Tichys Einblick
Interview

Warum die Coronakrise historisch einmalig ist

Der Medizin-Historiker Axel W. Bauer erklärt, wie sich die Coronavirus-Pandemie von anderen Pandemien unterscheidet.

imago Images/ZUMA

TE: Herr Professor Bauer, vielerorts auf der Welt haben Regierungen drastische Maßnahmen gegriffen, um die Ausbreitung des Virus SARS-CoV-2 einzudämmen. Ist Ihnen ein solcher Umgang mit einer Pandemie schon einmal begegnet?

Axel W. Bauer: Ein derartiges Bündel von Maßnahmen, wie wir sie jetzt erleben, hat es in der Geschichte noch nicht gegeben. Es gab zwar zu Zeiten der Pest-Epidemien im Spätmittelalter oder während der Cholera- und Typhus-Epidemien im 19. Jahrhundert Quarantänemaßnahmen. Aber die waren lokal begrenzt und meist nicht sonderlich von Erfolg gekrönt. Europa- und nahezu weltweite Restriktionen gab es hingegen noch nie, schon deshalb nicht, weil eine globale Vernetzung, wie wir sie heute erleben, nicht existierte. Es dauerte lange, bis die Nachricht über eine Epidemie einen anderen Kontinent erreichte. Entsprechend asynchron waren die Maßnahmen.

Wer sich die bisher veröffentlichten Daten anschaut, bekommt den Eindruck, das Virus SARS-CoV-2 sei weit weniger gefährlich als das MERS-Virus oder gar Ebola. Trotzdem wurde damals kein vergleichbarer Aufwand betrieben. Warum nicht?

Das Ebola-Virus ist zwar sehr tödlich, aber gerade deshalb lässt es sich recht gut eingrenzen. Diejenigen, die sich innerhalb der Grenzen des infektiösen Geschehens befinden, sterben leider. Der Erreger kann sich dann nicht mehr fortpflanzen. Das SARS-CoV-2-Virus verbreitet sich hingegen sehr schnell, womöglich noch ehe der Infizierte überhaupt weiß, dass er infiziert ist. Umso leichter kann er das Virus an andere Menschen weitergeben. Die Infektion verläuft zwar in den meisten Fällen milde und löst nur bei etwa 20 Prozent der Infizierten stärkere Symptome aus. Rund zehn Prozent kommen aber ins Krankenhaus und vier bis fünf Prozent auf die Intensivstation. Die Letalität schwankt derzeit zwischen drei und fünf Prozent, das wäre in etwa das Zwanzigfache der Sterblichkeit bei einer Influenza.

Das heißt, die ergriffenen Maßnahmen sind gerechtfertigt?

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Bislang hat sich die Befürchtung, das SARS-CoV-2 könnte durch fortwährend exponentielle Vermehrung nicht nur zu sehr vielen Patienten, sondern auch zu sehr vielen Toten führen, jedenfalls in Deutschland nicht bestätigt. Hier schwächte sich das exponentielle Wachstum sehr rasch ab und ging in ein lineares, arithmetisches Wachstum über. Derzeit sinkt die Zahl der Neuerkrankungen, und es gibt immer mehr Genesungen. Zudem wissen wir bislang wenig über die Dunkelziffer. Je höher die Dunkelziffer wäre – also Menschen, die bereits die Infektion überstanden haben, ohne etwas davon zu wissen – umso stärker würde die Letalität sinken. Wenn beispielsweise die Dunkelziffer beim Neunfachen der laborbestätigten Infektionen läge, würde die Letalität auf ein Zehntel sinken und damit womöglich dann doch wieder in den Bereich einer gewöhnlichen Influenza-Pandemie kommen. Das wissen wir aber derzeit noch nicht.

Inzwischen mehren sich die Stimmen, die meinen, in den Blick genommen gehörten auch die Kollateralschäden. Manche fürchten, dass Menschen Krankheiten verschleppen und häusliche Gewalt zunehme. Von einem Mehr an Depressionen und steigenden Suizidraten ist die Rede. Panikmache? Oder gibt es für solche Befürchtungen historische Vorbilder?

US-Präsident Donald Trump hat neulich sinngemäß gesagt, die Therapie der Krankheit dürfe nicht schlimmer sein als die Krankheit selbst, und das entspricht dem 2.400 Jahre alten Hippokratischen Prinzip, dass man dem Kranken nützen, ihm aber nicht schaden soll. Die Gefahr, dass es massive Nebenwirkungen gibt, liegt auf der Hand.

Woran denken Sie dabei?

Nehmen wir nur die sogenannten elektiven Operationen, die jetzt in großer Zahl abgesagt wurden, also Eingriffe, die nicht absolut dringend sind, die aber dennoch Krankheiten betreffen, unter denen die Patienten erheblich leiden. Selbst die Zahl der Einweisungen wegen eines Herzinfarkts ist zurückgegangen. Niemand weiß genau, wo diese Patienten geblieben sind. Es ist unwahrscheinlich, dass es zurzeit weniger Infarkte gibt als sonst.

