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Real- statt Moralpolitik: Zu Ehren von Egon Bahr

Nur durch Wahrung und Stärkung nationalstaatlicher Souveränität, nicht durch ihre Negation, kann eine politische Gemeinschaftsbildung Europas gelingen, die auch Bestand und Zukunft hat.

John MacDougall/AFP/Getty Images

«Ich möchte meine Werte und Ideale verwirklichen, darum gehe ich nun in die Politik!» – «Man sollte sie/ihn schleunigst davon abhalten und dorthin schicken, wohin sie/er gehört – in die Kirche oder ihre Ersatzbauhütten – die inter- qua supranationalen Institutionen, die den Schein einer alle Eigeninteressen transzendierenden, objektiven Macht an sich haben: den Gottesschein».

So könnte der spöttische Kommentar eines langjährig erfahrenen Realpolitikers wie Egon Bahr zu den neueren Versuchen menschenrechtlicher Moralpolitik lauten, nationalstaatliche Souveränität im Internationalen einer westlich geprägten Universalmoral aufzulösen. Wenn ein erfahrener und im politischen Handwerk langerprobter Sozialdemokrat, der über Jahrzehnte hinweg maßgeblich an der politischen Gestaltung der BRD mitwirkte, das Wort ergreift, dann sollte man ihm sehr genau und ernsthaft zuhören. Denn anders als das moralideologische Schwärmen des medialen Zeitgeistes schöpft er aus lebenslanger Sacherfahrung im Umgang mit politischen Realitäten. Allein ihr verdankt sich die Ausbildung politischer Vernunft; und begründet ihre Autorität, Maßstäbe politischen Handelns auch für die künftigen Generationen setzen zu können. Dass der SPD heute solche Köpfe fehlen, mag zur Katastrophe ihrer parteiinternen Ausbildungs- & Rekrutierungsverfahren gehören; die allgemeine politische Vernunft aber tut gut daran, sich die politischen Lehren Egon Bahrs noch einmal zu vergegenwärtigen.

Bahr läßt keinen Zweifel am Prinzip politischen Denkens: Politische Vernunft hat es mit Interessen und Machtverhältnissen menschlicher Gemeinschaften zu tun – nicht mit Moral, Werten und Menschenrechten. In dieser Versachlichung gegenüber moralideologischen Wünschbarkeiten liegt das pragmatische Realitätsprinzip politischer Vernunft. Politische Sachlichkeit ist außermoralisch: Anerkennung der Macht als politischer Grundtatsache. Politische Macht aber ist nationalstaatlich gebundene Macht, der Nationalstaat deshalb Kern aller politischen Tätigkeit. Was innenpolitisch ganz notwendig als bestimmtes moralisch-sittliches Ethos der Gemeinschaft wirksam ist, lässt sich nicht auf außenpolitische Verhältnisse anwenden. Alles «Internationale» gibt es nur als Verhältnis zwischen (inter) Nationen als den eigentlichen Machtzentren; und keine Supermacht wie die USA lässt sich ihr «nationales» Eigeninteresse durch internationalen Rechtsverhältnisse binden; sie versucht höchstens, damit andere ihrem Machtinteresse zu unterwerfen. Die romantische Illusion des «Internationalen», als vermöchte dieses etwas für sich jenseits und unter Aufhebung des «Nationalen», weicht damit der realpolitischen Einsicht in seine Machtförmigkeit: Internationale Rechtsverhältnisse sind «der Königsweg der Schwachen und Kleinen, Einfluß auf die Mächtigen zu bekommen» .

Die Verrechtlichung internationaler Beziehungen ist allein Sache ihrer Machtpraxis, sich gegenüber den Übermächtigen Gehör und Ansehen zu verschaffen. Mehr nicht. Der zur Internationalisierung des Rechts eingesetzte moralistische Universalismus ist deshalb nur der Ausdruck für das Machtdefizit «der Schwachen und Kleinen», die ihre nationalstaatliche Ohnmacht machtstrategisch zu kompensieren suchen – und dabei der metaphysischen Illusion verfallen, die Auflösung des Nationalstaates in ein «Internationales» könnte die Welt von ihren realgeschichtlichen Gegensätzen erlösen.

