Tichys Einblick
Eine alte Diskussion

Russland und der Westen

Die Streitfrage „Gehört Russland zu Europa?“ wird seit 200 Jahren nicht nur in Russland diskutiert, sondern auch, zeitweise sogar hauptsächlich, unter Russen im Ausland, die im politischen Exil leben.

IMAGO / agefotostock

„Die Ukraine ist ein fester Teil Europas“, erklärte am 10. Mai 2022 die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock in Kiew. Im Umkehrschluss heißt das: Russland gehört nicht zu Europa. Oder: nicht mehr? Die Zugehörigkeit Russlands zum „gemeinsamen Haus Europa“ – die Formel prägte 1985 der sowjetische Generalsekretär und spätere Präsident Michail Gorbatschow – ist seit zwei Jahrhunderten strittig.

„Russland ist ein europäischer Staat“

Am Anfang des modernen Russland war Peter der Große (1694–1725): Er ließ den Bojaren (Adeligen) die Bärte abschneiden, führte (west)europäische Kleidung ein und verlegte die Hauptstadt aus den Holzbauten Moskaus in eine steinerne Neugründung, Sankt Petersburg, als „Fenster zum Westen“. „Man kann sagen“, urteilte 1929 der russische Kulturhistoriker Alexander Koyre (1892–1964) im französischen Exil, „dass die gesamte Geistesgeschichte des modernen Russland im Wesentlichen durch ein Faktum bestimmt ist, nämlich dem Kontakt und Gegensatz Russlands zum Westen.“

„Russland ist ein europäischer Staat“, schrieb 1767 Katharina die Große – übrigens auf Französisch (La Russie est une puissance européenne), der damals international führenden Sprache. Daraus folgte politisch, das Land zu „europäisieren“, konkret: den Rückstand in Bildung, Wissenschaft und Technik gegenüber (West)Europa aufzuholen. Zu dieser Europäisierung bildete sich im 19. Jahrhundert aber eine politisch-kulturelle Gegenbewegung aus, deren Grundsatz lautete: „Russland ist anders als der (dekadente) Westen“.

„Russland hat einen eigenen Charakter“

Russland besiegte 1812 das Heer des französischen Kaisers Napoleons, das Moskau erobert hatte, und vertrieb es aus dem Land; 1814 marschierten russische Truppen in Paris ein. Russland wurde zu einer europäischen Führungsmacht und verstand sich unter Zar Nikolaus I. (1825–1855) als Hüter der alten, vorkonstitutionellen Ordnung: „Für Glauben, Zar und Vaterland“ lautete die Devise. Der Unterrichtsminister des Zaren, Sergei Ouvarov, prägte dafür 1832 die – bis zum Ende der russischen Monarchie (1917) gültige – ideologische Formel: „Orthodoxie, Autokratie und (russische) Nationalität“. Von diesen drei „Staatsprinzipien“ ist nur die Nationalität eine allgemein europäische Idee (über nationale Identität wurde damals auch in Deutschland oder Frankreich diskutiert), die orthodoxe Religion und autokratische Staatsform sind spezifisch russisch.

Die nationale, religiöse und politische Besonderheit Russlands gegenüber dem Westen betont heute mit ähnlichen Worten Staatspräsident Wladimir Putin (geboren 1952); in seiner Rede zum „Tag des Sieges“ sagte er am 9. Mai 2022:
„Wir sind ein eigenes Land, Russland hat einen eigenen Charakter. Wir werden niemals unsere Liebe zum Vaterland [= Nationalität], unseren Glauben [= Orthodoxie] und unsere traditionellen Werte und Bräuche [= Autokratie?] … aufgeben. Im Westen scheint man diese jahrtausendealten Werte abschaffen zu wollen.“

Russland = Eurasien

Die Sonderstellung Russlands wurde und wird auch geopolitisch begründet, im sogenannten „Eurasismus“: Den Begriff prägten 1921 (nach dem 1. Weltkrieg und der bolschewistischen Revolution in Russland) vier russische Intellektuelle im bulgarischen Exil, darunter der Sprachwissenschaftler und Mitbegründer des Strukturalismus, Fürst Nicolai Trubetzkoy (1890 Moskau – 1938 Wien); in ihrem Programm heißt es: „Russland ist ein Sechstel der Erde, Eurasien, und eine Welt für sich, deren Schicksal sich unabhängig von den Nachbarländern im Westen (Europa) bzw. Osten und Süden (Asien) entscheidet.“

