Tichys Einblick
Menschenrechte

„Das ist wirklich gefährlich“

Gewaltenteilung: Eine kleine Elite kontrolliert das gesamte System, meint der Direktor des Europäischen Zentrums fur Recht und Justiz (ECLJ), Grégor Puppinck im Interview mit der Tagespost.

IMAGO/Jens Schicke

Herr Puppinck, in Ihrem Buch „Der denaturierte Mensch und seine Rechte“ beschreiben Sie den radikalen Wandel, den das Bild, das der Mensch von sich selbst besitzt, in den letzten 20 Jahren erfahren hat. Können Sie das an einem Beispiel illustrieren?

Noch vor 70 Jahren waren Abtreibung und Euthanasie in Staaten, die die Universelle Erklärung der Menschenrechte unterzeichnet haben, illegal und wurden sogar als etwas Schlechtes betrachtet. Heute gibt es eine sehr starke Bewegung, die Abtreibungen und Euthanasie als etwas Gutes betrachtet. Das ist eine neue Sicht. Ihr liegt ein gewandeltes Bild dessen zu Grunde, was ein Mensch ist. Und das wiederum hat Konsequenzen für unseren Begriff von Menschenwürde.

Welche?

In der Anthropologie gibt es heute zwei Hauptströmungen. Die eine ist der klassisch judäo-christliche Ansatz. Er besagt, Würde haben wir, weil wir Ebenbilder Gottes sind, einen Körper und eine unsterbliche Seele besitzen. Auf der anderen Seite steht ein neues, postmodernes Konzept. Ihm zufolge haben wir Würde, weil wir fähig sind, zu denken und zu entscheiden. Daraus folgt, dass jemand, der keine solche Autonomie besitzt – wie etwa ein ungeborener Mensch, ein Baby oder eine ältere Person – auch keine echte Würde besitzt. Würde wird in diesem Konzept als proportional abhängig von der Fähigkeit des Menschen betrachtet, einen Willen bilden und formulieren zu können. Das bedeutet zugleich, dass jemand, der über viel Autonomie verfügt und über seinen eigenen Körper bestimmt, einen höheren Grad an Würde zum Ausdruck bringt.

Wie kommt man auf eine solche Idee?

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Um das zu verstehen, muss man zurückgehen zu den Ideologien der Eugeniker zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Zu Personen wie Ernst Haeckel, der mit anderen der Auffassung war, Menschen würden erst durch einen evolutionären Prozess zu Menschen. Für diese Ideologen ist die Menschwerdung im Prinzip ein langer Befreiungsprozess des Geistes von der Materie. Je mehr Menschen zu kognitiven Prozessen fähig seien, je mehr sie nachdenken könnten, umso spiritueller würden sie, umso menschlicher und umso mehr auch Träger von Würde. Dieser Ideologie zufolge ist es erstrebenswert, sich vom eigenen Körper zu distanzieren und Macht über ihn zu erlangen: Macht über den eigenen Körper ist Ausdruck der Emanzipation des Geistes über die Materie. Letztlich handelt es sich dabei um eine gnostische, dualistische Vision des Menschen. Dieser auch Spiritualisierung genannte Prozess hat eine lange Tradition. Er hat seine Wurzeln in einer Ideologie, die nach Darwin in England und Deutschland sehr stark geworden ist. Diese Vision vom Menschen stellt Unterschiede zwischen Menschen her und rechtfertigt Abtreibungen, Euthanasie und Eugenik.

Sie sind Jurist. Es fällt auf, dass Gerichte in Lebens- und Menschenrechtsfragen immer häufiger in die Rolle eines Nebengesetzgebers schlüpfen, wie etwa die Urteile zum assistierten Suizid in Deutschland und Österreich zeigen. Ist die Gewaltenteilung zwischen Judikative und Legislative in Gefahr?

