Tichys Einblick
Divide et impera:

Die süchtig machende Spaltung der Gesellschaft

Bereits seit Jahren treten Polarisierung und Spaltung der Gesellschaft an die Stelle eines respektvollen Dissens. Jede Spaltung bietet dabei auch immer wieder die Gelegenheit, kurzfristig soziale Akzeptanz zu erfahren, doch tragen wir damit zur Zerstörung wahrhaftiger Gemeinschaft bei.

David Boos via Midjourney AI
Es gab eine Zeit, sie liegt noch nicht so lange zurück, da blickten Europäer nicht ohne Hochmut auf die amerikanische Demokratie. Das dortige Zweiparteiensystem erschien uns beschränkt, die Auswahl zwischen Demokraten und Republikanern wirkte wie wenig mehr als zwei unterschiedliche Geschmacksrichtungen ein und derselben Speise.

Dem gegenüber lobten wir uns die Pluralität europäischer Demokratien. Gewiss, extrem rechte Parteien wie die NPD standen schon damals außerhalb des gesellschaftlichen Konsens, aber zu den Klassikern der Sozialdemokratie und den Christdemokraten gesellten sich mit Grünen, Linken und marktliberalen Parteien wie der FDP politische Alternativen, die damals auch tatsächlich noch als solche wahrgenommen wurden.

Diese Vielfalt – so eingeschränkt sie in der Realität auch gewesen sein mag – war dennoch Ausdruck einer pluralistischen Debattenkultur, in der die Teilnehmer am demokratischen Prozess akzeptierten, dass andere Meinungen nicht nur existierten, aber ebenso, dass es Schattierungen gab, sich manchmal andere Meinungen durchsetzten und man auch damit leben musste. Das fälschlicherweise Voltaire zugeschriebene Zitat „Ich missbillige, was sie sagen, aber ich werde ihr Recht verteidigen, es zu sagen“ wurde zum Sinnbild des Demokratieverständnisses jener Epoche. In der (eingeschränkten) Verschiedenheit der Meinungen bildete die Gesellschaft dennoch eine Art Einheit.

Die Atomisierung der Gesellschaft

Aber die Zeiten änderten sich. Das vielbeschworene „Overton-Fenster“ verschob sich nach links und damit einhergehend die Warnungen des Mainstreams vor „rechts“. Schattierungen verschwanden zugunsten einer Schwarz-weiß-Dichotomie, in der die Welt zunächst einmal in linke und rechte Lager geteilt wurde. Wer dabei aus dem akzeptierten Konsens eines dieser Lager fiel, wurde automatisch dem anderen zugewiesen. Für Schattierungen, die einst noch als Stärke verstanden wurden, war nun kein Platz mehr, der verhassteste Mitbürger war nun der Zentrist, der sich keinem der beiden Lager anschließen wollte.

Doch gerade als die Gesellschaft einen Punkt erreichte, an dem sich ein Verständnis ausbreitete, dass das Denken in überkommenen Kategorien wie „links“ und „rechts“ schon längst nicht mehr dazu ausreichte, die Realitäten und Herausforderungen der Gegenwart adäquat abzubilden, wurde, anstatt diese Spaltung in Lager zu überwinden, der Spaltungsprozess fast schon generalstabsmäßig weiterentwickelt.

Denn während noch die Migrationsdebatte die Lager entlang der Links-rechts-Grenze spaltete und selbst wirtschaftliche oder energiepolitische Fragen lange Zeit innerhalb dieser Grenzen funktionierten, so wirbelte spätestens Corona all dies durcheinander. Plötzlich ging ein Riss durch die Gesellschaft, der diesmal auch quer durch die Lager ging. Konservative und andere Rechte zerstritten sich nun, wo sie einst eine zumindest halbwegs vereinte Front darstellten. Freundschaften wurden aufgekündigt, ehemals Gleichgesinnte verstoßen. Die Fragmentierung der Gesellschaft hatte eine neue Stufe erreicht.

Es entstand aber keine neue Pluralität, sondern eine Atomisierung, die die Menschen anhand der jeweils vorherrschenden Dogmen von gut und böse einteilte. Das eröffnete nun auch Konservativen in manchen Dingen, einmal dazuzugehören, so wie manche Progressive mit einem Schlag erkannten, wie schnell man außerhalb des sozial akzeptablen Konsens der Gesellschaft landen kann.

Auf der Suche nach dem nächsten „current thing“

Bestes Teilen und Herrschen also. Wo einst noch eine breite Rechte ihre Einstufung als prinzipiell abzulehnende gesellschaftliche Kraft bekämpfen konnte, wurde diese Fähigkeit durch die Teilung erheblich geschwächt. Plötzlich wurde der Status als Ungeimpfter zum geheimen Handschlag über die alten Grenzen von links/rechts hinweg, aber die damit einhergehenden Probleme wurden schnell offensichtlich, wenn sich die Frage stellte, wie ein katholischer Reaktionär mit monarchistischen Tendenzen mit einem esoterisch angehauchten Alt-Kommunisten auf einen gesellschaftspolitisch grünen Zweig kommen sollte, nur weil beide nicht geimpft waren.

