Tichys Einblick
Ein Nachruf

Bürgerrechtler und exotischer Linker: Zum Tod des Grünen-Politikers Werner Schulz

Er diskutierte gern, und das nicht nur mit Leuten, die seine Ansichten ohnehin weitgehend teilten. Als ehemaliger Dissident empfand er Dissens nicht als störend oder gar als skandalös, sondern eher als Regelfall einer offenen Gesellschaft.

IMAGO / Metodi Popow

Er war ein Mensch, der sich nie an dem orientierte, was als opportun und karrierefördernd galt. Und das gleich mehrmals im Leben, auch schon vor seinem Einstieg in die Berufspolitik. Mit 30 Jahren endete die Laufbahn des Ingenieurs und der wissenschaftlichen Assistenzen an der Humboldt-Universität Berlin, als er öffentlich gegen den sowjetischen Einmarsch in Afghanistan protestierte.

Die Hochschulleitung feuerte Werner Schulz fristlos. Der gestern im Alter von 72 Jahren sehr plötzlich verstorbene Bürgerrechtler und spätere Politiker der Grünen gehörte 1981 zu den Gründern des oppositionellen Pankower Friedenskreises; 1989 saß er als Vertreter der gerade formierten Sammlungsbewegung Neues Forum am Runden Tisch den SED-Genossen gegenüber, die gerade ihre Macht verloren. Schulz verhandelte in dieser Zeit auch die Fusion der neuen Partei Bündnis 90 mit den westdeutschen Die Grünen.

Er kam aus einem Milieu, das sich vom dem seiner bundesrepublikanischen Parteifreunde sehr deutlich unterschied. An seiner Gegnerschaft zur SED änderte sich auch nichts, als sich die Partei mehrfach umbenannte. Weil er erst mit 40 zur Berufspolitik kam, blieb er im Gegensatz zu den meisten anderen ein Außenseiter.

Ausgerechnet dieser untypische Grüne rettete 1990 die parlamentarische Präsenz seiner Partei: Als die Grünen, die mit der Deutschen Einheit mehrheitlich nichts anfangen konnten, aus dem Bundestag flogen – Claudia Roth demonstrierte 1990 in Frankfurt mit einem „Nie wieder Deutschland“-Transparent –, vertraten einige wenige Ostdeutsche die Partei im Parlament, weil damals in West und Ost ausnahmsweise getrennte Fünf-Prozent-Hürden galten. Die Bündnis-90-Kandidaten schafften es, Schulz übernahm die Sprecherfunktion für die kleine Gruppe. Als die grüne Gesamtpartei 1994 wieder in den Bundestag zurückkehrte, schob Joseph Fischer den Ostdeutschen wie selbstverständlich zur Seite, um seinen Führungsanspruch zu reklamieren.

In welchem Maß ihm die berufspolitische Geschmeidigkeit abging, zeigte sich 2005, als Gerhard Schröder Neuwahlen durchsetzte, und dafür eine sogenannte unechte Vertrauensfrage stellte, um eine Auflösung des Bundestags zu erreichen. Die Fraktionsdisziplin verlangte es damals, dass SPD und Grüne dem Kanzler ihrer Koalition das Misstrauen aussprachen. Schulz argumentierte sinngemäß, er misstraue Schröder nicht, also könnte er auch nicht für das Misstrauensvotum stimmen. Schröder habe eine Mehrheit, also solle er auch weitermachen.

Schulz empfand den Vorgang als Farce und erklärte, er erlebe gerade „ein Stück Volkskammer“. Auf dieses Stichwort fielen fast alle Fraktionskollegen über ihn her. Spätestens seit diesem Zeitpunkt galt er parteiintern als erledigter Fall. „Das war heute das tragische Ende von Werner Schulz“, triumphierte die damalige Grünen-Chefin Claudia Roth. In ihren Nachrufen sparten die führenden Grünen-Politiker diesen Eklat aus.

Schulz sah sich immer als Linker. Allerdings als unorthodoxes Exemplar. Mit seinem Vorschlag, den 18. März zum „Tag der Demokratie“ zu erklären, in Erinnerung sowohl an die erste freie Wahl in der DDR im März 1990 als auch an die Märzrevolution 1848, blieb ohne Resonanz. Mit beiden Bezugspunkten konnten die Allermeisten im politisch-medialen Betrieb der Bundesrepublik nichts anfangen. Der gebürtige Zwickauer, der 2015 in einem Interview von einem „entspannten Verhältnis zur Nation“ sprach, galt er vielen in seinem politischen Lager auch wegen dieser Ansicht als wunderlicher Exot.

Er diskutierte gern, und das nicht nur mit Leuten, die seine Ansichten ohnehin weitgehend teilten. Als ehemaliger Dissident empfand er Dissens nicht als störend oder gar als skandalös, sondern eher als Regelfall einer offenen Gesellschaft.

Seit den neunziger Jahren waren wir einander immer wieder begegnet, meist in Leipzig, um zu reden, mitunter auch zu streiten. Das konnte Werner Schulz sehr gut in seinem sanften sächsischen Idiom, und zwar ganz ohne Versatzstücke aus dem Phrasenbaukasten. Es interessierte ihn, wie andere dachten.

Am 9. November 2022 starb er während einer Veranstaltung im Schloss Bellevue in Berlin.

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