Tichys Einblick
Ratlos

Untergang der Überzeugungen

Helfen, helfen, helfen. Aber wem, warum, und wem warum nicht? Schwierige Antwort auf eine mittlerweile alltägliche Frage. Von Menschlichkeit, persönlichen Zweifeln und Verantwortung in Zeiten globaler Nicht-Lösungen.

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Im Oktober 2015 war der Kristallpalast brüchig geworden: Eine Geschäftsreise sollte mich vom Hamburger Hauptbahnhof nach Duisburg führen. Abfahrt gegen 7.00 Uhr mit dem ICE. Modernes Leben mit Park&Ride-Stellplatz, Sitzplatzreservierung, Kaffee aus dem Pappbecher. Schläfriges Ankommen in der zugigen Wandelhalle des Fernzugbereiches.

Und dann war sie da die Welt „da draußen“, die Welt der Tagesschau-Headlines, der brennenden Häuser, der Bomben und Zerstörungen und der beige-staubigen Reportagen – neben der Rossmann-Filiale, dem McDonalds, arko und dem Curry-Wurst-Palast. Hunderte Kinder, die auf dem blanken Boden schliefen, beschützt von Müttern, Vätern – aus einer anderen, fernen, unbekannten Welt. Ich fühlte, wie Trauer und Neugier, Angst und Helfenwollen sich ineinander verschränkten … ich mich mit dem Rücken an das Schaufenster eines Stofftier-Geschäftes drückte und die Familien betrachtete, um das existentielle Bild der Not und der Verzweiflung zu verstehen, einordnen zu können. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen im ummantelnden Alltag Mitteleuropas zwischen Glasbruchversicherung, Kilometergeldpauschale und Mittagspausenregelung.

Die Haltlosigkeit des Herbstes 2015 war auch eine Lähmung durch die Unmittelbarkeit des Unerwarteten im eigenen, ganz konkreten Leben. Ich erreichte meinen Zug, suchte jedoch zuvor einen Helfer in gelber Warnweste und drückte ihm einen größeren Schein in die Hand …

Mir ist klar, dass diese Schilderung zu Irritationen, vielleicht zu Unverständnis und Ablehnung führen wird – bei vielen Menschen in Deutschland: „Hurra-Stimmung …“ Resultat viel beschriebener Verständnisphilosophien über die Aufgaben, Notwendigkeiten und Verpflichtungen die Deutschland gegenüber der zweifelsohne großen Not in dieser Welt habe. Fernab von den großen Interpretationslinien geht es mir in diesen vielleicht einmal wirklich etwas ruhigeren Tagen am Ende eines Jahres darum, einen Bruch in der eigenen Wahrnehmung zu akzeptieren.

Es geht um die Verantwortung und die Empathie jedes Menschen, einem anderen Menschen in Not zu helfen – und zwar vollkommen unabhängig davon, ob in einem unmittelbaren Fall diese Hilfe gerechtfertigt oder sinnvoll ist. Sagen wir es klar: Auch heute noch fühle ich die Verpflichtung einer Familie in Not auf einem deutschen Bahnhof zu helfen, wenn sie mich darum bittet – ganz unabhängig davon, ob es sich um eine deutsche, französische, spanische, syrische oder nigerianische Familie handelt. Ja, auch einem Mann aus eben diesen Ländern werde ich – so gut ich es kann – helfen, wenn er mich darum bittet. Die Frage nach Hilfe und Mitmenschlichkeit ist nie abstrakt, sie stellt sich in dem Moment, in dem ein Mensch meine Hilfe benötigt. In diesem einen Moment gibt es nur zwei Optionen: Ja oder Nein. Ich hoffe, mich immer für das Ja zu entscheiden.

