Tichys Einblick
Amy Coney Barrett "rückwärtsgewandt“

US-Wahlen und journalistischen Sitten

Die Zukunft gehört dem Sozialismus, liberal-konservativ war gestern und wehe dem, der als „rückwärtsgewandt“ abgestempelt wird.

imago Images/media punch

Es gab einmal Zeiten – auch im Journalismus der Bundesrepublik -, in denen die Grundtugenden des Berufes bekannt waren und in der Regel auch eingehalten wurden. Es hatte wohl seinen Grund, dass WDR-Intendant Tom Buhrow dieser Tage in einem Interview noch einmal auf einen der fundamentalen Berufsgrundsätze hinwies: Die klare Trennung von Nachricht und Kommentar! Dagegen verstoßen nämlich nicht nur die in seiner Dienstaufsicht stehenden Journalisten des WDR, sondern man muss es feststellen, alle Anstalten des öffentlich rechtlichen Rundfunks. Wenn es so etwas wie eine Auszeichnung für die Vermischung von beidem gäbe, könnte die Spitzenreiterrolle des Deutschlandfunks – und hier besonders seiner Magazinsendungen am Morgen und zur Mittagszeit – von niemandem bezweifelt werden.

Doch natürlich leben wir alle in ein- und derselben Welt und so ist natürlich auch der private Mediensektor von der Verlotterung der journalistischen Sitten betroffen. Ein gutes Beispiel waren da die ntv-Nachrichten am Wochenende. Die sympathische junge Dame verkündete die Nominierung der Juristin Amy Coney Barrett als Richterin für den Supreme Court, das höchste Gericht der USA, durch US-Präsident Donald Trump. Es ist nachvollziehbar, dass die als eine der Besten ihres Faches ausgewiesene Kandidatin nicht auf Sympathien der amerikanischen Linken und ihrer Brüder und Schwestern auch in Deutschland stoßen würde. Sie entspricht nämlich nicht dem Frauenbild der ideologisch Linken und der den Zeitgeist nachplappernden Vorlesern und Vorleserinnen vor den Kameras. Das hört sich bei ntv dann so an: Trumps Kandidatin ist „konservativ, Mutter von sieben Kindern, katholisch und in ihren Ansichten rückwärtsgewandt“.

Hätte bloß noch gefehlt, dass die Dame seit Jahrzehnten glücklich verheiratet ist und weder Scheidungen noch Abtreibungen vorzuweisen hat. Ganz offensichtlich „eine alte weiße Frau von gestern“ – rückwärtsgewandt eben. Mal ganz davon abgesehen, dass sich die Frage stellt, was das religiöse Glaubensbekenntnis von Barrett hier zum Erkenntniswert beiträgt – bei anderen Kandidaten hätte man sicher nicht muslimischen, buddhistischen, hinduistischen oder evangelischen Glauben vermerkt, aber katholisch scheint in diesem Zusammenhang wichtig zu sein. Nachdenklichkeit ist empfohlen! Wie aber kommt die Redaktion von NTV zu dem Adjektiv „rückwärtsgewandt“, mit dem sie die Persönlichkeit Barrett‘s beschreibt. Zum einen ist das eine klare Meinung jenseits der Nachricht, vielmehr noch aber eine stark negative Wertung der rechtlichen Ansichten der Trump-Kandidatin.

Ein Grund wird wohl sein, dass sich Barrett als überzeugte Gegnerin der Abtreibung einen bösen Ruf bei den Medien-Gurus erworben hat. Bei all dem ist es logisch, dass diejenigen, die definieren, was „rückwärtsgewandt“ ist, für sich selbst – gleichzeitig – in Anspruch nehmen, zu wissen, was im Gegensatz „vorwärtsgewandt“ ist.

Es gibt also eine klare Unterscheidung zwischen der linken Avantgarde des Fortschritts und einer zumindest vertrottelten Schicht alter und weißer Männer und Frauen, die die Wahrheit des Lebens nicht erkannt haben und von daher für das Alte stehen. Was soll man bloß mit denen machen? Da ist die Gewissheit des biologischen Verschwindens und bis dahin das mögliche Zurückdrängen aus allen öffentlichen Bereichen.

Bei der allgemeinen Verachtung des Alters in den westlichen Demokratien muss man davon ausgehen, dass die „vorwärtsgewandten“ jungen Menschen spätestens mit 35 sterben werden, denn wer nicht alt werden will, muss jung sterben.

Wer so abwertend über die Generation seiner Eltern und Großeltern denkt und spricht, hat offensichtlich von Geburt an so viel Weisheit mitbekommen, dass er weder den Erfahrungsschatz vor ihm Geborener benötigt, geschweige denn sich für die wirklichen Zusammenhänge des Lebens per Verstand informiert.

Nun könnte man das Ganze als temporäre Zeiterscheinung abtun, wenn da nicht die Erfahrungen aus der Geschichte, den Glauben weniger den neuen Menschen erziehen zu müssen, zig Millionen Menschen das Leben kostete – von den Stalinschen Arbeitslagern bis zu den Toten an der Grenze durch Deutschland. Wer sich aufschwingt, moralisch über allen anderen zu stehen, wandelt auf düsteren Pfaden – übrigens: Gleich zweimal hat der Deutsche Bundestag 2013 und 2019 die Errichtung eines Denkmals für die Opfer des Kommunismus in Deutschland beschlossen. Wir feiern in wenigen Tagen den 30. Jahrestag der Wiedervereinigung – für das Denkmal liegt noch nicht einmal ein Entwurf vor. Bleibt die Frage, woran liegt das fehlende Interesse?

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