Tichys Einblick
„Sprachpapst“ Wolf Schneider gestorben

Ein Jahrhundertleben und ein Jahrhundertjournalist

Deutschen „Sprachpapst“ nannte man ihn. Und als solcher gilt er wohl noch lange über 2022 hinaus. Er hat mit diesem Titel nicht kokettiert, aber er hat ihn auch nicht abgelehnt. Dazu war er sich denn doch seiner zu sicher und zu sehr von sich überzeugt, als dass er sich den Papsttitel verbeten hätte. Schließlich schwingt mit „Papst“ ja auch Dogmatik und Unfehlbarkeit mit. Ein Nachruf.

IMAGO/Müller-Staufenberg

In der Nacht zum 11. November im stolzen Alter von 97 Jahren und bis in seine letzten Jahre hochwach, ist Wolf Schneider in seinem Haus in Starnberg gestorben. Sein Leben steht für fast ein Jahrhundert deutscher Zeit-, Gesellschafts-, Medien- und Sprachgeschichte.

Erste Prägungen erfuhr der am 7. Mai 1925 in Erfurt geborene Wolf Schneider sicherlich durch seinen Vater Bruno Schneider, der Rechtsanwalt war und von 1924 bis 1928 für die Deutschnationale Volkspartei (DNVP) im Reichstag saß. Den Zweiten Weltkrieg erlebte und überlebte Schneider als Soldat der Luftwaffe. Nach Kriegsende war der gerade eben Zwanzigjährige Dolmetscher der US-Militärregierung. Ab 1947 folgten erste journalistische Tätigkeiten. Von 1950 bis 1956 war er Korrespondent der Nachrichtenagentur AP, dann Korrespondent der „Süddeutschen“ in Washington. Es folgten leitende Anstellungen beim „Stern“, ab 1971 bei „Springer“, zum Beispiel von 1973 bis 1974 als Chefredakteur der „Welt“. 1979 übernahm er – bis 1995 dort an der Spitze tätig – die Leitung der neu gegründeten Hamburger Journalistenschule, der späteren Henri-Nannen-Schule. Parallel dazu moderierte er von 1979 bis 1987 und von 1991 bis 1992 insgesamt 106mal die „NDR Talk Show“.

28 Sachbücher geschrieben und 27 Viertausender bestiegen

Schneider hinterlässt ein gigantisches Werk an 28 Sachbüchern. Wir nennen aus dem Bereich „Sprache“ nur ein paar: Wörter machen Leute (1976, 15. Auflage 2009), Deutsch für Profis (1982). Deutsch fürs Leben. Was die Schule zu lehren vergaß (1994, 24 Auflagen). Deutsch für Kenner (1996, 21. Auflage 2011). Gewönne doch der Konjunktiv! Sprachwitz in 66 Lektionen (2009).

Medienkritisch aufklärerisch wirkte Schneider – hoffentlich über den heutigen Tag hinaus – mit seinen Büchern Unsere tägliche Desinformation. Wie die Massenmedien uns in die Irre führen (1984, 5. Auflage 1992) und Wörter waschen – 26 gute Gründe, politischen Begriffen zu misstrauen (2006). Es sind dies Bücher, die sich so manche – auch hochdotierte Damen und Herren des Öffentlich-Rechtlichen Rundfunks – dauerhaft hinter den Spiegel stecken sollten.

Und dann gibt es da noch den Grübler, Nachdenker, Philosophen, Psychologen und Anthropologen Schneider, der als solcher quasi ein mahnendes Alterswerk hinterlassen hat – und zwar mit den Titeln: Die Sieger: wodurch Genies, Phantasten und Verbrecher berühmt geworden sind (1992). Große Verlierer. Von Goliath bis Gorbatschow (2004). Der Mensch. Eine Karriere (2008). Der Soldat – Ein Nachruf. Eine Weltgeschichte von Helden, Opfern und Bestien (2014). Denkt endlich an die Enkel. Eine letzte Warnung, bevor alles zu spät ist. Rowohlt Verlag (2019).