Ich habe als Christ und Europäer gelernt, dass Leben ein Leben in Gemeinschaft ist. Als soziale Wesen bedingen wir uns und stellen fest, dass der Mensch seit jeher unabhängig von Kultur und Zeitaltern Bündnisse bildet: Als Familie, als Region, als Volk. Der Begründer der deutschen Soziologie Ferdinand Tönnies unterschied idealtypisch zwei Formen sozialer Bündnisse: Gemeinschaft und Gesellschaft. Gemeinschaft sind für ihn Resultate des engen menschlichen Zusammenlebens einer gemeinsamen Geschichte, von Gewohnheiten, Sitten und Begründungen, die nur in sich selbst liegen. Wir kennen Glaubensgemeinschaften …, Glaubensgesellschaften kennt die deutsche Sprache nicht. Gesellschaften sind stets in die Zukunft gerichtet, zweckorientiert, verstandesgetrieben und zutiefst logisch in ihrem Aufbau. Aktiengesellschaften, ein Staatswesen. In Gesellschaften wird ergänzt, optimiert und variiert – Gemeinschaften genügen sich selbst – ein Volk. Die Gesellschaft steht immer im Verhältnis struktureller Distanz zu ihrem Gegenstand.

Und so betrachte ich die syrische Familie, aber auch den einzelnen, der mir friedlich gegenübertritt als eine gemeinschaftliche Ansprache. Hilfe unter Menschen. Der kategorische Imperativ ganz praktisch in einer Bahnhofshalle in Europa im 21. Jahrhundert.

Es ist allerdings kein anderer als die Post-Marxist und intellektuelle Popstar Slavoj Zizek, der in Vorträgen und Publikationen permanent auf die „wahren Gründe für Flucht und Terror“ hinweist und die „Grenzen der Nachbarschaft“ vermisst. Er zitiert Oscar Wilde mit folgendem Gedanken: „Mitgefühl und Liebe zu Leidenden ist bequemer als Liebe zum Denken.“ Und an anderer Stelle in Bezug auf die soziale Frage: „Sie suchen das Problem der Armut dadurch zu lösen, dass sie den Armen am Leben halten , oder – das Bestreben einer sehr vorgeschrittenen Richtung – dadurch, dass sie für seine Unterhaltung sorgen. Aber das ist keine Lösung: das Übel wird schlimmer dadurch. Das eigentliche Ziel ist der Versuch und Aufbau der Gesellschaft auf einer Grundlage, die die Armut unmöglich macht. Und die altruistischen Tugenden haben tatsächlich die Erreichung dieses Ziel verhindert.“

Ich komme ins Zweifeln.

Kann Ethik im Einzelfall unverhandelbar sein, aber strukturell betrachtet problematisch. Zizek fordert dazu auf mit den „Tabus der Linken“ zu brechen, will man die Probleme der Welt strukturell lösen. Er geht sogar soweit zu fordern, dass „der Schutz der eigenen Lebensweise“ weder profaschistisch noch rassistisch sei. Im Gegenteil: Die Aufgabe gemeinschaftlicher Lebensaspekte würde von den meisten Menschen als existentielle Bedrohung erlebt werden, die erst in die (rechten) politischen Extreme treiben würde. Er macht deutlich, dass es Aufgabe sei, das Universelle dem Universalismus gegenüberzustellen. Seine klare Opposition zu einem politischen Islam ist vor einer deutschen Perspektive kaum unkommentiert zu belassen und würde in einer Talkshow zu sofortigen Einsprüchen des Moderators führen. Damit steht Zizek in einer diametralen Gegenposition zur klassischen Linken: So schreibt der französische Philosoph Francois Jullien 2016 unter dem Eindruck des Siegeszugs des Front National das Büchlein „Es gibt keine kulturelle Identität“. Er sucht den „harten Kern“ der Kultur … und findet ihn nicht. Seine These von der „Nicht-Identität“ verdichtet sich nachfolgend: „Der Versuch, die Vielfalt der Kulturen in Form von Unterschieden zu behandeln, hat andererseits zur Folge, dass Kulturen in ihrer Identität isoliert und fixiert werden. Doch das ist unmöglich, schließlich zeichnet sich das Kulturelle ja gerade dadurch aus, dass es mutiert und sich verwandelt – dies ist ein gewichtiger Einwand, beruft er sich doch auf das grundsätzliche Wesen der Kultur. Eine Kultur, die sich nicht länger verändert, ist tot. Die Transformation ist der Ursprung des Kulturellen, und deshalb ist es unmöglich, kulturelle Charakteristiken zu fixieren oder von der Identität einer Kultur zu sprechen.“ Ganz im Sinne eines Strukturanalytikers wird hier Kultur mit einer „Corporate Identity“ aus der Wirtschaftswelt gleichgesetzt: Ein Logo, eine Schriftart, ein Look. Aber auch für Unternehmen beschränkt sich die Identität nicht auf die werblichen Merkmale, sondern vor allem auf eine Stilistik und charakterischen Gestaltungswillen.

