Tichys Einblick

Voßkuhle und der Populismus

Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts Voßkuhle konstruiert eine Definition, mit der man politisch Andersdenkende als „verfassungsfeindlich“ abkanzlen kann: Will er Die Linke und AfD in die Verfassungswidrigkeit schieben?

© KAI PFAFFENBACH/AFP/Getty Images

Für Andreas Voßkuhle ist Populismus eine Gefahr für die Demokratie. In seinem Beitrag „Demokratie und Populismus“ (FAZ vom 23.11.2017, S. 6) definiert er Populismus in Anlehnung an einen Politologen als „Politikvorstellung, in der einem moralisch reinen, homogenen Volk stets unmoralische, korrupte und parasitäre Eliten gegenüberstehen“. Daraus – so Voßkuhle – folgerten Populisten einen Alleinvertretungsanspruch, den Anspruch, als Einzige den einen wahren Willen des Volkes erkannt zu haben. Dass ein solcher Wahrheitsanspruch, wenn er nicht nur situativ-rhetorisch erhoben, sondern generell politisch geltend gemacht wird, in seinen praktischen Konsequenzen zu Widersprüchen mit dem Grundgesetz führt und mit dem Demokratieprinzip unvereinbar ist, liegt auf der Hand. Voßkuhle zeigt das unter fünf Aspekten in geradezu lehrbuchartigen Darlegungen. Alles, was er insoweit schreibt, ist richtig. Und dennoch verfehlt der Artikel die politische Wirklichkeit und wirkt wie ein Versuch, einen verfassungsrichterlichen Beitrag zum Machterhalt der sich von „populistischen“ Strömungen in ihren Bastionen erschüttert fühlenden Eliten zu leisten.

Voßkuhle hat etwas getan, was er als Präsident des Bundesverfassungsgerichts besser unterlassen hätte: Er beurteilt bestimmte politische Kräfte anhand eines politischen Kampfbegriffs, der keine analytischen Konturen besitzt und den in der Praxis Politiker und Medien verwenden, um auf oppositionelle Herausforderer einzudreschen. Er hat diesem Begriff eine Definition gegeben, die mit dem öffentlichen Sprachgebrauch allenfalls geringe Schnittflächen hat und die vor allem mit der öffentlichen Verwendungsweise dieses Kampfbegriffs nicht übereinstimmt. Er setzt sich daher dem Missverständnis aus, mit seiner Bewertung als demokratiefeindlich all diejenigen treffen zu wollen, die im öffentlichen Mediendiskurs üblicherweise als Populisten attackiert werden. Er verkennt die Eigendynamik politischer Kampfbegriffe und sieht nicht, dass er sich selbst auf den politischen Kampfplatz begibt, wenn er sich solcher Begriffe bedient. Ob er es will oder nicht: Wenn er Populisten als Demokratieverächter darstellt, stürzt er sich selbst ins politische Kampfgetümmel. Sein Verdikt trifft in der öffentlichen Wahrnehmung alle als „Populisten“ geltenden Kräfte; dass er selbst den Begriff sehr viel enger definiert, hilft ihm nicht. Sein Beitrag wird als politische Stellungnahme in den aktuellen Auseinandersetzungen zwischen den politisch etablierten Kräften in Deutschland und Europa und ihren jeweils als „populistisch“ bezeichneten Herausforderern verstanden werden.

Warum macht Voßkuhle das? Warum definiert er Populismus so, wie er ihn definiert? Obwohl doch auch ganz andere Verständnisse von Populismus möglich sind, wie Voßkuhle selbst erkennt, wenn er einleitend auf Chantal Mouffe, Heribert Prantl, Ralf Dahrendorf und Botho Strauß hinweist. Peter Gauweiler, um nur ein weiteres Beispiel zu nennen, hat sich selbst als Populisten bezeichnet. Aber mit dem Gauweilerschen Populismus ist natürlich nicht das gemeint, was Voßkuhles Definition den Populisten zuschreibt: nicht der Anspruch, die alleinige Wahrheit oder den allein richtigen Volkswillen zu vertreten, sondern etwa: „dem Volk aufs Maul schauen“, also den Menschen zuhören, ihre Interessen aufnehmen und sie in verständlicher, auch vereinfachender und bildhafter Sprache zur Geltung bringen; sich nicht von Sprachverboten politisch korrekter Gouvernanten verschrecken lassen. Warum also definiert Voßkuhle den Populisten so, dass dieser für sich in Anspruch nimmt, den einzig wahren Willen des Volkes zu vertreten? Einfach deshalb, weil er dann den Populismus als verfassungswidrig anprangern kann? Man kann das dem Artikel nicht entnehmen. Denn dort steht nur, dass der Populist „bei genauerer Betrachtung […] ein Gegner der Demokratie“ sei. Aber was Voßkuhle genauer betrachtet, sind diejenigen Phänomene, die auf seine Definition passen. Eine Begründung dafür, diese entgegen dem allgemeinen Sprachgebrauch unter dem Populismusbegriff zusammenzufassen, gibt Voßkuhle nicht.

