Tichys Einblick
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Thüringen, das politische Labor

In dem Bundesland scheint es nur zwei schlechte Alternativen zu geben: eine Linksregierung ohne Mehrheit, oder eine Art Volksfront gegen die AfD. Es gäbe noch eine dritte – wenn sich zwei Bedingungen änderten.

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Nach der Landtagswahl in Thüringen sieht das Publikum, wie es bei Bertolt Brecht heißt, den Vorhang zu – und alle Fragen offen. Die bisher regierende rot-rot-grüne Koalition unter Bodo Ramelow verlor am 27. Oktober ihre bis dahin auch schon sehr knappe Mehrheit, die Grünen schafften es nur knapp ins Parlament. Auf der anderen Seite versammeln die abgestürzte CDU unter Mike Mohring und die hauchdünn in den Landtag gerutschte FDP noch nicht einmal 30 Prozent der Wähler hinter sich. Ramelows linke Allianz darf sich zwar als abgewählt betrachten, kann aber wegen der besonderen Verfassungslage Thüringens im Amt bleiben. Die sieht vor, dass ein Ministerpräsident ohne Zeitbegrenzung weiter regiert, solange kein neuer gewählt ist. Das hieße allerdings: Ein Bundesland würde möglicherweise auf Jahre hinaus von einer Regierung gelenkt, die zwar formal legitimiert ist, aber praktisch, also demokratisch, eben nicht.

Der Gegenentwurf, den Mike Mohring kürzlich in der Sendung von Markus Lanz skizzierte – eine „Regierung der bürgerlichen Minderheit“ – besitzt einen erheblichen Nachteil: sie beruht auf einer völlig unrealistischen Kalkulation. Nach Vorstellung des CDU-Politikers soll er – der als Spitzenkandidat einen Verlust von fast 12 Prozentpunkten und das historisch schlechteste Ergebnis der Thüringer CDU eingefahren hat – trotzdem Ministerpräsident einer Kleinstkoalition mit den Freidemokraten werden, die dann von SPD und Grünen gestützt werden sollte. Erstens hätte diese Konstellation dann immer noch nicht die nötige Mehrheit von 46 Stimmen. Zweitens besitzt Rot-Rot-Grün noch ein paar Mandate mehr, so dass Mohring selbst im dritten Wahlgang nicht Regierungschef würde – es sei denn mit Stimmen der AfD. Und vor allem, warum sollten Grüne und Sozialdemokraten die Regierung von Ramelow verlassen, in der sie Ministerposten besetzen und mit der sie gute Chancen haben, einfach weiter zu machen? Nur, um der wackligen Regierung eines Wahlverlierers über die Runden zu helfen? Selbst, wenn sie formal in ein Kabinett Mohring wechselten, wären SPD und Grüne formal kein Stück besser dran als jetzt. Realpolitisch ist ihnen Ramelow sowieso auf allen Gebieten näher.

Es bleibt noch eine dritte Variante, die zwar in der öffentlichen Diskussion bisher kaum vorkommt, dafür aber den merkwürdigen Vorteil besitzt, rechnerisch aufzugehen: Eine Konstellation von AfD, CDU und FDP. Nur sprechen eine Reihe von Gründen dagegen. Erstens, dass Mohring nicht nur jede Zusammenarbeit mit der AfD ausgeschlossen, sondern die Partei sogar mit dem Begriff „Drecksnazis“ belegt hatte. Zweitens gäbe es deshalb auch erheblichen Widerstand in der AfD, ihrerseits mit der CDU ins Geschäft zu kommen. Drittens ist die AfD obendrein die stärkste Partei der drei, was es für die geschwächte CDU auch unter günstigeren Umständen sehr schwer machen würde, ein solches Bündnis in Auge zu fassen.

Und schließlich, viertens, gibt es da eben diese Umstände, beziehungsweise den Umstand namens Björn Höcke. Kein anderer AfD-Spitzenpolitiker steht so weit rechts, kein anderer hat mit seiner Rhetorik selbst eine Art Burggraben um seine Partei herum gezogen. „Wenn einmal die Wendezeit gekommen ist, dann machen wir Deutschen keine halben Sachen“; „erinnerungspolitische Kehrtwende um 180 Grad“ – jemand, der diese Sätze nicht nur sagt, sondern auch schreibt, der betreibt absichtlich Geisterbeschwörung. Als Geschichtslehrer weiß Björn Höcke das. Mit einem AfD-Mann wie Jörg Meuthen würde die Thüringer CDU wahrscheinlich schon im Hinterzimmer verhandeln, vermutlich ohne Mohring. Aber mit einem Höcke, den selbst manche AfD-Politiker unter vier Augen einen Kotzbrocken nennen? Diejenigen die eine blau-schwarz-gelbe Zusammenarbeit anstreben, nennen die vorerst nur in der Luft schwebenden Idee „bürgerliches Bündnis“. Nur: wie bürgerlich kann man mit Höcke sein?

