Tichys Einblick
Gedanken zur Verhältnismäßigkeit

Von Corona zu Ketchup: Durchregieren gegen „falsche“ Ernährung

Wenn konsequentes Durchregieren gegen Viren hilft, soll das nach EU-Vorstellungen auch bei einem alle Segmente erfassenden Ernährungssystem helfen.

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Eine bisher nicht vorstellbare Beschneidung der Freiheitsrechte ist bei der Bedrohung durch eine Virus-Pandemie akzeptiert worden. Die massive Unterbindung sozialer Kontakte hat für Menschen die Grenze zur traumatischen Erfahrung erreicht oder sogar überschritten. Die staatlichen Verordnungen während der Corona-Krise haben in vielen Haushalten zu finanziellen Problemen geführt. Nicht nur der persönliche Geldbeutel ist leer. Verwaiste Innenstädte, leere Schulen, staufreie Autobahnen, geschlossene Restaurants und nicht oder nur begrenzt arbeitende Unternehmen sind sichtbare Zeichen einer im Hinblick auf ihre Freiheit ausgebremsten Gesellschaft. Die Konsequenzen werden langfristig sein. Es ist in beispiellosem Maße Wirtschaftskraft vernichtet worden. Diese ökonomischen Verluste mit einer parallelen Verteilung von Steuermitteln zur Begrenzung der Schäden werden in der Konsequenz die wirtschaftliche Entwicklung während der nächsten Jahre prägen.

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Die Bedrohung durch die Pandemie hat zu einer Bereitschaft in der Bevölkerung beigetragen, derartige Maßnahmen zu akzeptieren. Die Furcht vor Corona war und ist die Grundlage für diese Akzeptanz und eine entsprechende Disziplin in der Bevölkerung. Die notwendige Erklärung der Regierung bestand darin, dass durch geeignete Maßnahmen Infektionsraten signifikant gesenkt werden müssen, um eine erfolgreiche Behandlung infizierter Personen in dem vorhandenen Gesundheitssystem nicht zu gefährden. Das ist speziell in Deutschland sehr erfolgreich geschehen. Die Bürger konnten sich auf ein vorbildliches Gesundheitssystem verlassen, dessen Kapazitäten nicht zu stark strapaziert wurden. In der Konsequenz hat dies zur schrittweisen Aufhebung des Lockdowns und anderer Maßnahmen bei Erreichung der angestrebten Zielwerte geführt. In dem Maße, in dem freie Intensivbetten zur Verfügung stehen, können den Einzelnen und den Unternehmen in unserer Gesellschaft selbstverständliche Freiheitsrechte zurückgegeben werden. Und das müssen sie auch.
Verhältnismäßigkeit und Angemessenheit

Aufgabe des Staates ist es nicht, das individuelle Risiko einer Infektion zu eliminieren, sondern bei einer Infektion die medizinische Versorgung auf hohem Niveau garantieren zu können. Minister können und dürfen niemandem versprechen, dass er sich nicht ansteckt. Sie können und müssen nur dafür sorgen, dass für Infizierte eine gute Behandlung gewährleistet ist. Die Reproduktionszahl, die bedeutet, wie viele weitere Personen ein Infizierter ansteckt, steht in direkter Relation zu den Kapazitäten des Gesundheitswesens. Eine Statistik verstorbener Personen, so zynisch sich das anhören mag, ist nicht die relevante Messgröße.

Auch während der Corona-Krise haben die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit respektive Angemessenheit zu gelten. Ob diese wirklich immer eingehalten worden sind, werden spätere Analysen zeigen. Es ist noch viel zu forschen und kritisch zu bewerten. Die konsequenten Lockerungen nach dem Erreichen gesundheitspolitisch relevanter Zielwerte gehören zu dieser Angemessenheit. Restrisiken müssen akzeptiert werden. Sie sind individuell. Dafür ist der Staat nicht zuständig.

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Interessant wird es sein, wie die Erfahrungen mit der Pandemie Vorstellungen und Wünsche der Bürger verändern. Wird anders mit Risiken umgegangen? Wird stärker nach Reglementierung des Staates gerufen? Wird nach Freiheit geschrien, wenn es um den Schutz der Gemeinschaft geht? Die Corona-Demonstrationen, mit denen die Aufhebung aller Einschränkungen gefordert wird, sind berechtigt, weil sie der Situation angemessene Freiheiten verlangen. Sie sind noch nicht Zeichen solcher grundsätzlichen Veränderungen in der Bevölkerung. Am lautesten schreien leider wieder diejenigen, bei denen es eher Zeichen aufkeimender Dummheit ist. Die Forderung von Freiheitsrechten werden übertönt durch Impfgegner, sich dazu gesellende Wutbürger oder an einer gewissen Begrenztheit leidenden Verschwörungstheoretiker, die eine Hygiene-Diktatur fürchten, sich in einem Polizeistaat wähnen und überzeugt sind, dass Bill Gates all dies angezettelt hat, um jedem Menschen einen Chip einpflanzen zu können.