Die Verblendung ist konstitutiv – gerade für die Deutschen, die damit ihr mentales Schuldtrauma zu überwinden trachten: Ihr negatives Verhältnis zur eigenen Nationalität wird nicht als solches thematisch, sondern verschwindet in der universellen Negation der Nationalität als solcher. Dies aber verkennt das Wesen der realgeschichtlichen Welt und ihrer Machtzentrierung in sprachlich-kulturell differenzierten Gemeinschaften. Deshalb, so Bahr, müsse die BRD nun aus dem Schattendasein ihrer Nachkriegsgeschichte heraustreten: ihrer jahrzehntelangen Machtvergessenheit und Anpassungsmentalität, der vasallenhaften Haltung als US-Protektorat und dem bequemen Luxus sicherheitspolitischer Verantwortungslosigkeit.

Der wunde Punkt ist das deutsche Missverhältnis zur eigenen «Nationalität»: das im traumatischen «Nazikomplex» konsakrierte Unvermögen, sich die durch die Wiedervereinigung wiedererlangte staatliche Souveränität auch im politischen Handeln und Denken anzueignen – sie in Gebrauch zu nehmen als «Normalität» deutscher Machtpolitik, deutscher Interessen – des «deutschen Weges». Mental heißt dies: aus der Lähmung durch die Nazi-Vergangenheit heraustreten, die «Nation» im positiven Sinne als Kern der Identität wiedergewinnen. Denn ein negatives Selbstverhältnis – ob individuell oder kollektiv – kann nie produktiv Zukunft entwickeln: Ein positiv bejahendes Verhältnis zur eigenen Nation ist Grundlage und Voraussetzung aller Politik. Damit ist keiner «Verdrängung» das Wort geredet, auch keinem geschichtlichen Revisionismus oder gar Nationalismus, im Gegenteil: Bahr geht es um die perspektivische Neuausrichtung politischen Denkens auf die Zukunft Europas. Für sie ist jede rückwärtsgewandte Besessenheit schädlich und hinderlich – ein anachronistisches und retardierendes Moment, unfähig, die realgeschichtlichen Probleme der Gegenwart produktiv zu entwickeln.

Im gesamteuropäischen Rahmen sei es deshalb die «Bringschuld der Deutschen», ein normales Verhältnis zur Nation zu entwickeln, das Nationalbewusstsein – wie alle anderen auch, als «Normalität» zu beziehen, Abschied zu nehmen von der «Abnormalität» als Stigma schuldhafter Einzigartigkeit. Was für manche darin als Provokation liegen mag, ist nichts anderes als die Herausforderung diese Mentalität in realpolitische Vernunft zu überwinden und den Mut zu sich, zum eigenen Land zu entwickeln. Zur staatlichen Souveränität gehört die geistige Selbständigkeit – der Mut realpolitisch sachorientierten Denkens, das nur durch die nationalstaatliche Reflexion und Klärung deutscher Interessen seine autonome Selbstbestimmung wiedererlangen kann. Was konkret heißt: Beendigung der Dominanz Amerikas über die EU Außen- und Sicherheitspolitik. In diesem Sinne war Schröders Weigerung, sich durch die Bush-Administration in den Irakkrieg einbinden zu lassen, ein bedeutendes «Bahr-Zeichen» neugewonnener deutscher Souveränität.

Bahr ist damit im Zentrum seiner politischen Reflexion angelangt – dem Widerspruch von EU und NATO: Erfolgt die politische Konstruktion der Europäischen Gemeinschaft (EU) nicht zuletzt als Gegengewicht zur Vorherrschaft der USA, so untersteht sie doch andererseits: außen- und sicherheitspolitisch – ganz der US-geführten NATO und bleibt als US-Protektorat ohne jede Autonomie & Souveränität.

Die Finalität der EU, den Kontinent zu einem machtpolitisch eigenständigen Block herauszubilden, enthält in sich den Widerspruch, sich unter den Bedingungen der Weltmacht zu realisieren, gegen die sie sich formiert (USA). Ein Europa, das sich über die machtpolitische Interessendifferenz von USA und EU täuscht und dem Irrglauben an eine «transatlanische Wertegemeinschaft» anhängt, kann auch keine von den USA abgekoppelte Sicherheitspolitik betreiben, die den europäischen Raum «von Wladiwostok bis Lissabon», wie Bahr nicht müde wird, zu betonen, zu einem eigenen außenpolitisch abgesicherten Sicherheitsbereich entwickelt, im Gegenteil:

Die Osterweiterung der EU folgt dem geopolitischen Machtstreben der NATO gegen Russland, um beide – EU und NATO – deckungsgleich in die US-politische Gegnerschaft zu Russland zu verspannen. Damit wird die NATO «in letzter Konsequenz zum Gegner der gemeinsamen EU Außen- und Sicherheitspolitik» . Die Letztentscheidung der Außen- und Sicherheitspolitik liegt nicht bei der EU, sondern der US-geführten NATO, die mit der Ausdehnung gegen Russland hin ein zwischenstaatliches Vakuum als Gefahrenzone schafft, das inzwischen – mit dem Ukraine Konflikt – auch explodiert ist.

