Tichys Einblick
Verfassungstext vs. Verfassungswirklichkeit

Zum „Tag des Grundgesetzes“: Eine Beute der Parteien

Zur Wirklichkeit am heutigen "Tag des Grundgesetzes" gehört auch, dass die Parteien und Regierungen sich diese beste Verfassung der Deutschen zur Beute gemacht haben.

Faksimile des Original-Grundgesetzes von 1949

IMAGO / JOKER

Wer wie der Autor dieser Betrachtung den gleichen Geburtsjahrgang wie das Grundgesetz hat, der hat zur Gegenwart dieser bundesrepublikanischen Verfassung, die dem Namen nach ja immer noch wie ein Provisorium wirkt, ein ambivalentes Verhältnis.

Beginnen wir mit dem Positiven: Dieses Grundgesetz ist die beste Verfassung, die es auf deutschem Boden je gab. Diese Verfassung hat die Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 möglich gemacht. Denn sie ließ relativ unkompliziert über Artikel 23 den Beitritt der „neuen“ Länder zum Geltungsbereich des Grundgesetzes zu. Vor allem aber strahlte das Grundgesetz bereits ab 1949 auf die DDR aus. Die DDR-Bürger waren de jure zugleich Bürger der Bundesrepublik. Und der Geist der damaligen Präambel strahlte im besonderen aus: Denn diese Präambel war ein Auftrag zur Wiedervereinigung: „Von dem Willen beseelt, seine nationale und staatliche Einheit zu wahren ….“, so lautete der Auftrag. Die Bundesrepublik mauserte sich denn auch bald zu einem starken Mitglied innerhalb der EWG, später der EG und auch der Nato.

Bald nach der Wiedervereinigung aber schienen Verfassungstext und Verfassungswirklichkeit etwas auseinanderzudriften. Immer weniger ging es um den Souverän, das deutsche Volk, dem man keinen Patriotismus mehr zugestand. Der sterile Begriff vom Verfassungspatriotismus machte die Runde. Steril deshalb, weil man ein Land nicht nur wegen seiner Regeln lieben kann. Das wäre so, wie wenn ein Fußball-Fan den Fußball bloß wegen seiner Regeln und nicht wegen des Spiels selbst liebte. Und dann kamen die Globalisierer und die Europäisierer. Am Grundgesetz und dem Souverän vorbei wurden Rechte an eine Konstruktion delegiert, die demokratisch nicht einmal legitimiert ist: die Europäische Union. Zugleich wurde der Grundsatz der Achtung der Würde der Person durch ein inflationär angewendetes Asylrecht globalisiert. Der renommierte Verfassungsrechtler Ulrich Vosgerau nannte das 2015/16 eine „Herrschaft des Unrechts.“

Und auch in anderen zentralen Bereichen wird die Kluft zwischen Verfassungstext und Verfassungswirklichkeit immer größer. Für ungeborenes Leben scheint die Achtung der Würde des Menschen immer weniger zu gelten. Ebenso wenig die herausgehobene Aufgabe des Staates, die Familie zu schützen. Klammheimlich schleicht sich hier eine Vorstellung von relativ beliebiger sogenannter Verantwortungsgemeinschaft ein.

Nun, das Grundgesetz musste immer mal wieder novelliert werden. Die Zeiten ändern sich. Die weitestreichende Novellierung hat das Grundgesetz nicht im Zuge der Wiedervereinigung erfahren, sondern nachfolgend durch die beiden Föderalismusreformen. Reformen, die heute in Zeiten zunehmender Zentralisierungen wohl kaum noch zustande kämen.

Aber zurück zum Verhältnis von Verfassungstext und Verfassungswirklichkeit: Die Parteien und Regierungen haben sich das Grundgesetz zur Beute gemacht. Renommierte Verfassungsrechtler nennen das eine Verfassungsrevolution. Vor allem zulasten der Gewaltenteilung. Die Legislative, also die Parlamente als der Repräsentant des Souveräns, des Volkes, wird immer mehr gegängelt von der Exekutive, vor allem vom Kanzleramt. Die dritte Gewalt im Staate, das Bundesverfassungsgericht, urteilte zuletzt wiederholt sehr im Sinne der Exekutive. Siehe Urteile zur Impflicht von Pflegekräften, zum Klimaschutz, zur europäischen Transferunion. Von der Besetzung der Richterposten wollen wir aus Höflichkeit schweigen.

Will sagen: Die Väter und (vier) Mütter des Grundgesetzes  haben es nicht verdient, dass ihr Erbe solchermaßen zerstückelt wird. Es mag in diesen Zeiten ja viel von Verfassungsfeinden die Rede sein, die zu bekämpfen seien. Indes stellt sich die Frage, wo die größten Verfassungsverächter zu finden sind.