Schaut man sich die Merkmale an, die laut Voßkuhle den Populismus kennzeichnen, dann fällt auf, dass es sich sowohl bei dem übergeordneten Alleinvertretungsanspruch – dem Anspruch, „die Wahrheit“ oder „den wahren Willen des Volkes“ zu vertreten – als auch bei den einzelnen antipluralistischen und autoritären Folgerungen um Merkmale handelt, die keine Spezifika der jetzt als populistisch bezeichneten politischen Strömungen unserer Zeit sind, sondern die exakt die totalitären Großideologien des 20. Jahrhunderts – den Kommunismus und den Nationalsozialismus – charakterisieren. Beide Ideologien erhoben den Anspruch, die absolute Wahrheit und das wirkliche Interesse des Volkes zu vertreten. Beide sahen sich deshalb als berechtigt an, jede Opposition zu unterdrücken. Wer sich noch an die DDR erinnern kann, weiß, dass dort die „Volksdemokratie“ als vorgeblich wahre Demokratie der als „Formaldemokratie“ verunglimpften Demokratie des Westens gegenübergestellt wurde. Ein materiell aufgeladenes, auf den angeblich wahren, statt auf den durch Wahlen ermittelten Volkswillen verweisendes Demokratieverständnis lässt sich bis zum Jakobinismus zurückverfolgen. Das ist die „totalitäre Demokratie“, wie J.L. Talmon sie beschrieben hat. Ansätze zu einem totalitären Demokratieverständnis finden wir in einigen Beispielen, die Voßkuhle für seinen Populismusbegriff nennt. Aber Erdogan, der seine Kritiker einsperren lässt und unabhängige gegen willfährige Richter ausgetauscht hat, oder Maduro, der ein frei gewähltes Parlament durch eine mit Parteigängern besetzte Versammlung ersetzt hat, als Populisten zu bezeichnen, ist eine Verharmlosung. Auch käme wohl niemand auf die Idee, Honecker oder gar Hitler, Stalin oder Mao als Populisten zu bezeichnen, obwohl sie alle Kriterien des von Voßkuhle verwendeten Populismusbegriffs erfüllen. Und umgekehrt: Alle Populisten als Antidemokraten darzustellen, wäre für viele Betroffene eine Diffamierung, wenn damit alle gemeint wären, die täglich in den Medien, im Parlament oder in Talkshows als Populisten beschimpft werden. Voßkuhle meint nicht alle; er meint nur diejenigen, die unter seine Definition passen. Aber sein Beitrag wird nicht nur in akademischen Seminaren gelesen. Er wirkt in der Welt des politischen Kampfes, und dort wird es schlicht heißen: Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts stuft Populisten als Verfassungsfeinde ein.

Wer sind denn die politischen Kräfte, die in der politischen Wirklichkeit der deutschen Medien als Populisten gelten? Das sind doch vor allem die AfD und Die Linke. Trifft es zu, dass sie einen absoluten Wahrheitsanspruch erheben oder den einzig wahren Volkswillen zu vertreten beanspruchen? Trifft es zu, dass sie – wären sie an der Macht – die Opposition unterdrücken wollen oder dass sie – mehr als die etablierten Parteien – das freie Abgeordnetenmandat beschränken wollen? Voßkuhle äußert sich dazu nicht, aber diese Nichtäußerung wird als politische Stellungnahme verstanden werden. Die Welt politischer Kampfbegriffe ist nicht die Welt staatsrechtlicher Seminare. Wer als Rechtswissenschaftler oder als Richter politische Bestrebungen als verfassungswidrig bewertet, sollte das auf der Basis von präzisen juristischen Begriffen tun. Wer stattdessen einen allgemein gebräuchlichen politischen Kampfbegriff verwendet, kann sich nicht darauf verlassen, dass die Öffentlichkeit ihn im Sinne seiner speziellen Definition dieses Begriffs versteht. Er muss damit rechnen, dass sein Urteil – Populisten seien Demokratiefeinde – in der öffentlichen Wahrnehmung auf alle erstreckt wird, die gemeinhin als „Populisten“ bezeichnet werden.

