Tichys Einblick
Frohen Tag der Deutschen Einheit!

Der Mensch entfaltet sich am besten in der Freiheit

Jede Nation, die sich weder völkisch noch rassistisch definiert, sondern sich als Hüterin der Aufklärung versteht, braucht einen Moment, wo Menschen sich zusammengefunden haben, nicht weil sie die gleiche Hautfarbe haben oder an den selben Gott glauben, sondern weil sie frei sein wollen.

Fallschirmspringer entfalten über dem Flughafen Paderborn-Lippstadt eine Deutschlandfahne am Himmel. Mit der Aktion wollen sie einen neuen Weltrekord aufstellen.

picture alliance/dpa | David Inderlied

Diesen Moment haben uns die mutigen Frauen und Männer Ostdeutschlands vor über dreißig Jahren geschenkt. Sie gingen auf die Straßen, um für die Freiheit zu demonstrieren. Sie kehrten dem Regime der Unterdrückung den Rücken. Sie taten dies unter Einsatz ihres Lebens. Niemand wusste, wie die Staatsmacht reagieren würde.

Sie gingen auf die Straße, nicht weil sie gehungert haben, sondern weil sie nach Freiheit sehnten. Sie wollten sagen können, was sie wollen, auch wenn es den Mächtigen nicht gefällt. Sie wollten reisen können, wohin sie wollen. Sie wollten schlicht und ergreifend frei sein. Diesen Ruf der Freiheit verbanden sie mit dem Spruch: „Wir sind das Volk!“

Diese Revolution war der Beginn der Nation, die seit dem 3. Oktober 1990 als wiedervereinigtes Deutschland existiert.

Dieses Jahr ist der Tag der Deutschen Einheit immer noch überschattet von Corona. In den letzten Monaten wurde erbittert ein Streit um die Frage nach dem Verhältnis zwischen Freiheit und Sicherheit geführt. Dabei wird leider immer öfter der politische Gegner diffamiert.

„Militaristische und revanchistische Propaganda in jeder Form, Kriegshetze und Bekundung von Glaubens-, Rassen- und Völkerhass werden als Verbrechen geahndet.“

Klingt gut, oder? Wer ist schon ein Freund von Kriegshetze und Hass? Es ist doch gut, wenn all das verboten ist, oder?

Der zitierte Absatz fand sich an fünfter Stelle des sechsten Artikels der Verfassung der DDR. Es war genau dieser Absatz, mit dem Kritikerinnen und Kritiker des Regimes in Knast und Folter gesperrt wurden. Nimm Dich in acht vor selbsternannten Friedensaktivisten, denn sie erklären Dich zum Kriegsaktivisten, sobald Du es auch nur wagst zu widersprechen.

Wir befinden uns wieder in einem Krieg. Diesmal jedoch ist der Feind klein und kann sich in jedem Körper befinden, in dem Körper des Kollegen, der Enkelin, des Freundes, der Verkäuferin und in uns selbst. Durch das Virus werden wir einander zur Gefahr. Als Strategie zur Bekämpfung dieser Gefahr hat uns die Regierung in einen Lockdown und sogar in eine Ausgangssperre geschickte.

Die Bürgerinnen und Bürger wurden und werden zum Wehrdienst gegen das Coronavirus zwangsverpflichtet. Alle müssen mitmachen. Wer sich weigert, die Uniformen der Hygiene anzulegen oder die Befehle zur Distanz zu exekutieren gilt als Deserteur, der die Truppenmoral schwächt und das Wohl und die Gesundheit des Volkes gefährdet.

„Es geht um die Gesundheit,“ sagen sie Verteidiger der Freiheitsbeschränkungen und fügen Klagens hinzu, „oder willst Du, dass noch mehr Menschen an dem Virus sterben?“ Sie sind der festen Überzeugung, dass wenn sich alle Menschen an die Coronaregeln halten und das gewohnte Leben temporär einstellen, sich das Virus nicht weiter ausbreiten kann. Es geht um die Sicherheit! Was kann man dagegen haben?