Alle kulturellen Systeme sind lebende Systeme. Im Gegensatz zu einer Maschine wirken auf sie unzählige Faktoren ein, so dass nie mit absoluter Sicherheit eine Entwicklung vorausgesagt werden kann. Kulturen sind und waren niemals statisch, sondern sie entwickeln sich selbstähnlich, d.h. durch die Zeit in typischer Art und Weise. Die Arbeit Julliens versucht den Begriff der „kulturellen Identität“ zu betonieren und auf diese Weise unschädlich zu machen. Das ist ärgerlich und allenfalls mit dem Wunsch eines aseptischen Wissenschaftsformalismus zu erklären: Was die Wissenschaft stört, ist schon immer die Wirklichkeit. Das Problem ist allerdings, dass Menschen niemals nur Menschen sind. Sie sind Ergebnis ihrer Mit-Menschen, sie sprechen eine bestimmte Sprache, benehmen sich auf eine erlernte Weise, bereiten ihre Speisen auf eine bestimmte Weise zu, grüßen, verabschieden und streiten auf ihre jeweilige Weise. Keine davon ist besser oder schlechter, aber alle sind für sich besonders. Das Besondere ist immer konkret: Es besteht aus Menschen, Baustilen, Landschaften und Waren. Jeder Mensch will anderer Welt nicht nur teilnehmen, sondern im besten Sinne teilhaben. Er macht sich diese typischen Dinge zu eigen und schafft damit Verbindung zu weit entfernten Kulturen und Epochen – der Konsum funktioniert allein auf dieser Grundlage. Dies zu negieren, negiert eine entscheidende Komponente des Menschseins und ist eine Bedrohung der individuellen Autonomie.

Es muss richtig sein, dem einzelnen zu helfen, aber es kann falsch sein, wenn Strukturen nicht das Große und Ganze zu lösen versuchen, sondern sich um die wirklichen Weichenstellungen, Visionen und Lösungen drücken, die die einzelne Familie erst auf die Hauptbahnhöfe Europas schutzlos führen.

Meine politischen Überzeugungen und Positionierungen werden immer unklarer: Der Untergang der Überzeugungen.

Die politische Aufgabe ist an sich konkret: Was geschieht, damit die Menschen der Welt eine Perspektive zum Leben haben – als Flüchtlinge, Migranten, als Einwohner, Europäer, Afrikaner, Deutscher, Franzose, Italiener, Syrer, Afghane oder Nigerianer.
Ich habe dazu bisher keine überzeugenden Lösungen gehört. Weder von links, noch von rechts. Von Helmut Schmidt ist unsäglich oft zitierter Satz mit den „Visionen und dem Arzt“ überliefert … er stammt aus einer Zeit der „Realpolitik“, in der sich gesellschaftliche Prozesse im Schneckentempo vollzogen und in der keine Visionen möglich waren. In einer Zeit globaler Herausforderungen sollte es heißen: „Wer jetzt noch keine Visionen entwickelt, sollte zum Arzt gehen.“ Und so lange werde ich ganz konkret helfen und Mitmenschlichkeit versuchen. Dass damit die Probleme nicht gelöst sind, macht mich eher verzweifelt denn wütend.