Tichys Einblick
Selbstbestimmungsgesetz im Parlament:

Ich fühle, also bin ich

Den Allermeisten wird es nicht klar sein, aber am Mittwoch hat der Bundestag die wichtigste Debatte seit Jahren gesehen. Nur vordergründig geht es darum, wie leicht jemand künftig das Geschlecht wechseln kann. In Wahrheit geht es darum, ob es eine Wirklichkeit jenseits der Wünsche gibt.

IMAGO - Collage: TE
„Den Höhepunkt des Wahnsinns“ nennt es die AfD, „einen wirklich historischen Tag“ nennen es die Grünen. Am Ende zeigt sich: Es stimmt beides. Selten gibt es solche Tumulte im Deutschen Bundestag wie bei der Ersten Lesung des sogenannten „Selbstbestimmungsgesetzes“ (SBGG). Und selten stehen sich Befürworter und Kritiker eines Rechtstextes so unversöhnlich gegenüber wie an diesem Abend. Das kommt nicht von ungefähr: Denn tatsächlich prallen hier Weltbilder aufeinander, die schlicht nicht miteinander zu vereinbaren sind.

Der Streit an diesem Abend bildet den grundlegenden gesellschaftlichen Konflikt ab, der gerade dabei ist, Deutschland als Gemeinwesen zu zerreißen.

Auf einer anderen Ebene offenbart die Debatte zunächst auch die Qualität unseres aktuellen politischen Personals. Fangen wir ganz unten an: „Mit der Kraft des guten Arguments lassen sich die Vorbehalte entkräften, die manche noch gegen das Selbstbestimmungsgesetz hegen.“ Diesen rhetorisch suboptimalen und intellektuell vakuumierten Ansatz wählt Bundesjustizminister Marco Buschmann, und damit ist über die FDP auch schon alles gesagt.

Die Union schickt ihre stellvertretende Fraktionsvorsitzende Dorothee Bär (CSU) ans Pult. Das erweist sich als Fehler. Bär traut sich einfach nicht ins intellektuell tiefere Wasser und bleibt bei technisch-handwerklicher Kritik am SBGG: Kinder und Jugendliche müssten besser geschützt werden und nicht, wie im Gesetzentwurf vorgesehen, ohne Beratungs- oder Begutachtungspflicht schon ab 14 Jahren selbst über ihren Geschlechtseintrag bestimmen können.

Die grandiose Gelegenheit, die riesigen fundamentalen Unterschiede zwischen der Union und der Ampel im Menschenbild, im Staatsverständnis und beim Freiheitsbegriff auf den Tisch zu legen, lässt Frau Bär ungenutzt. So bleibt es der AfD vorbehalten, mit der Übermacht der SBGG-Befürworter in den Nahkampf um Werte zu gehen.

„Die Würde des Menschen ist der Kern des Rechtsstaats“, gibt die grüne Bundesfamilienministerin Lisa Paus die offen moralisierende Argumentationslinie der Ampel vor. „Wer wir sind und wie wir leben möchten, das entscheiden wir selbst. Das kann und darf niemand von außen bestimmen.“

Allerdings geht es in dem Gesetz nur höchstens zur Hälfte darum, dass eine Minderheit der Menschen sich selbst sehen darf, wie sie möchte. Vor allem geht es darum, dass diese Minderheit allen anderen vorschreiben will, wie die Mehrheit die Minderheit sehen darf – und sogar, wie die Mehrheit über die Minderheit reden darf.

In diese Wunde legt die stellvertretende AfD-Fraktionsvorsitzende Beatrix von Storch den Finger. Grünen-MdB Tessa Ganserer – ein Mann bei Geburt, heute eine Frau – wird von ihr mehrfach mit dem früheren männlichen Vornamen angesprochen. Dafür könnte Frau von Storch nach dem SBGG künftig mit bis zu 10.000 Euro Bußgeld bestraft werden. Jetzt im Parlament fängt sich die AfD-Abgeordnete nur zwei Ordnungsrufe – dabei bleibt einstweilen unklar, auf welcher Rechtsgrundlage Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) die eigentlich ausspricht, denn das SBGG gilt ja noch gar nicht.

Hinter dem Gesetz steht die Idee, dass man sich die Wirklichkeit zurechtbasteln kann, wie es einem gerade gefällt. Aber kein Sprechakt beim Standesamt kann die Chromosomenstruktur eines Menschen verändern – und die allein bestimmt biologisch, ob man männlich oder weiblich ist. Man muss zwischen dem biologischen Geschlecht und der psychologischen Geschlechtsidentität unterscheiden, sagt der Sexualmediziner Alexander Korte. Natürlich kann man sich als alles Mögliche fühlen, das kann einem auch niemand verbieten.

Was man subjektiv fühlt und was man objektiv ist: Das ist mitunter aber eben einfach nicht dasselbe.

Interessanterweise stellt sich die Trans-Lobby gegen ein marxistisches Grundgesetz: dass nämlich das Sein das Bewusstsein bestimmt. Im Gedankengebäude hinter dem SBGG ist es genau umgekehrt: Das Bewusstsein definiert hier das Sein, also die Realität. Es gibt keine Wirklichkeit außerhalb meiner Wünsche oder Träume. Ich fühle, also bin ich.

Zu allem Überfluss setzt diese Idee auch noch voraus, dass die Persönlichkeit eines Menschen und sein Körper miteinander nichts zu tun haben. Das Konzept kennt man aus der buddhistischen Seelenwanderungslehre. „Ich bin im falschen Körper“ geht ja nur, wenn „ich“ und der „Körper“ strikt voneinander unabhängig existieren. Ob sich die Trans-Lobbyisten darüber wirklich im Klaren sind?

Beim SBGG geht es nicht um Menschenwürde, Toleranz oder Minderheitenschutz. Es geht um die Durchsetzung eines Glaubenssatzes: dass das eigene Gefühl – oder auch der eigene Wunsch – die einzige Wirklichkeit ist, die zählt.

Das ist keine konstruierte Wirklichkeit mehr – weil ja die Elemente, aus der die Wirklichkeit besteht, abgelehnt werden: in der Trans-Frage der menschliche Körper, also die Biologie; aber auch zum Beispiel bei der Energieerzeugung die Grenzen von Sonne und Wind bei Dunkelheit und Flaute, also die Physik. Und die Liste lässt sich endlos fortführen.

Tatsächlich wird hier keine Wirklichkeit konstruiert (neu zusammengesetzt), sondern kreiert (neu erschaffen). Lustigerweise sind die Vorkämpfer des grün-linken Zeitgeistes – mit ihnen die Trans-Lobbyisten – also eigentlich Kreationisten.

Das Entscheidende ist aber gar nicht, welches Weltbild diese Menschen selbst haben. Wenn man freiheitlich denkt, wird man das hinnehmen – auch wenn man es keineswegs für fortschrittlich und modern hält, sondern im Gegenteil für rückschrittlichen Aberglauben. Doch entscheidend ist, dass diese Menschen allen anderen ihre voraufgeklärte Weltsicht aufzwingen wollen.

Ja, es war ein historischer Tag im Bundestag – weil es der Höhepunkt des Wahnsinns war, den das deutsche Parlament seit Gründung der Bundesrepublik gesehen hat.

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