Es kommt seine Autobiographie hinzu: Hottentottenstottertrottel. Mein langes, wunderliches Leben (2015). Es ist dies die sehr authentische Beschreibung eines prallen Lebens eines Mannes, eines Herrn im herkömmlichen Sinn des Wortes, der als passionierter Bergsteiger nicht nur 27 Viertausender bezwang, sondern auch so ziemlich alle journalistischen Spitzenämter erklomm und Hunderte, ja Tausende von Journalisten prägte. Leider nicht mehr diejenigen, die heute als Haltungsschreiber Karriere machen. Der Titel der Autobiographie scheint erklärungsbedürftig, denn er hat nun rein gar nichts mit irgendwelchen rassistischen Anspielungen zu tun. Der Hintergrund ist ganz einfach. Der zehnjährige Schneider tendierte zum Stottern. Um dieses zu überwinden und um seinen Altersgenossen zu imponieren, erfand er das 29silbige Wort Hottentottenstottertrottelmutterattentäterlattengitterwetterkotterbeutelrattenfangprämie. Dieses ratterte er nach langem Training zur Verblüffung der Mitschüler, die solches nicht zustandebrachten, herunter. Und es war Schluss mit der Stotterei.

Schneider hat/hatte vier Kinder, darunter den Juristen und Rätselautor Curt Schneider (+62), der kaum fünf Wochen vor seines Vaters Tod am 7. Oktober 2022 bei einer Bergwanderung zu Tode kam.

Meine persönlichen Begegnungen mit Wolf Schneider

Erstmals lief mir Wolf Schneider in Buchform über den Weg. „Welch miserables Sprachbild, lieber Josef Kraus!“, würde er zu diesem Satz sagen. Stimmt! Es war das Buch “Wörter machen Leute“, das ich Anfang der 1980er Jahre am italienischen Adriastrand verschlang. Ja, nicht nur verschlang, sondern malträtierte: mit An- und Unterstreichungen, Randbemerkungen, Beifallsbekundungen. Es folgte wenig später die Lektüre der anderen Schneider’schen Bücher über Sprache. Ich war damals junger Studienrat unter anderem für das Fach Deutsch. Meine praktische Ausbildung lag noch nicht lange zurück und ich dachte mir: Was hast du alles an verquaster Fachdidaktik und Fachmethodik durchmachen müssen. Dabei hätte es doch gerade für einen Deutschlehrer gereicht, die Schneider-Bücher zur Pflichtlektüre für angehende Deutschlehrer zu machen.

Persönlich begegnet sind wir uns, Schneider und ich, erst viel später. Der Vorsitzende des Vereins Deutsche Sprache (VDS), TE-Gastautor Walter Krämer, startete 2005 mit einem entschlossenen Quartett eine Initiative gegen die überbordende Anglizismen-Flut. Mit an Bord waren neben Krämer, dem vormaligen deutschen Botschafter in Finnland und Literaturprofessor Cornelius Sommer (+2011) eben Wolf Schneider und ich. 50 Monate lang spießten wir mit Hilfe von dpa und unter Beteiligung von bis zu 60 Zeitungen monatlich je drei Anglizismen auf, um von den Lesern kreative deutsche Übersetzungsvorschläge einzusammeln. Allein für „brainstorming“ bekamen wir über zehntausend Eindeutschungsvorschläge. All die Vorschläge diskutierten wir vier, um uns dann – wiederum öffentlich – für einen Vorschlag zu entscheiden. Da war es nicht immer leicht, sich im Quartett zu einigen. Hier nur so viel: Meistens setzte sich Schneider durch. Harald Schmidt hatte ihn ja eines Tages nicht ganz zu Unrecht als „Sprachoffizier“ betitelt. Veröffentlicht haben wir unsere Erfahrungen und Vorschläge 2010 in dem Bändchen „Deutsch lebt! Ein Appell zum Aufwachen“.

Gemeinsam gestritten haben wir auch gegen die Rechtschreibreform, die Schneider ablehnte und die für mich ein „Kniefall vor der fortschreitenden Legasthenisierung“ war. Gemeinsam gestritten haben wir gegen die Gender-Sprache. Schneider pflegt eine wahrlich „kriegerisches Verhältnis“ zu diesem Unfug.

Nun fehlt er. Aber er wirkt – hoffentlich – mit seinen Büchern fort. Mir bleiben die Erinnerungen an viele Debatten mit ihm und vor allem mein letzter Besuch bei ihm in Starnberg, als er mir seine Autobiographie mit dem Eintrag widmete: „Dem alten Weggefährten mit Dank und Respekt – Wolf Schneider“.

Anzeige