Aber Gräben können überwunden werden und Menschen vergessen schneller, als man denkt. Nicht nur Politiker und Medien, alle. Damit also keine Zeit zum Nachdenken bleibt, musste der Prozess der Spaltung fortgesetzt werden. Das hinlänglich als „current thing“ („gegenwärtiges Ding“) bekannte Phänomen des alles dominierenden Themas erwies sich als probates Mittel, um die gesellschaftliche Aufmerksamkeit – und mit ihr die Spaltung – effektiv zu lenken.

Der Klimawandel steht dafür zwar schon seit langem in den Startlöchern, ist aber aufgrund gegenläufiger Lebensrealitäten (Rekordhitze in den Nachrichten, während den Bauern die Ernte absäuft) nicht so gut dazu geeignet, die Menschen zu solch einer Polarisierung zu bewegen. Diese Einschätzung teilen ja mittlerweile sogar WEF-Granden wie Mariana Mazzucato. Davon abgesehen, verläuft die Grenze zwischen Befürwortern und „Leugnern“ der Klimahysterie klassischer entlang der Linien von links/rechts als andere Themenbereiche, die zur Spaltung in neue Kategorien besser geeignet sind.

Der Konflikt in der Ukraine, hingegen, brachte alles dazu Nötige mit sich. Erkennbar sind solche Wandel des „current thing“ auch immer an der blitzschnellen Reaktion von Politik und Medien, die ansonsten gerne äußerst träge auf bestimmte Geschehnisse reagieren. Im Fall der Ukraine war von einem Tag auf den anderen klar, wo die jeweiligen Lager standen und wie man sich zu positionieren hatte, wenn man sozial akzeptiert werden wollte.

Rückzug in eigene Filterblasen anstelle von Diskurs

Wiederum ging ein Riss durch die Gesellschaft, wiederum auch durch die Rechte. Transatlantiker und Putinversteher standen einander gegenüber und entfreundeten in einem Tempo, als hinge davon die Zukunft der Krim ab. Der Riss war aber komplexer als noch bei Corona, denn wo das Virus die Welt binär in Geimpfte und Ungeimpfte einteilte, eine Einteilung, der man sich nicht einmal durch Untat oder Desinteresse entziehen konnte, so brachte der Ukraine-Konflikt auch wieder die dritte Kategorie, die der Unentschlossenen oder Souveränisten, zum Vorschein, die sich dadurch auszeichneten, dass sie von beiden Hauptlagern verabscheut wurden.

In eigenen Echoblasen wurden die wildesten Tiraden geschwungen, nur um außerhalb der Echoblasen dann in Schweigen zu verfallen. Die eigene Bereitschaft auszuschließen wurde vielerorts zur unausgesprochenen Erwartung eines Bumerangs: „Wenn ich so über die denke, wie müssen die dann über mich denken?“ Anstelle eines Diskurses über Lagergrenzen hinweg zogen sich die Streithähne in ihre Lager zurück und verblieben unter Gleichgesinnten.

Gerade am Beispiel des Ukraine-Konflikts erkennt man eindeutig mehrere Diskrepanzen. Während beide Lager der Unterstützer zutiefst überzeugt waren von der Rechtmäßigkeit „ihres“ Kampfes, so stand diese Eindeutigkeit der Wahrnehmung in einem krassen Gegensatz zur Komplexität der Geschichte dieses Konflikts. Während eine Seite kategorisch die Invasion 2022 zum Auslöser des Konflikts erklärte, verwies die andere Seite auf den Maidan 2014. Beides ist wahr, beides ist aber nicht die ganze Wahrheit. Um diese zu erforschen, müsste viel Geschichtliches aufgearbeitet werden, das zu tun aber kaum jemand bereit ist, da es letztlich an der Sache nichts ändert: Eine Situation hat sich über Jahre und Jahrzehnte aufgeschaukelt und wird nun mit Waffengewalt offen ausgetragen. Jetzt ist er halt da, der Krieg.

Eine weitere Diskrepanz liegt bis heute in der Einschätzung der Tragweite dieses Konflikts. Ist es nun ein relativ lokaler Konflikt unter Ostslawen? Oder ist es der Endkampf zwischen dem freien Westen und dem Imperium von Putler? Oder ist es doch der Kampf des orthodoxen Christentums gegen die Dekadenz des Westens? Schickt Deutschland nur ein paar Helme, oder fliegen uns doch gleich die Atombomben um die Ohren? Vor allem die nukleare Bedrohung erfüllt ihren Zweck äußerst gut und lässt die Menschen regelmäßig vor dem Ende der Welt erzittern. Nun, da auch die Ukraine ihren Status als „current thing“ endgültig zu verlieren scheint, könnte auch dieser Konflikt ohne solch einen Super-GAU zu Ende gehen. Das ist zumindest positiv.