Die Eurasisten beurteilten „die europäische Kultur als in jeder Hinsicht dekadent, außer in Technik und Wissenschaft“, und forderten, dass „die russische Kultur“ die Grundlage einer supranationalen „eurasischen Kultur“ sein müsse. Das sowjetische Russland und sein kommunistisches System lehnten sie ab: „Der Atheismus und die Wirtschaftspolitik der Kommunistischen Partei steht im Widerspruch zu den geistigen Grundlagen Eurasiens.“

Ende der 1920er Jahre zerfiel die eurasische (Exil)Bewegung. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, 1991, erlebte ihre Theorie als „Neo-Eurasismus“ eine Renaissance, allerdings mit einer geopolitischen Modernisierung: Im Westen des eurasischen Russland stehen nun weniger die europäischen Mächte als vielmehr die atlantische Vormacht USA.

Postsowjetischer Raum

Den Grundgedanken einer „eurasischen Mission“ des russischen Volkes vertrat Putin in mehreren Grundsatzartikeln, die 2012 bis 2013 erschienen. „Das russische Volk ist staatsbildend, seine große Aufgabe ist es, zu ver-einen: Durch Sprache, Kultur und – nach einem Wort Dostojewskis [1880] – „seine Fähigkeit, alle Stimmen des Universums aufzunehmen“. […] „Die Eurasische Union ist ein Projekt, in einem neuen Jahrhundert mit einer neuen Weltordnung die Identität der Völker Eurasiens und ihres geschichtlichen Raumes zu bewahren. Ein vereintes Eurasien bietet für den gesamten postsowjetischen Raum die Chance, Mittelpunkt einer globalen Entwicklung zu werden anstatt Anhängsel Europas oder Asiens.“

Ukraine

Der postsowjetische Raum besteht, geographisch gesehen, aus Russland, genauer: der Russischen Föderation sowie den Staaten, die nach dem Ende der Sowjetunion auf deren Gebiet im Westen und Süden (Kaukasus, Zentralasien) entstanden – insgesamt vierzehn mit rund 5 Millionen Quadratkilometer Fläche. Von den sechs Neustaaten im Westen wollten die baltischen Länder (Litauen, Lettland, Estland), die eine eigenstaatliche Tradition hatten, von Anfang an politisch nicht zu einem russisch dominierten Eurasien gehören, sondern zu (West)Europa. Weißrussland verband sich mit Russland, bei Moldawien und der Ukraine zog sich der Entscheidungsprozess in die Länge. Hier liegt eine Wurzel des Ukrainekonfliktes, den Russland seit dem 24. Februar 2022 durch offenen Krieg zu lösen versucht.

Dieser Krieg wird von Putin narrativ eingebettet in die ruhmreiche Geschichte der Verteidigung des großen Vaterlandes Russland. In seiner Rede zum 9. Mai zieht er einen Bogen von den Feldzügen des Kiewer Großfürsten Swatoslaw (943–972) über die Schlacht bei Borodino (1812) gegen Napoleon bis zu den Kämpfen im 2. Weltkrieg um Kiew, Sewastopol, Charkow und Stalingrad. Wer ist heute der Feind? Antwort: „Nazis“, „Neo-Nazis“, „Nato-Länder“, „Nato-Block“, oder kurz: „der Westen“. Die Rede endet mit einem dreifachen Ausruf: „Ruhm unseren heldenhaften Streitkräften!“; „Für Russland! Für den Sieg!“; „Hurra!“. Der Name „Ukraine“ kommt übrigens nicht vor.

*******

Die Streitfrage „Gehört Russland zu Europa?“ wird seit zweihundert Jahren nicht nur in Russland diskutiert, sondern auch – zeitweise sogar hauptsächlich – unter Russen im Ausland, im politischen Exil. Russland ist Exilland: Das autokratische Regierungssystem zwang und zwingt Andersdenkende in Massen zum Exil – nach Europa, in den Westen.

Anzeige