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Eine absolute Trennung zwischen diesen Gewalten gibt es im gegenwärtigen System nicht mehr, denn in ihm stehen die Richter inzwischen über den Gesetzgebern. Ihre eigentliche Rolle wäre es, die Politik zu kontrollieren und sicherzustellen, dass Regierungen und Parlamente die fundamentalen Menschenrechte und Werte respektieren. So war das System gedacht, als es etabliert wurde. Inzwischen liegt die Interpretation dieser grundlegenden Werte jedoch in den Händen einer Gruppe von Richtern. Das System der Gewaltenteilung funktioniert hier noch so lange, wie diese Gruppe nicht versucht, besonders kreativ zu werden, sondern sich darauf beschränkt, Regeln anzuwenden. Was wir in den letzten Jahren beobachten konnten, ist jedoch, dass die Richter zusehends kreativer werden. Sie glauben, dass sie neue Werte erzwingen können, etwa durch eine neue Interpretation der Menschenrechte – sogar gegen den Willen der Bevölkerung. Das ist wirklich gefährlich. Diese Entwicklung zeigte sich erstmals bei der Frage der Abtreibung in den USA. Wenn man sich heute auf der Erde umschaut, stellt man fest, dass in vielen Ländern Abtreibungen nicht von Parlamenten, sondern durch Richter eingeführt wurden. Das System der Gewaltenteilung legt also mittlerweile die ultimative Kontrolle in die Hände einer sehr begrenzten Zahl nicht demokratisch gewählter Individuen. Und diese Gruppe hält sich selbst für legitimer, schlauer und klüger als die Mitglieder der Parlamente und Regierungen. Sie halten sich für eine Art Missionare, deren Aufgabe es nicht nur ist, die Gesellschaft zu schützen, sondern auch, sie zu verbessern, neue Rechte einzuführen und neue Freiheiten.

Aber ist das noch demokratisch?

Für mich ist klar, dass wir – anders als in der Vergangenheit – nicht mehr in einem wirklich demokratischen System leben. Wir glauben anscheinend nicht mehr an die Macht des Volkes, für das Volk und durch das Volk. Wir haben zwar Regierungen, die damit beauftragt sind, das tägliche Leben und die Wirtschaft zu lenken, aber unter der Kontrolle einer kleinen Elite von Richtern an nationalen und internationalen Gerichtshöfen. Diese Elite ist sehr klein, aber sie kontrolliert das gesamte System auf einem höheren Niveau.

Woher kommen die Eliten und wie unparteiisch oder parteiisch sind sie?

Es gab schon immer Netzwerke von Eliten. Die kennen sich untereinander und arbeiten auch als Netzwerk zusammen. Was ich in letzter Zeit beobachten konnte, war aber, dass es eine zunehmende Präsenz, man könnte auch sagen, einen wachsenden Zugriff einer kleinen Gruppe von Nicht-Regierungsorganisationen auf internationale Einrichtungen gegeben hat. Die Hauptorganisationen sind die „Open Society Foundation“ von George Soros, die „Bill and Melinda Gates Foundation“ und die „Ford Foundation“. Diese drei Stiftungen haben sehr viel Geld in internationale Institutionen investiert, die regierungsübergreifend arbeiten. Wir reden hier von mehreren Milliarden Dollar, die in solche Einrichtungen investiert wurden.

In welche?

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Zum Beispiel in die Weltgesundheitsorganisation (WHO). 2019 hat Gates der WHO 450 Millionen Dollar gespendet. Das war der zweitgrößte Finanzierungsbeitrag für die WHO in 2019. Wie lässt sich akzeptieren oder überhaupt verstehen, dass eine private NGO einen solchen Einfluss auf eine internationale Einrichtung von einer solchen Bedeutung haben kann? Wer stellt sicher, dass private Interessen hier nicht die Oberhand über öffentliche gewinnen? Das Gleiche geschah in Europa. Die Hauptgeldgeber des Europarats sind heute die Open Society Foundation und Microsoft. Wie kann man erklären, dass der Europarat von solchen Organisationen Geld angenommen hat? Wir sehen auch, dass in den letzten zehn Jahren am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EuGH) 22 Ex-Mitarbeiter oder Angestellte dieser NGOs zu Richtern ernannt wurden – 22 von insgesamt 100. Das ist eine Tatsache. Diese Richter waren entweder direkt bei den genannten NGOs angestellt, haben mit ihnen zusammengearbeitet oder waren Lehrer an Schulen, die von diesen Stiftungen gegründet wurden. Das sind sehr enge Verbindungen. Nun führen dieselben NGOs Klagen am EuGH. Wenn man an diesem Gerichtshof Richter installiert hat, die vorher Mitarbeiter waren, kann man sich in etwa vorstellen, wie die Verfahren ausgehen. Der Einfluss dieser NGOs ist somit enorm, denn es gibt gewissermaßen ein gemeinsames Interesse von Klägern und Richtern. Wir konnten nachweisen, dass in 88 Fällen Richter Verfahren entschieden haben, die von NGOs angestrengt worden waren, bei denen sie vorher angestellt waren. Und in den meisten Fällen haben sie im Sinne der NGOs entschieden. Ein Richter sollte aber keinen Fall entscheiden dürfen, bei dem sein ehemaliger Arbeitgeber Partei ist.