Was hat Corona mit Ketchup zu tun? Mehr als es auf den ersten Blick scheint. Was darf der Staat in welchem Umfang und warum? Die massive Begrenzung der Freiheit, die jetzt recht stillschweigend akzeptiert worden ist, sollte für staatlich verordnete Maßnahmen sensibel machen. Sind diese geeignet, erforderlich und angemessen? Die aktuell unter der Eingrenzung der Freiheit leidende Gesellschaft nimmt es in anderen Bereichen des Lebens kritiklos hin, dass staatliche Eingriffe zu Lasten der Freiheit gefordert werden. Werbeverbote für Kinderprodukte, Strafsteuern für zuckerhaltige Limonaden, Rezeptvorschriften für die Zutatenliste von Lebensmitteln. Die Liste dirigistischer Maßnahmen zur Ernährung ist variantenreich. Offenbar gibt es eine lethargische Bereitschaft, sich Geschmack und Qualität der persönlichen Ernährung ebenso vorschreiben zu lassen wie den individuellen Lebensstil. Auch dabei soll es angeblich um die Gesundheit gehen.

Lebensnormen für normierte Menschen?

Die Dicken sollen kontinuierlich zunehmen. Und dann kann die adipöse Karriere eventuell bei einem Diabetes enden. Alarmstimmung wird verbreitet. Unsere Kinder sollen auf dramatische Weise immer dicker werden. Nach dem Gesundheitsreport der DAK NRW aus dem Jahr 2019 ist das im bevölkerungsreichsten Bundesland bei 3,6 Prozent des Nachwuchses ein Problem. Sollen künftig 96,4 Prozent auf Erfrischungsgetränke und Zucker im Müsli verzichten, um dieser „Epidemie“ zu entkommen? Die Prävalenz für Typ-2-Diabetes liegt bei Jugendlichen bis zum 19. Lebensjahr bei 0,03 Prozent bei Jungen und 0,04 Prozent bei Mädchen. Diabetesvereine und vor allem ein Unternehmen wie Foodwatch sehen das mit Sorge.

Für die menschliche Gesundheit scheint es außer dem jetzt aktuellen Virus nur ein zentrales Problem zu geben: das Gewicht. Von der Norm abweichende Kilos werden für eine phantasievolle Palette von Krankheiten verantwortlich gemacht. Wer vom Body-Mass-Index (BMI) abweicht, wird angeblich zu einem Risiko für sich selbst und zu einer wirtschaftlichen Belastung für die menschliche Gemeinschaft.

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Es stimmt nachdenklich, dass alle wesentlichen Leiden der Wohlstandsgesellschaft am Gewicht hängen sollen. Als es noch keinen willkürlich festgelegten BMI gab, waren die Menschen auch nicht zwingend schlanker. Nachdenklich macht auch: Die zunehmend bewegungsarme Lebensweise wird als nicht relevant erachtet. Joggen lässt sich auch nicht staatlich anordnen. Heutige Belastungen durch Stress und andere Umweltfaktoren werden in den Debatten als nebensächlich abgetan. Die Genetik, die zunehmend als prägend für viele Erkrankungen und auch für das individuelle Gewicht erkannt wird, findet keine große Aufmerksamkeit. Es sind stattdessen immer die Ernährung, speziell der Zucker und das Gewicht. Da soll der Staat durchgreifen. Fragen drängen sich auf. Verfolgen die Mittel legitime Zwecke und greifen sie in geschützte Rechtspositionen ein? Ist die Maßnahme an sich geeignet? Ist die Maßnahme erforderlich, gegebenenfalls notwendig oder verstößt sie gegebenenfalls gegen das Übermaßgebot? Ist die Maßnahme angemessen, was durch Abwägung sämtlicher Vor- und Nachteile der Maßnahme festgestellt werden muss?

Kein Minister ist dafür zuständig, dass Klaus-Dieter am Tag nur noch 500 Meter läuft und sonst vor seiner Spielkonsole sitzt und virtuell Freunde trifft. Während ein Mensch in Deutschland 1910 noch im Schnitt 20 Kilometer am Tag gelaufen ist, waren es 2005 nur noch 800 Meter. Heute kommen viele nicht einmal mehr auf 500 Meter Gehstrecke täglich. Diese permanente Unterforderung hat für den von der Natur für Bewegung entwickelten Körper Konsequenzen, die auch eine Ministerin mit grün gepunkteten Fertigpizzen nicht aus der Welt schaffen kann. Unter dem Aspekt der Verhältnismäßigkeit hat sie weder die Pflicht noch das Recht. Aufgabe des Staates ist es nicht, das individuelle Gewichtsrisiko weniger durch Reglementierung des individuellen Lebensstils vieler zu eliminieren, sondern bei daraus resultierenden Erkrankungen die medizinische Versorgung zu garantieren.

