Tichys Einblick
Repressionen gegen Schüler kein Einzelfall

Von Lehrern eingeschüchtert und denunziert: „Wie soll sich die Gemeinschaft Dir gegenüber verhalten?“

Eine Schülerin wird aus dem Unterricht abgeführt, weil sie ein Schlumpf-Video postet und Deutschland als Heimat bezeichnet. Aber das ist kein Einzelfall: Schon während der Corona-Zeit haben Schulen Kinder und Jugendliche auf vergleichbare Weise eingeschüchtert, wie unsere TE-Kollegin Charlotte Kirchhof selbst erfahren hat.

Symbolbild

IMAGO
Ein 16-jähriges Mädchen sitzt nichtsahnend im Chemie-Unterricht, als drei Polizisten den Klassenraum betreten und sie ins Lehrerzimmer begleiten, um dort eine „Gefährderansprache“ durchzuführen. Sie bitten das Mädchen, in Zukunft keine Schlumpf-Videos mehr auf TikTok zu verbreiten und nicht mehr zu posten, dass Deutschland für sie Heimat sei. Eine rechtliche Grundlage dafür gibt es nicht. Das erinnert mich, Charlotte Kirchhof, an Erfahrungen aus meiner eigenen Schulzeit. In Zeiten der Corona-Pandemie hat meine Schule mich mit vergleichbaren Maßnahmen eingeschüchtert und denunziert.

Wie das Mädchen aus Mecklenburg-Vorpommern sitze ich als 16-Jährige nichtsahnend im Klassenraum und packe meine Schulsachen aus, als es an der Tür klopft. Bei mir steht nicht die Polizei in der Tür – zum Glück. Dafür aber mein Schulleiter höchstpersönlich: „Ist Charlotte Kirchhof da?“, fragt er meine Spanisch-Lehrerin. Die ganze Klasse guckt mich verdutzt an. Ich ahne bereits, worum es geht: Schließlich bin ich am Tag davor nicht zur Schule, sondern auf eine Demonstration gegangen. Ich habe dagegen demonstriert, dass die Bundesregierung an diesem Tag das Infektionsschutzgesetz verändert und somit einige Grundrechte, beispielsweise die Versammlungsfreiheit, eingeschränkt hat. Dass ich auf dieser Veranstaltung in Berlin war, hat sich in meiner Schule, einem Gymnasium in der Nähe von Hamburg, schnell herumgesprochen und ist offenbar bis zum Schulleiter vorgedrungen.

Dieser fordert mich vor dem gesamten Kurs auf, ihn in sein Büro für ein „kleines Gespräch“ zu begleiten. Mit allen Augen auf mich gerichtet, stehe ich auf und folge ihm. Während wir zu zweit die Schulflure entlang und an neugierig guckenden Schülern vorbeigehen, versucht er die unangenehme Stille mit belanglosem Smalltalk zu brechen: Der Weg ins Lehrerzimmer hat sich nie länger angefühlt – offenbar nicht nur für mich. Als wir sein Büro betreten, wartet dort schon die stellvertretende Schulleiterin auf uns.

Mein Schulleiter eilt hektisch zum Fenster, öffnet es und bittet mich, vor dem offenen Fenster Platz zu nehmen. Im November wohlbemerkt. Dann beginnt das Verhör: Er und seine Vertreterin fragen mich, wo ich mich am Tag zuvor aufgehalten habe, da ich schließlich nicht in der Schule war. Ich antworte ihnen, dass ich in Berlin auf einer Demonstration war, denn mir war klar, dass sie aus diesem Grund mit mir reden wollen. Daraufhin dreht der Schulleiter seinen Computerbildschirm in meine Richtung. Er hatte das Gespräch mit mir schon entsprechend vorbereitet: Auf dem Bildschirm ist eine Momentaufnahme der Demonstration zu sehen, auf der eine Menschenmasse eng zusammensteht und keiner der abgebildeten Personen Maske trägt. „Was denkst du, was solche Bilder in den Köpfen Deiner Mitschüler bewirken, vor allem, wenn sie wissen, dass eine Person aus der Schule Teil dieses Pulks war“, fragt mich der Schulleiter mit strengem Blick. Ohne aber auf eine Antwort zu warten, reden er und seine Stellvertreterin auf mich ein, was für ein „rücksichtsloses Verhalten“ das von mir gewesen sei. Die stellvertretende Schulleiterin fragt: „Wie stellst Du Dir vor, wie sich die gesamte Schulgemeinschaft, die sich so vorbildlich an die Maßnahmen hält, nun Dir gegenüber verhalten soll?“. Außerdem betonen sie, ich hätte die Schulpflicht verletzt.

Nach dieser minutenlangen Predigt darf ich endlich etwas sagen und erkläre den Schulleitern, dass ich mich in einem anderen Bereich als dem auf dem Bild aufhielt; dass ich den geforderten Abstand einhielt, um zu verhindern, dass die Polizei die Demonstration auflöst; und dass ich demonstrieren ging, weil ich unsere Freiheit und unsere Grundrechte auch während einer Pandemie behalten möchte. Und ja, ich habe die Schulpflicht verletzt – genauso wie hunderte Schüler meines Gymnasiums an vielen Freitagen für Demonstrationen von Fridays For Future. Diese Demonstrationen hat meine Schule damals vollumfänglich unterstützt. Aber auf eine Demonstration für Grundrechte zu gehen, sollte für mich Konsequenzen haben, die einer Bestrafung nahekamen.