Wer kontrolliert solche Verfahren?

Es gibt keine Kontrolle. Jeder Richter entscheidet selbst, ob er sich aus einem Verfahren zurückzieht oder nicht. Wenn er es nicht möchte, braucht er es nicht zu tun. Wir haben das Problem einer Reihe von Richtern in Straßburg dargelegt, darunter auch ehemaligen. Alle haben uns geraten, unseren Bericht zu veröffentlichen. Was wir auch getan haben.

Führte das zu Konsequenzen?

Im April wurde zum ersten Mal ein Kandidat der Open Society Foundation nicht als Richter ernannt.

Befürworter der Abtreibung und Euthanasie fordern immer häufiger, Mediziner sollten nicht mehr die Möglichkeit haben, sich auf ihr Gewissen zu berufen und sich zu weigern, an solchen Tötungshandlungen teilzunehmen. Ist die Gewissensfreiheit in Europa bedroht?

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Wir haben auf der ganzen Welt feststellen können, dass es zu Attacken gegen die Gewissensfreiheit kommt. Auch im europäischen Parlament. Das französische Parlament hat ein Gesetz vorgelegt, das die Gewissensfreiheit der Hausärzte limitiert. Eine globale Attacke gegen die Gewissensfreiheit kommt vor allem aus Richtung der Abtreibungsbefürworter. Das ist ganz offensichtlich eine orchestrierte Attacke, die vom Center for Reproductive Rights in New York angeführt wird. Sie wollen die Weigerung, aus Gewissensgründen an Abtreibungen mitzuwirken, verbieten. Das liegt daran, dass es tatsächlich einen zunehmenden Mangel an Ärzten und Pflegepersonal gibt, die bereit sind, Abtreibungen durchzuführen. In Italien gibt es Gegenden – beispielsweise im Süden – in denen 95 Prozent der Ärzte sich weigern, Abtreibungen durchzuführen. Deshalb gibt es dort Krankenschwestern, die durchs Land reisen und Abtreibungen anbieten. Man will Ärzte und Pflegepersonal dazu zwingen, Abtreibungen entweder selbst durchzuführen oder abtreibungswillige Frauen an Ärzte und Krankenhäuser zu verweisen, die das machen. In Frankreich fordert die Abtreibungslobby, auch Krankenschwestern sollten chirurgische Abtreibungen vornehmen dürfen, weil es immer weniger Ärzte gibt, die das machen. Die neue Generation von Ärzten sagt, sie habe nicht Medizin studiert, um abzutreiben. Sie wollen es einfach nicht. Also fordert die Lobby, dass es Krankenschwestern tun sollen, dass es besser bezahlt wird und der Staat die Kosten übernehmen soll. Das Hauptproblem ist dabei das menschliche Gewissen. Kaum jemand will das mehr machen. Aus einem Grund, der sich nicht ändern wird.

Nämlich?

Du wirst nie mit einem Kind über Abtreibungen reden können. Das ist ein ziemlich guter Test dafür, ob etwas ethisch oder moralisch akzeptabel ist. Wenn du mit einem Kind nicht darüber sprechen kannst, ist es nicht gut. Insofern ist es nur natürlich, dass Ärzte zusehends weniger bereit sind, es zu machen.


Dieses Interview von Cornelia Kaminski erschien zuerst in Die Tagespost. Katholische Wochenzeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur. Wir danken Autorin und Verlag für die freundliche Genehmigung zur Übernahme.

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