Indem Voßkuhle von einer engen und nicht allgemein gebräuchlichen Populismusdefinition ausgeht, verfehlt er zugleich den Kern der Populismusdebatte. Der besteht doch nicht darin, dass von den als „populistisch“ bezeichneten Kräften ein Antagonismus zwischen zwei als homogen gedachten Gruppen – dem „reinen“ Volk und der „korrupten“ Elite – konstruiert wird. Ich schließe nicht aus, dass es auch so etwas gibt. Aber das Kernproblem, das zum Anwachsen als populistisch bezeichneter Strömungen geführt hat, ist, dass die politischen Eliten sich über viele Jahre hinweg den Problemen und Sorgen großer Teile des Volkes verschlossen haben. Einwanderungs- und Integrationsthemen wurden in Deutschland jahrzehntelang tabuisiert, durften nicht Thema von Wahlkämpfen sein. Und in der Krise, die die Menschen in Deutschland in den letzten Jahren wohl am meisten bewegt hat, in der „Flüchtlingskrise“, gab es im Bundestag eine informelle Allparteienkoalition von Refugees-Welcome-Enthusiasten. Erst das Entstehen einer „populistischen“ Alternativpartei hat den Wählern, die mit der Regierungspolitik nicht einverstanden waren, überhaupt die Möglichkeit gegeben, auf diese Politik zu reagieren. Ähnlich verhält es sich mit der Europapolitik und – seit der „Energiewende“ – mit der Energie- beziehungsweise Klimapolitik. Und die Globalisierung wird wie ein Naturgesetz dargestellt, auf dessen Wirken die Politik keinen Einfluss habe und dem sie sich nur anpassen könne. Es ist doch die Politik der angeblichen Alternativlosigkeit, mit der nicht Populisten, sondern die Bundeskanzlerin das freie Mandat zur Farce gemacht und jede Opposition zu delegitimieren versucht hat. Kritik, die sich dagegen erhob, wurde als „populistisch“ verunglimpft. Das diente und dient noch immer der Ausgrenzung aus dem politischen Diskurs; statt Gegenargumente zu formulieren, reicht die Beschimpfung aus. Zu Recht fordert Voßkuhle eine argumentative Auseinandersetzung mit den Populisten ein. Aber er verbindet dies mit dem Ansinnen, gleichzeitig aufzuzeigen, „warum Populisten letztlich Hand an die Grundpfeiler der Demokratie legen“. Unter den Populisten des allgemeinen Sprachgebrauchs gibt es aber solche und solche: Solche, die unter die spezielle Voßkuhlesche Populismusdefinition fallen, und solche, die man als „demokratische Populisten“ bezeichnen könnte. Voßkuhles Beitrag wird nicht dazu führen, dass der allgemeine Sprachgebrauch sich ändert. Er könnte aber – sicherlich ungewollt – den Diffamierungsdruck, dem sich demokratische „Populisten“ ausgesetzt sehen, erhöhen.

Diese Wirkung hätte Voßkuhle jedenfalls teilweise neutralisieren können, wenn er darauf hingewiesen hätte, dass auch diejenigen „Hand an die Grundpfeiler der Demokratie“ legen, die ihre Politik für absolut alternativlos erklären oder die jede Gegenposition als politisch unkorrekt nicht mit Argumenten, sondern mit Empörung bekämpfen. Diese lassen sich schwerlich als „Populisten“ bezeichnen, weil sie sich nicht auf das Volk berufen. Aber wer sich auf einen als allein richtig verstandenen moralischen Standpunkt beruft und von diesem aus gegnerische Positionen als politisch unkorrekt ausgrenzen will – auch mit Sanktionen wie Kündigung des Arbeitsverhältnisses, Vorenthaltung von Veranstaltungsräumen, Redeverbote in Universitäten –, der hat kein besseres Demokratieverständnis als derjenige, der meint, den einzig wahren Volkswillen zu vertreten.