Das Maßnahmenpaket meiner Schule sah vor, dass ich selbstständig zu allen Schülern und Lehrern Abstand halten und mich isolieren sollte. Zudem sollte ich „ununterbrochen und vollständig“ meinen Mund sowie meine Nase bedecken und mich somit „verantwortungsbewusst“ verhalten. An diese Regelungen hatte ich mich eine Woche lang zu halten – auch wenn ich eine andere Inkubationszeit im Kopf hatte. Die Schulleiter bezeichneten ihre Regeln logischerweise nicht als „Strafe“, sondern begründeten sie damit, dass „das Bild aus den Medien nun mal in den Köpfen der Schulgemeinschaft ist und deshalb viele Angst um ihre Gesundheit und die ihrer Familien haben“. Dass ich kein Teil des Pulks auf dem Bild war, war ihnen also egal.

Irgendwann in diesem Verhör konnte ich meine Tränen nicht mehr zurückhalten. Es hat sich schrecklich angefühlt, von zwei erwachsenen, autoritär auftretenden Menschen in dieser Form gemaßregelt zu werden. Und ich war ganz allein: Die Schulleiter haben mir nicht die Möglichkeit gegeben, meine Eltern oder eine Freundin mit zu diesem Gespräch zu nehmen, genauso wie das Mädchen aus Mecklenburg-Vorpommern alleine mit den drei Polizisten und dem Schulleiter sprechen musste. Nach dem Gespräch kehrte ich in meinen Klassenraum zurück, weinend und zitternd. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich mich hochgradig denunziert gefühlt. Und eingeschüchtert.

Aber damit war noch nicht genug: Am nächsten Tag im Biologie-Unterricht verlässt mein Lehrer den Raum, um Noten zu besprechen. Darum setze ich meine Maske für einen Moment ab, um nach sieben Stunden endlich durchatmen zu können. Kurz darauf betritt mein Lehrer wieder den Raum, kommt auf mich zu und droht mir vor der ganzen Klasse in einem Ton, den ich noch nie zuvor von ihm gehört habe: „Wenn Sie noch einmal Ihre Maske absetzen, werde ich persönlich dafür sorgen, dass Sie nach Hause geschickt werden!“

Am nächsten Tag wurde dann auch noch meine letzte Hoffnung enttäuscht – oder eher zerrissen: Ich hoffte, dass die Situation in dem Fach „Darstellendes Spiel“ entspannter sein würde, weil die Lehrerin dieses Fachs eigentlich für Offenheit steht und gerne den Text „Aufklärung“ von Immanuel Kant thematisiert. Darin schreibt Kant, man solle den Mut haben, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Er fordert in diesem Text zum eigenständigen und kritischen Denken auf. Aber, diesem Text zum Trotz, war auch diese Lehrerin nicht auf meiner Seite – im Gegenteil.

Im Unterricht ruft sie meine Gruppe, mit der ich eine lang erprobte Szene vorstellen sollte, zusammen und verbietet mir, mit den anderen aufzutreten. Meine Gruppenteilnehmer und ich protestieren und bitten sie, meinen Text wenigstens aus dem Off sprechen zu dürfen – mit genügend Abstand. Sie verneint stumpf: Egal mit wie viel Abstand, ich durfte nicht an der Gruppenarbeit teilnehmen. Das war keine der Regeln der Schulleiter. Diese Maßnahme hat sich meine Lehrerin selbst ausgedacht. Ich erkannte diese Situation als Strafe und nicht als „Sicherheitsvorkehrung“. Meine Gruppe sollte das Stück trotzdem vorstellen und dafür benotet werden. Sie hatten gnädige zehn Minuten Zeit, um ein Stück umzuplanen, in dem ich eigentlich die Hauptrolle spielte. Das fühlte sich für mich so an, als wollte die Lehrerin meine Mitschüler zusätzlich gegen mich aufhetzen. Weil ich auf einer mißliebigen Demonstration war, gefährde ich nicht nur deren Gesundheit, sondern versaue ihnen auch noch ihre Noten.

Ich hielt es nicht länger aus: Ich fühlte mich so sehr ausgeschlossen und denunziert, dass ich mich entschloss, mich so nicht weiter behandeln zu lassen. In vielen Unterrichtseinheiten saß ich inzwischen die ganze Schulstunde unter dem weit geöffneten Fenster, viele meiner Freunde schnitten oder ignorierten mich aus Angst, als könnte ich sie mit der Pest anstecken. Und die Lehrer behielten mich dauerhaft im Auge, um sicherzugehen, dass ich keine Sekunde lang meine Maske abnehme oder meinen Mitschülern zu nahekomme. Also ging ich zu meinem Schulleiter, schilderte ihm meine Situation und sagte ihm, dass ich es unglaublich finde, wie erwachsene Pädagogen mich behandeln. Anschließend bat ich meine Mutter, mich bis zu dem Tag, an dem die Regelungen enden sollten, von der Schule abzumelden.

Die Erfahrungen aus dieser Schulwoche voller bestrafender Maßnahmen haben mich geprägt. Ich denke oft daran zurück. Die Lehrer und Schulleiter hingegen scheinen das Geschehene vergessen oder verdrängt zu haben: Sie haben sich bis heute nicht bei mir entschuldigt. Wahrscheinlich haben sie gar nicht gemerkt, was ihre Regeln in mir ausgelöst haben. Wahrscheinlich finden sie ihr Verhalten bis heute „verhältnismäßig“: So „verhältnismäßig“, wie Christan Pegel (SPD) das Verhalten des Schulleiters Jan-Dirk Zimmermann und der Polizisten im Fall des 16-jährigen Mädchens aus Mecklenburg-Vorpommern findet: Denn die Beamten würden dem Mädchen ja keine Handschellen angelegt, sie nicht festgenommen und sie nicht böse angesprochen haben, sagt der Innenminister von Mecklenburg-Vorpommern. Sie wurde halt nur von drei Beamten aus dem Unterricht abgeführt – vor ihren Mitschülern und Lehrern.

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