Ist «der Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln», dann wird die EU auch für eine Außenpolitik in Haftung genommen, an der sie keinerlei Mitspracherecht hat. Souveränitätsverzicht der Europäer auch in Bezug auf die US-stationierten Atomwaffen in Deutschland: Auch hier liegt die Letztentscheidung über den Einsatz einzig und allein bei den USA. Wer aber Atomwaffen auf seinem Territorium stationiert, ist auch ein potentielles Angriffsziel anderer Atommächte: Der souveräne Staat sollte deshalb entweder autonom über ihren Einsatz verfügen oder ihren Abzug von seinem Territorium verfügen, da ihre Anwesenheit seine gesamte Bevölkerung dem Risiko der Totalvernichtung aussetzt. Aber die amerikanische Atomwaffen-Souveränität belastet weiterhin die Sicherheitssituation der BRD. Unter solchen Bedingungen ist eine eigenständige, den europäischen Interessen verpflichtete Außen- und Sicherheitspolitik, unmöglich; die NATO: «Konzeptionslosigkeit ohne Konzept» eine intellektuelle Zumutung, die jede Ausbildung eines kulturgeschichtlichen Gemeinschaftsbewußtsein auch noch durch die Aufnahme eines außereuropäischen Staates – der Türkei – boykottiert.

Das Defizit an nationalstaatlicher Souveränität durchzieht so die gesamte EU-Konstruktion: Mit der Einführung des Euro ist die Währungspolitik den nationalen Parlamenten entzogen und einem demokratiefreien Raum bürokratischer Herrschaft unterworfen, der sich ohne jede vorausgehende Neuordnung der Sozialsysteme und einer wirtschaftspolitischen Angleichung über fundamental divergierende Volkswirtschaften und Rechtssysteme ausdehnt, die durch den finanzpolitischen Zwang ins geopolitische Projekt ihrer gemeinsamen sicherheitspolitischen Absicherung durch die NATO genötigt werden. Der durchgängige Verlust an nationalstaatlicher Souveränität an ein transnationales Anonymat, das letztlich transatlantisch im Ungreifbaren verschwimmt, muss letztlich den Widerstand eines politischen Freiheitsbewusstseins wecken, das am Nationalstaat seine einzige Lebensgarantie hat. Mit dem Brexit beginnt die Auflösung der EU; neue Regional-Nationalismen gären; und gerade die osteuropäischen Staaten, die ihre erst kürzlich erfolgte Befreiung von der SU zu einem souveränen, selbstentscheidenden Nationalstaat feiern konnten, verspüren wenig Lust, diese nun umgehend wieder an einen neue transnationale Herrschaftsmacht EU abzugeben. Wie nun Ukraine-Konflikt und Brexit, die Opposition der Visigrad-Staaten Osteuropas und die Spannungen im Euro-Raum zeigen, hatte Bahr in weiser Voraussicht mit allem Recht.

Woraus wir lernen sollten: Politische Gemeinschaftsbildung und nationalstaatliche Souveränität sind keine Gegensätze, die sich ausschließen. Europa ruht auf den Säulen starker Nationalstaaten; sie zu schwächen oder gar aufzulösen, schwächt das Ganze und erzeugt Gegenreaktionen, die zu seinem Zusammenbruch führen. Nur durch Wahrung und Stärkung nationalstaatlicher Souveränität, nicht durch ihre Negation, kann eine politische Gemeinschaftsbildung Europas gelingen, die auch Bestand und Zukunft hat. Was sich damit wie eine politische Quadratur des Kreises ausnimmt, lässt sich nur auflösen, wenn Begriff und Selbstverständnis des «Nationalstaates» von ihren realgeschichtlichen Grundlagen her neu überdacht und geklärt werden.


Rudolf Brandner