Nun, der Mensch ist das Problem!

Jeder Vorschlag einer Problemlösung, bei dem der Menschen zum Problem erklärt wird, ist unmenschlich. Eine solche Lösung will nicht das Problem beenden, sondern den Menschen. Der Sozialismus der DDR war so ein unmenschliches System, nicht aufgrund der Ideale, sondern aufgrund der Methodik.

Der Mensch ist frei und fehlerhaft. Er kann sich für das Gute und für das Böse entscheiden. Er definiert überhaupt erst, was gut und böse ist.

Das Problem der DDR war, dass sie die mit Schwächen geschlagen und mit Interessen versehenen Menschen nicht befähigte, ein gerechtes Leben zu führen, sondern die Menschen zwang, ein gerechtes Leben zu führen. Was gerecht ist, definierten dabei ein paar wenige Mächtige. Für die SED war der Mensch ein Problem, weil er frei ist. Auch für die Parteien heute, die Bürgerinnen und Bürger in Zeiten von Corona mit Verordnungen in Lockdowns, Ausgangssperren und sozialen Distanzierungen zwingen, ist der Mensch das eigentliche Problem. Diese Entwicklung ist mehr als beunruhigend.

Der Mensch ist ein Wesen, das sich seiner Sterblichkeit bewusst ist. Menschen besitzen die Fähigkeit zu Moral. Menschen sind Kreaturen, die Welten erdichten und Kunst erschaffen können. Menschen machen Gesetze und werfen Partys. Menschen erleben sich in der Gemeinschaft und messen sich aneinander. Sie lachen, singen, tanzen und grölen. Sie umarmen sich, kuscheln, raufen, ringen und bekriegen sich. Menschen möchten das Leben spüren. Sie möchten raus. Menschen möchten einen Eindruck hinterlassen. Sie möchten sich mal fallen lassen und mal herrschen. Menschen sind frei.

Freiheit ist gefährlich

So wie der Zwang der DDR zu Freundschaft, Gerechtigkeit und Solidarität viele Menschen zerstört hat, so zerstört heute der Zwang zur Corona-Bekämpfung viele Existenzen und Menschen.

Der Mensch ist ein Lümmel. Je stärker er zu etwas gezwungen wird, mag es auch noch so richtig und wichtig sein, umso mehr steigt in ihm der Wille zum Widerstand auf, vor allem wenn die Maßnahmen urmenschliche Verhaltensweisen unterdrücken.

Ich liebe die Freiheit. Sie ermöglicht es mir, ein privatisierter Sozialist zu sein, der versucht, ein gerechter Mensch zu sein. Ich freue mich, wenn es mir gelingt und ich ärgere mich, wenn es mir misslingt. Wenn mir im Misslingen aber unverhältnismäßige Strafen auferlegt werden, wenn ich zum Problem erklärt werde, weil ich menschlich bin, regt sich in mir Widerstand.

Natürlich braucht es Regeln, um eine soziale Gemeinschaft aufrechtzuerhalten, aber wenn die Regeln unmenschlich werden, wenn der Mensch das Problem wird, bricht entweder alles zusammen oder die Unterdrückung des Menschen nimmt zu.

Es gibt Menschen, die in der Coronakrise ihre Existenz verloren haben, deren Beziehungen im Ausnahmezustand zu Grunde gegangen sind und deren Kinder Depressionen bekommen haben. Die Krise hat verzweifelte Personen hinterlassen, die nicht im Home Office Kuchen essen konnten, weil es schon am Brot gemangelt hatte. Es gibt Menschen, für die ist das Fußballstadion, das Theater, die Kneipe oder der Club lebensnotwendige Ablenkung und eine soziale Form des Stressabbaus und der Aggressionsbewältigung. All das hatte Monate zu.

Menschen brauchen Spiele. Wenn man ihnen diese Spiele nimmt, dann machen sie sich Spiele und zwar auf der Straße.