Komplexe Sachverhalte eignen sich besonders zur Spaltung

Die Frage nach dem Urheber des Konflikts demonstriert eindrücklich, dass vor allem komplexe Sachverhalte enormes Potenzial dazu haben, die Gemüter zu erhitzen und die Gesellschaft zu spalten. Corona mag retrospektiv als eine eindeutige Angelegenheit erscheinen, doch entwickelte sich ein Großteil der Spaltung bereits zu einem frühen Zeitpunkt, als die Schwere der Krankheit und das Potenzial (bzw. die Gefahr) der Impfstoffe noch nicht bekannt war. Entsprechende mediale Beschallung führte dann dazu, dass man sich – nach einmal gewähltem Lager – auch in dieser Meinung festbiss, ein natürlicher menschlicher Reflex, da das Eingeständnis eines Fehlers gerade in solch gravierenden Situationen schwerfällt.

Der Konflikt in der Ukraine war dafür ebenso ideal, denn auch wenn jede Seite täglich die totale moralische Überlegenheit beanspruchte, so erschienen regelmäßig Berichte, die oft das Gegenteil belegten. Einmal verrannt in einer einfachen Position, war auch hier der Rückweg in die Reflexion oft abgeschnitten und viele suchten ihr Heil in der argumentativen Flucht nach vorne.

Eben an diesem Zwiespalt fehlte es aber zum Beispiel der armenischen Bevölkerung Berg-Karabachs, die nach einem schnellen Militärschlag Aserbaidschans erst kürzlich aus ihrer Heimat vertrieben wurde. Reaktionen von Politik und Medien waren schon aufgrund der energiepolitischen Abhängigkeit von Aserbaidschan verhalten, aber der Mangel an moralischer Ambivalenz offenbarte auch die Sinnlosigkeit unserer Empörungskultur. Wo Spaltung ist, da liegt mit dem ehemaligen Freund ein moralisch zu bekämpfender Feind vor der Nase. Wo es sie nicht gibt, wird uns unsere Machtlosigkeit gegenüber dem Unrecht in der Ferne nur umso deutlicher vor Augen geführt.

Die Lust an der Spaltung

Nun also der Konflikt in Israel. Die Mutter komplexer Konflikte. Alleine schon mit dieser Feststellung macht man sich bereits bei Anhängern beider Parteien verdächtig. Die Unterstützung einer der beiden Parteien aber resultiert häufig nur aus einer vermeintlichen moralischen Verpflichtung denn aus wirklicher Kenntnis der historischen, religiösen und politischen Vorgeschichte dieses Konflikts. Es ist eine Einschätzung, die in ihrer vollständigen Tragweite womöglich nur von einer Handvoll Menschen weltweit getätigt werden kann, die aber mit einem Schlag von uns allen verlangt wird. Wieder werden Freundschaften aufgekündigt, wenn Menschen sich nicht schnell und dezidiert genug zu einer Sache bekennen, oder sich von einer anderen distanzieren.

Die Lust an der Spaltung ist wieder da. Wir sind süchtig geworden nach ihr, denn jede Spaltung gibt uns die Chance der momentanen Zugehörigkeit. „Bei Corona lag ich falsch, das mit der Ukraine hab ich nie kapiert, aber jetzt bei Israel liege ich richtig.“ Es ist schön, dazuzugehören. Oder wie Volker Pispers es früher mal sagte: „Wenn der Feind bekannt ist, hat der Tag Struktur.“

Doch niemand zeigt vehementer auf die schwarzen Schafe als derjenige, der bis vor kurzem selber noch eins war und sich nun von diesem Status distanzieren möchte. Diese Gemeinschaften sind aber nicht real, im Gegenteil, wir vergessen dadurch, was Gemeinschaft bedeutet. Von Spaltungsmoment zu Spaltungsmoment hangeln wir uns durch unser Leben, atomisiert und entfremdet, ohne Loyalität zu unseren Nächsten, immer nur auf der Suche nach der kurzen Bestätigung unserer momentanen Rechtschaffenheit.

Loyalität beginnt dort, wo sie uns etwas abverlangt. Zum Beispiel die Akzeptanz eines Andersdenkenden. Lassen wir uns nach Jahren des Außenseitertums nicht von einfach Siegen blenden und damit zu dem werden, was wir jahrelang bekämpft haben: Schafe, NPCs, die nur darauf warten, dass der Hirtenhund uns vor dem vermeintlichen Wolf warnt und wieder in eine Richtung treibt. Und sei es Richtung Schlachthof.

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