bürgermeisterin zurückzuführen ist, ist das Ergebnis nicht schlecht: Abgesehen von den eben beschriebenen Szenen kam niemand unmittelbar zu Tode und die Abgeordneten wurden alle rechtzeitig in Sicherheit gebracht. Es starben auch noch weitere Menschen, aber das waren Herzinfarkte bzw. Schlaganfälle und ein Suizid. Wäre die Polizei zu mehr Gewalteinsatz bereit gewesen, hätten die Randalierer niemals soweit kommen können. Denn die Zahl der wirklich an der Gewalt Beteiligten war sehr gering. Vergleicht man Videoaufnahmen zu verschiedenen Zeitpunkten, zeigt sich, dass nur wenige hundert Menschen im Kapitol waren, während die Auseinandersetzungen mit der Polizei noch substanziell liefen. Das deckt sich mit einer Gesichtserkennungsanalyse der Washington Post, die auf lediglich 300 Demonstranten im Inneren des Gebäudes kommt, in dem Moment, als die Senatskammer aufgegeben wird.

Später kommen viel mehr. Aber da ist das Ereignis schon ein ganz anderes: Viele dieser Kapitol-Eindringlinge betrachteten das ganze aber eher als Spaziergang, besichtigten die Gemälde, einer raucht Marihuana. Das Gebäude wurde von der Polizei praktisch einfach frei gegeben, als alle Abgeordneten evakuiert wurden. Erst später, als genügend Verstärkung eintrifft, wird das Gebäude relativ gewaltfrei geräumt.

Von manchen Politikern der Demokraten wird derweil die olle Kamelle des „systemischen Rassismus“ wieder herausgeholt: Selbst President-elect Joe Biden erklärte, ein Mob schwarzer „BLM“-Demonstranten wäre, „sehr, sehr anders“ behandelt worden als die Trump-Anhänger, die das Kapitol stürmten. Auch VP-elect Kamala Harris ließ es sich nicht nehmen, die Rassismus-Keule zu schwingen, und erklärte sogar: „Wir wurden Zeuge zweier Rechtssysteme, als wir eines sahen, das Extremisten das Kapitol der Vereinigten Staaten stürmen ließ, und ein anderes, das im letzten Sommer Tränengas auf friedliche Demonstranten losließ.“ Auf die „friedlichen Demonstranten“, die Harris hier erwähnt, werden wir noch zurückkommen. Doch im Rahmen einer erschossenen Demonstrantin und dem Einsatz von Tränengas und Pfefferspray auch gegen die Trump-Demonstranten ist es schwer haltbar, von einer allzu sanften Behandlung für den Mob zu sprechen.

Unter Trump-Anhängern zirkuliert währenddessen das Gerücht, dass der Einbruch ins Kapitol gar eine „false flag“-Aktion der Antifa gewesen sein soll. Dies berichtet die Trump zugeneigte New York Post und zunächst auch die Washington Times. Behauptungen, der als „Bisonkopf“ und „QAnon-Schamane“ bekannte Jake Angeli sei in Wirklichkeit ein Antifa-Mitglied, lassen sich nicht belegen. Angeli wird zwar auf einer Antifa-Website in Arizona mit Foto geführt – dies jedoch im Rahmen einer Fotosammlung von rechtsextremen Aktivisten. Mindestens der einschlägig bekannte BLM-Aktivist John Sullivan aber war offenbar tatsächlich beim Sturm dabei und wurde deshalb festgenommen. Filmaufnahmen zeigen, wie er die Masse versuchte anzustacheln und Szenen zwischen Polizisten und Demonstranten zu eskalieren.

Der Vorwurf gegen Trump

Der schwerwiegendste Vorwurf, der nach den Ausschreitungen erhoben wird, ist jedoch der, dass Trump die Ausschreitungen angestiftet habe. Auch im Antrag auf Amtsenthebung, den das Repräsentantenhaus verabschiedet hat, ist von „Anstiftung zum Aufstand“ die Rede. In seiner Rede vor der Demonstration, aus der sich später der gewalttätige Mob bildete, sprach Trump lediglich davon, „zum Kapitol“ zu marschieren, und sagte der Menge, sie solle sich „patriotisch und friedlich“ Gehör verschaffen. Mehrmals forderte der Präsident per Twitter auf, die Gewalt zu stoppen, als sie sich bahnbrach. Andere Redner, die auf der Veranstaltung sprachen, wählten da schon schärfere Worte: Rudy Giuliani sprach zum Beispiel von einem „Kampfgericht“ („Trial by combat“). Doch vieles, was Trump und seinen Anhängern jetzt als Anstiftung zur Gewalt ausgelegt wird, ist wohl eher bildhafte Rhetorik. Wenn der Abgeordnete Mo Brooks von „Arschtritten“ spricht, die es zu verteilen gibt, meinte er das wohl kaum wörtlich. Wenn Trump zum „Kampf“ auffordert, ist das nicht sehr verschieden von der Rhetorik der Demokraten, die vier Jahre lang von „Kampf“ und „Widerstand“ gegen Trump sprachen.

Beim Thema „Anstiftung“ sollten Democrats und linke Organisationen vielleicht besser vor ihrer eigenen Haustür kehren: Viele redeten im Sommer wochenlang der Gewalt und den Aufständen in den Städten Amerikas das Wort. Bei CNN sagte zum Beispiel ein Kommentator: „Zeigen Sie mir, wo es heißt, dass Protest höflich und friedlich sein soll!“ Die demokratische Abgeordnete Ayanna Pressley rief wortwörtlich zu „Unruhen“ auf. Joe Biden sah monatelang zu, wie Mobs der „BLM“-Bewegung plünderten und zerstörten, bevor er sich durch Umfragen doch noch gezwungen sah, die Gewalt zu verurteilen. Auch aus den Jahren davor lässt sich einiges finden: Die bekannte demokratische Abgeordnete Maxime Waters rief auf einer Demonstration dazu auf, Mitglieder der Trump-Administration zu belästigen und von Orten zu vertreiben. Eric Holder, ehemaliger Justizminister in der Obama-Regierung, ist auf einem Video zu sehen, wie er im Bezug auf seine politischen Gegner erklärt: „When they go low, we kick them.“ Man könnte noch mehrere dutzend Zeilen mit Aussagen von Democrats und Trump-Gegnern füllen, wenn man die Standards für „Anstiftung“, nach denen sie Trump und die Republikaner beurteilen, gegen sie selbst anwendet.

Im Ergebnis geht der Sturm auf das Kapitol auf eine kleine, extrem radikalisierte Gruppe von Ultra-Trump-Fans zurück, die aber – wie der Schamane – schon sektenartig organisiert sind und eher QAnon & Co. zuzurechnen sind – und damit eigentlich nur noch sekundär von Trumps Rhetorik beeinflusst werden. Die Polizei hat durch ein passives Verhalten für schlimme Bilder, aber – bis auf einige Szenen – verhältnismäßig wenig schlimme Ergebnisse in Toten und Verletzten gesorgt. Das weite Eindringen wurde bewusst zur Schonung von Menschenleben zugelassen, man hätte es verhindern können, wäre man an einigen Stellen zu rabiaterem Vorgehen bereit gewesen.

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