In den letzten Monaten wurden um ihren Alltag beraubte Menschen bestraft, weil sie am Ende waren, ihre Wohnungen verließen und manche Coronaregeln brachen. Mit abwertenden Zeigefingern wurden Mensch, denen das Wasser zum Hals stand, weil sie sich die Maßnahmen zur Bekämpfung von Corona nicht leisten konnten, von Leuten zurechtgewiesen, die sich in der Krise Wein leisten konnten.

Die Politik der Bekämpfung der Pandemie war und ist zutiefst unmenschlich. Mit jedem Aufruhr unzufriedener Lümmel wird diese Unmenschlichkeit deutlicher. Jeder Protest macht das soziale Gefälle deutlicher. Manch ein Stufenplan zur Bekämpfung des Coronavirus ist so wahnsinnig wie ein kommunistischer Fünf-Jahres-Plan der DDR.

Verantwortung lässt sich nicht verordnen. Wir müssen endlich wieder mehr Freiheit wagen. Und wir müssen aufhören uns auszugrenzen. Am Tag der Deutschen Einheit sollten wir wieder ein paar Mauern einreißen, die wir in den letzten Monaten hochgezogen haben. Wir sollten die Mauern zwischen Getesteten, Genesen, Geimpften und Ungeimpften einreißen und uns wieder als Gesunde begegnen.

Wir sind das Volk!

Wer kennt ihn nicht, Onkel Hartmut, mit dem man sich an Weihnachten gestritten hat, weil er eine Partei gewählt hat, die so gar nicht geht; oder Tante Rita, die auf homöopathische Mittel schwört und sich auf keinen Fall impfen lassen möchte; oder Lukas, der Sohn von Robert und Adelheid, der nun ihre Tochter ist und Larissa heißt und sich darüber beschwert, dass die Hochzeitseinladungen nicht genderneutral verfasst wurden; oder Emir aus dem Büro, der Erdoğan gewählt hat, obwohl er Homosexuell ist, also Emir, nicht Erdoğan; oder Nachbarin Frau Sugulle, die auf die Häuserwand „White silence = violence“ gesprüht hat oder Candace, die immer zum Stammtisch kommt und Donald Trump gut findet, obwohl sie eine PoC ist; oder Rüdiger, der Veganer ist und es Dich wissen lässt, während Du die Weihnachtsgans isst?

Die Pandemie hat uns entfremdet, besonders von unseren Onkeln, Tanten, Nichten, Neffen, Arbeitskollegen, Nachbarinnen und Vereinsmitglieder*innen, von eben jenen Menschen, mit denen wir uns gestritten haben, ihnen aber dabei in den Augen sehen konnten. Menschen, deren Meinungen wir nicht teilen, die unser Blut zum Kochen gebracht haben, haben wir in den letzten Monaten immer seltener getroffen. Wir haben sie abgeschoben und aus unserem Leben verbannt. Wir haben uns in Blasen und Echokammern eingemauert.

Millionen neue Mauern wurden errichtet und die körperliche Nähe zum Nächsten aufgehoben. Wir schauen uns nicht mehr ins Antlitz. Stattdessen fordern wir: „Sag mir, wo du stehst!“

Der Mensch ist dem Menschen ein Grenzsoldat geworden. Wir fragen nicht mehr: „Wie geht es Dir?“ Wir fragen: „Kann ich Deine Papiere sehen? Bist Du geimpft? Bist Du getestet?“

Die DDR hat versucht, wie viele andere Länder weltweit, die Menschen zu zwingen, gerecht zu sein. Das Projekt Sozialismus ist jedoch gescheitert. Heute versuchen viele Staaten, Menschen zu zwingen, gesund zu sein. Das Projekt Sanitarismus wird jedoch auch scheitern.

Heute wissen wir, dass die meisten Menschen füreinander Verantwortung füreinander übernehmen, wenn sie frei sind. Ein Sozialismus, der Mauern errichtet, ist nicht gerecht und ebensowenig ein Sanitarismus, der Mauern errichtet.

Der Mensch entfaltet sich am besten in der Freiheit.


Dieser Beitrag ist zuerst bei Tapfer im Nirgendwo erschienen.

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