Durchregieren gegen „falsche“ Ernährung

Wenn konsequentes Durchregieren gegen Viren hilft, soll das nach EU-Vorstellungen auch bei einem alle Segmente erfassenden Ernährungssystem helfen. Am 20. Mai 2020 wurde die Strategie „Farm to Fork“ (Vom Hof auf den Tisch) von der Kommission präsentiert. Alles wird reduziert. Bei den Landwirten Pflanzenschutz, Dünger, effiziente Anbauflächen, Motivation und Einkommen. Bei Nahrungsmittelherstellern und Handel die Freiheiten der Produktion und der Vermarktung. Bei den Verbrauchern der Variantenreichtum der angebotenen Produkte durch vorgegebene Nährwert- und Geschmacksprofile. Der Weg zum staatlich verordneten Einheitsbrei wird konsequent ohne Angemessenheit eingeschlagen.

Vernünftige Bürger
Ernährungsreport 2019 erschreckt Foodwatch
Die Einflussnahme der Politik auf die Ernährung ist ein Angriff auf individuelle Freiheit und unsere Kultur. Essen ist mehr als nur die Zufuhr von Nahrung zur Versorgung des Stoffwechsels. Die Art und Weise, wie wir uns ernähren, ist ein zentraler Bestandteil der Kultur einer menschlichen Gemeinschaft. Wenn hier die Axt der Bevormundung angelegt wird, ist es eine Attacke auf diese Gemeinschaft. Nicht ohne Grund gibt es den Begriff „Esskultur“, der mehr bedeutet als den unfallfreien Umgang mit Messer und Gabel. Die Ideologen sollten erkennen, dass Krankheiten, die sie anprangern, ganz wesentliche Konsequenzen der gesellschaftlichen Realität sind. So steigen die Krankheiten an, die wir in Folge eines körperlich weniger aktiven, stressbeladenen und längeren Lebens ausbilden.

Diese chronischen Leiden und Erkrankungen ausschließlich und immer wieder der Ernährung oder sogar einzelnen Nahrungsmitteln anlasten zu wollen, ist unverantwortlich. Eine Politik, die dem Bürger zunehmend Entscheidungen abnimmt und damit gleichzeitig seine Freiheiten reduziert, entmündigt sie. Lustbefriedigung wird von den Ernährungsideologen als Laster abqualifiziert, speziell wenn es sich um wohlschmeckende Speisen handelt. Sauer und asketisch soll das Leben sein, am besten bitter oder zumindest geschmacksneutral.

Regulierung der Freudlosigkeit

Wir brauchen keine Gesellschaft, die Enthaltsamkeit zum wahren Genuss erhebt. Diese Vorstellung den braven Bürgern mit Hinweis auf die angeblichen Gesundheitskosten als Ausdruck sozialer Korrektheit einzubläuen, vernichtet einen der wenigen Freiräume des individuellen Lebens, den nach eigenen Vorlieben gestalteten Esstisch. Das ist die Regulierung der Freudlosigkeit, weil Vorschriften, Verbote und Empfehlungen das als verwerflich definieren, was Genuss, Freude und Vergnügen ausmacht.

Willi Gebken sagt es geraderaus
Gedanken eines (noch) freien Bauern in Zeiten von Corona
Die Erfahrungen mit der Pandemie, so wird jetzt von vielen Seiten doziert, sollen lehrreich sein. Mit nur wenigen Autos auf den Straßen wird die Luft besser, die ruhige Gangart entspannt die Menschen, Distanz schafft neue Nähe, die digitale Arbeitswelt wird attraktiver. Vielleicht steigt auch die Sensibilität im Hinblick auf Bevormundungen, die ohne Rücksicht auf Verhältnismäßigkeit in die Freiheit des individuellen Lebensstils eingreifen.

Während der Corona-Krise wurde die Ernährungswirtschaft, von den Landwirten über die Nahrungsmittelproduzenten bis zur Logistik des Handels, wegen eines hervorragenden Jobs reichlich gelobt. Frisches Gemüse, Fertigpizza, Nudeln, Konserven, Schokolade, Ostereier, Grillwürstchen und Soßen für das Angrillen bei der ersten Frühlingssonne waren wie immer reichlich zu kaufen. Es fehlte an nichts – außer gelegentlich Toilettenpapier. Die rund fünf Millionen in der Ernährungswirtschaft arbeitenden Menschen haben ihren Versorgungsauftrag erfüllt.


Detlef Brendel, Wirtschaftspublizist

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