In einer verfahrenen Lage bewegt sich meist erst dann wieder etwas, wenn sich ein, zwei Bedingungen ändern. In welche Richtung es gehen könnte, deutete gestern der bisherige Vize-Fraktionsvorsitzende der CDU Michael Heym an. „Unter bestimmten Umständen“, meint er, könnte er sich eine Zusammenarbeit mit der AfD vorstellen. Damit steht er nicht allein. Es gibt etliche CDU-Landtagsabgeordnete, Bürgermeister und Landräte, die fürchten, dass ihre Partei in eine strategische Sackgasse gerät. Wenn links von der CDU alles bündnisfähig ist, nach rechts aber alles versperrt, dann kann sich die CDU aussuchen, ob sie als Daueropposition den 15 Prozent entgegenschrumpft – oder sich als Partner dann doch der Linkspartei andient, die letzten Grundsätze verabschiedet und zur Belohnung bei künftigen Wahlen den Weg der SPD einschlägt. Heym nannte noch keine konkreten Bedingungen. Er sagte allerdings, die AfD müsse sich bewegen und sich überlegen, „ob sie eine Protestpartei bleiben oder ob sie Verantwortung will“.

Was würde nun passieren, wenn Björn Höcke sich entradikalisiert? Er könnte sich auch zurückziehen. Aber wenn er sich tatsächlich hin zur Mitte bewegen und viele seiner alten Sprüche glaubhaft hinter sich lassen würde, dann hätte das Auswirkungen auf die gesamte Partei. Anders gewendet: eine Deradikalisierung des rechten AfD-Flügels muss wahrscheinlich sogar ein Politiker wie Höcke in Angriff nehmen, wenn sie wirken soll.

Bei den Grünen war es übrigens seinerzeit – was heute fast völlig vergessen ist – einer der Radikalsten und Problematischsten in ihren Reihen, nämlich Joseph Fischer, der 1985 die erste Koalition mit der SPD auf den Weg brachte, und zwar mit Holger Börner, der noch vor der Wahl gemeint hatte, so etwas wie die Grünen – beziehungsweise die Demonstranten gegen die Frankfurter Startbahn West, also fast dasselbe – hätte man „früher auf dem Bau mit der Dachlatte erledigt“. Fischer seinerseits hatte nicht nur mit einem dachlattenähnlichen Gegenstand auf Polizisten eingeprügelt – das zählte eher noch zur Folklore der damaligen Zeit. Der Grünen-Politiker stand zum einen unter Verdacht, an dem versuchten Mord an dem Polizeiobermeister Jürgen Weber in Frankfurt 1976 mitgewirkt zu haben, dem damals durch mehrere Molotow-Cocktails 60 Prozent seiner Haut verbrannten. Weber überlebte schwerbehindert.

Zum zweiten geriet Fischer 1982 in Verdacht, zumindest am Rand Beteiligter an der Ermordung des hessischen Wirtschaftsministers Heinz Herbert Karry 1981 gewesen zu sein. Nach der Aussage eines Zeugen soll der spätere Opec-Attentäter Hans-Joachim Klein die Karry-Tatwaffe in Fischers Auto transportiert haben. Die Ermittlungen des hessischen LKA zur Spur „74.4.9.10 Fischer“ brachen1983 ergebnislos ab, als der Grünen-Politiker in den Bundestag einzog. Für Fischer war seine Deradikalisierung auch eine persönliche Rettung. Er stand vorher schon mit anderthalb Füßen im Gefängnis. Das unterscheidet ihn, bei allen Vorwürfen gegen Höcke, von dem AfD-Mann.

Was würde also passieren, wenn Höcke seinen nationalrevolutionären Phrasen abschwört? Wenn die Partei, in der jemand wie Höcke ja kein Unikum darstellt, sich verbürgerlichen würde, um ins Regierungsgeschäft zu kommen – zunächst einmal als Tolerierungspartner? Das wäre ein Experiment mit offenem Ausgang.

Thüringen bekäme dann eine Regierungskonstellation, die zumindest eine Mehrheit der Wahlbürger hinter sich hätte. Das kleine ostdeutsche Land wäre dann eine Art politisches Labor. Sollte es Schule machen, dann gäbe es in Zukunft – was demokratietheoretisch und vor allem demokratiepraktisch von ziemlicher Bedeutung ist – langfristig auch wieder echte Regierungswechsel von links nach rechts und andersherum. Koalitionen ließen sich wieder voneinander unterscheiden. Die Alternative dazu hieße: in immer mehr Ländern, vorerst im Osten, dann auch im Bund bildet sich ein amorpher Allparteienkloß gegen die AfD. Diejenigen in der CDU, die hoffen, in diesem Kloß immer noch den relativ dicksten Brocken zu bilden, hätten damit kein Problem. Eine möglichst radikale AfD ist ihnen gerade recht. Es stellt sich nur die Frage, was diese Dauerpolarisierung aus der Bundesrepublik macht.

Zurück zu Thüringen: es könnte sich dort noch eine zweite Bedingung ändern. Zwischen Mike Mohring und selbst einem gewandelten Höcke lässt sich eine Zusammenarbeit kaum vorstellen. Was wäre, wenn in der Union ein Politiker auftauchen würde, die nach beiden Seiten integriert – beispielsweise der frühere Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen? Thüringen hatte lange einen dezidiert linken Regierungschef, der jetzt ohne Mehrheit dasteht. Wäre es nicht den Versuch wert, wenn ein im Verhältnis zur Merkel-CDU ziemlich rechter Ministerpräsident eine Regierung zustande bringt, die sich immerhin auf eine Wählermehrheit stützt?

Natürlich kann das schief gehen. Allerdings nicht viel schiefer als eine geschäftsführende Linksregierung Ramelow in einem Land, das mehrheitlich Mitte bis Rechts gewählt hat.

Wenn es gut geht, könnte der Versuch das Land befrieden. Und zwar nicht nur das kleine Thüringen.

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