Wir sehen Defizite, die aus der falschen politischen Beurteilung folgen, es sei im Augenblick nur noch eine einzige Krankheit relevant, nämlich COVID-19. Die Intensivstationen sind derzeit mit Rücksicht auf potenzielle COVID-19-Patienten viel weniger belegt als sonst. Das ist aber kein gutes Zeichen, sondern es weist darauf hin, dass Patienten, die etwa nach einer Operation kurzzeitig auf die Intensivstation kämen, momentan gar nicht behandelt werden. Ihre Eingriffe werden verschoben, nur dadurch sind Betten frei.

Welche Probleme sehen Sie außerhalb von Klinik und Praxis?

Wir müssen auch an häusliche Gewalt denken. Wer daheim isoliert leben muss, hat mehr Kontakt mit seinen Familienmitgliedern, und das hat leider nicht immer segensreiche Auswirkungen. Man muss auch mit steigenden Suizidraten rechnen. Wir haben annähernd 10 000 Selbsttötungen pro Jahr. Die Zahl der Suizide dürfte jetzt zunehmen, gerade bei älteren Menschen, die ohnehin stärker gefährdet sind, die jetzt isoliert leben und keinen Besuch von ihren Kindern und Enkeln bekommen.

Politik und Medien zeigen sich von der Solidarität beeindruckt: Einhaltung der Abstandsregeln, Tragen eines Mundschutzes. Junge, die für Ältere einkaufen, Schüler, die bei der Ernte, Medizinstudenten, die in Krankenhäuser aushelfen. Novum oder normales Krisenverhalten?

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In der akuten Krise, die ja jetzt bei uns seit einem Monat andauert, ist das beschriebene Verhalten positiv zu werten. Doch würde dies gegebenenfalls über Monate hinweg anhalten, oder käme nicht irgendwann eine Phase, in der aggressives Verhalten verstärkt aufträte? Etwa dann, wenn vor allem Ältere durch dieses Virus gefährdet sind, während auch die Jüngeren unter Kontaktsperren leiden, könnte es zu einem Konflikt der Generationen kommen. Die Solidarität würde nachlassen. Die augenblickliche Solidarität würde ihre Grenzen finden, wenn man die derzeitigen Maßnahmen beliebig verlängern würde.

Manche behaupten, die betroffenen Gesellschaften werden nach der COVID-19-Pandemie andere sein? In Asien tragen seit der SARS-Epidemie 2003 tatsächlich mehr Menschen Mundschutz. Haben Pandemien in der Geschichte zu nachhaltigen Veränderungen geführt?

Zunächst hoffe ich nicht, dass sich diese asiatische Gewohnheit bei uns ebenfalls auf Dauer etabliert. Der Mundschutz ist zumindest in der Form, wie er hier getragen wird, oft selbst genäht und notfallmäßig zusammengebastelt, keineswegs hygienisch. Er schützt die Gesundheit kaum, doch er hemmt das Kommunikationsverhalten. Er ist vor allem im Sommer unangenehm zu tragen, weil es dahinter sehr warm wird. Wenn man aus der Geschichte etwas lernen kann, was generell eher selten der Fall ist, dann dies: So stark die akute Furcht vor einer Epidemie auch jeweils gewesen sein mochte, sobald die Seuche vorbei war, kehrten die Menschen zu ihrem gewohnten Leben zurück. Epidemien verschwanden sehr rasch aus der kollektiven Erinnerung.


Zur Person

Axel W. Bauer lehrt seit 2004 als Professor für Geschichte, Ethik und Theorie der Medizin an der Medizinischen Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg. Er leitet auch dieses Fachgebiet am Universitätsklinikum Mannheim. Der Medizinhistoriker, Jahrgang 1955, hat Medizin in Freiburg studiert.
Von 2001 bis 2005 gehörte er dem Wissenschaftlichen Beirat Bio- und Gentechnologie der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag an. Von 2008 bis 2012 war er Mitglied im Deutschen Ethikrat. Von 2004 bis 2010 war er Gründungsmitglied und Vorsitzender des Klinischen Ethik-Komitees der Universitätsmedizin Mannheim. 2017 ist er in den Herausgeberbeirat der Zeitschrift für Lebensrecht eingetreten. Seit 2019 gehört er der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste an.

Zu seinen Veröffentlichungen zählt unter anderem „Todes Helfer. Warum der Staat mit dem neuen Paragraphen 217 StGB die Mitwirkung am Suizid fördern will“ (Edition Sonderwege bei Manuscriptum, 2013).


Dieses Interview von Stefan Rehder erschien zuerst in Die Tagespost. Katholische Wochenzeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur, der wir für die freundliche Genehmigung zur Übernahme danken.

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