Tichys Einblick
Was Worte sagen

Merkel erklärt ihre Debattenkultur

Manchmal lohnt es sich doch, eine Rede der CDU-Chefin zu verfolgen. In ihrem jüngsten Vortrag vor der Adenauer-Stiftung entwarf sie das Bild ihrer Idealgesellschaft.

Tobias Schwarz/AFP/Getty Images

Über Angela Merkel heißt es oft, sie halte Reden, sage aber nichts. Ihre Verlautbarungspolitik ist tatsächlich ein „Regiment der Worthülsen“ (Alexander Kissler). Allerdings: in der einen oder anderen ihrer Hülsen steckt eben doch etwas. Wer beispielsweise Merkels Rede in der Konrad-Adenauer-Stiftung vom vergangenen Donnerstag genau zuhört, der lernt viel über das Gesellschaftsbild der Kanzlerin.

Möglicherweise mehr, als sie selbst verraten wollte. Schon das Thema ihres Vortrags lässt aufhorchen: Debattenkultur.

Von dem üblichen Gestolpere („Es ist wichtig, dass wir uns miteinander zuhören“) darf man sich nicht von den wichtigen Aussagen ablenken lassen. Ein Schlüsselsatz ihres Referats lautet:

„Die Hoffnung, dass wir morgens aufstehen und zu einem Thema alle die gleiche Meinung haben, ist gleich Null.“

Zwar schiebt sie sofort nach, es sei ja auch gut, dass „diese Hoffnung“ gleich Null sei, schließlich seien Menschen ja verschieden und hätten unterschiedliche Meinungen. Aber dass alle die gleiche Meinung hätten – das ist eine Schreckensvorstellung, denn diese Gesellschaft wäre totalitär. Wieso verwendet sie dann für diesen dystopischen Zustand das Wort „Hoffnung“, und sei es nur rhetorisch?

Im Verlauf der Rede ahnt der Zuhörer: es handelt sich bei dieser seltsamen Formulierung nicht um einen Lapsus. Merkel klagt über den Zustand der Debattenkultur in Deutschland: „Manchmal geht es nicht darum, miteinander ins Gespräch zu kommen, sondern Standpunkte einander entgegenzustellen.“  Zur Rhetorik der Kanzlerin gehört seit eh und je das Non sequitur, die unlogisch aneinandergepappten Satzglieder. Aber auch in diesem wurstigen Satz liegt eine tiefere Wahrheit über ihre Denkweise. Standpunkte zu entwickeln, voneinander abzugrenzen und anderen entgegenzustellen: das ist überhaupt die Voraussetzung aller politischen Kommunikation. Möglicherweise stehen Ansichten dann tatsächlich nur einander gegenüber, es gibt zwischen den Inhabern antagonistischer Positionen nur ein formales Gespräch und erst Recht keinen Kompromiss. Das ist aber weder ein Mißstand noch ein Unglück. Genau dafür –  zur Ermittlung von Mehrheiten für bestimmte Überzeugungen – sind Abstimmungen und Wahlen in einer Demokratie ja da. Ein ernstes Problem taucht erst dann auf, wenn grundlegende Entscheidungen, etwa ihr Beschluss zur Änderung des Grenzregimes, dem Parlament gar nicht mehr vorgelegt werden. Und wenn Parlamentarier sich das gefallen lassen.

Aber zurück zu Merkel.

„Aber eine Debatte“, mahnt die Debattentheoretikerin, „ist eben nicht das Gegeneinanderstellen von Meinungen, sondern auch das Zuhören, (…)das Abklopfen des Arguments.“ Selbstverständlich ist es das, oder es sollte zumindest so sein. Merkel ist nicht nur die Meisterin des verwursteten Satzes und des Non sequitur, sondern auch des normativen Sprechens, während die deskriptive Rede bei ihr kaum vorkommt. Sie erklärt, wie die Welt eigentlich beschaffen sein sollte:  Zur Debatte gehört die Prüfung anderer Argumente, zur Migration gehören Ordnung und Steuerung, zur Ablehnung von Asylbewerbern gehört, dass sie das Land auch verlassen müssen. Sie selbst, die Rednerin, Kanzlerin und CDU-Vorsitzende, kommt in ihren Modellen nie vor. Sie bezieht nichts von dem, was sie zum Besten gibt, auf sich selbst. Geschweige denn, dass sie das von ihr verkündete Normativ an der Realität misst.

Wann und wo hätte sie tatsächlich schon einmal ein Argument von anderen, gar von Kritikern abgeklopft und eine ihrer Positionen aus einer gewonnenen Einsicht heraus korrigiert? Keine ihrer berühmten Wenden waren das Ergebnis eines diskursiven Prozesses. Ihr liberales Wahlprogramm mit dem Steuersenkungskonzept von Paul Kirchhof ließ sie 2005 fallen, weil ihr der Wind ins Gesicht wehte. Als Atomkraftbefürworterin, die sogar eine Laufzeitverlängerung für unumgänglich hielt, wandelte sie sich praktisch über Nacht nach dem Reaktorunfall von Fukushima 2011 zur radikalen Aussteigerin, als sie den Höhenflug der Grünen sah. Denn damals hätte es noch zu einer rot-grünen Mehrheit gereicht. Sich argumentativ gegen die mediale Fukushima-Hysterie zu wenden, dazu verspürte sie keine Lust. Jede ihrer Kehren begründete sie mit dem Satz: Jetzt isses eben so. Ihre migrationspolitische Wende, ihre eigenhändige Zerschlagung der Dublin-Praxis, nichts davon ließ sie bis heute in eine Gesetzesänderung gießen. Denn die müsste sie ja begründen, vor allem müsste sie begründen, warum ihre Politik bis jetzt in entscheidenden Punkten Gesetze beziehungsweise die Verfassung umgeht, etwa Artikel 16a. Auf ihrer letzten Pressekonferenz vor der Sommerpause rutschte ihr dazu ein erhellender Satz heraus, der auch gut in ihre Rede gepasst hätte: „Für die Bundesregierung kann ich sagen, dass wir Recht und Gesetz einhalten wollen werden und da, wo immer das notwendig ist, auch tun.“ 

Nun war das Kanzleramt, egal ob in Bonn oder Berlin, nie eine Hochburg des hermeneutischen Gesprächs. Allerdings legte Helmut Schmidt Wert darauf, seinen unnachgiebigen Kurs gegen die RAF ausführlich und öffentlich zu begründen. Es ist auch glaubhaft, dass er bei einem Scheitern der Geiselbefreiungsaktion in Mogadischu 1977 zurückgetreten wäre. Helmut Kohl konnte seine falsche Entscheidung der frühen Euro-Einführung mit einer tief angelegten historischen Argumentation untermauern, schon lange, bevor sie dann faktisch kam. Beide, Schmidt wie Kohl, handelten aus einer grundsätzlichen Überzeugung. Ein gewisser Respekt vor Verfassung und Parlament gehörte dazu.

Bei Merkel  sticht nicht nur die Abwesenheit von Überzeugungen und Argumenten hervor, sondern eben noch etwas anderes: die völlige Immunisierung gegen Argumente anderer. Und erst Recht gegen jede Kritik. Sie erreicht das – wo immer sie kann –  schon dadurch, dass sie potentielle Kritiker erst gar nicht erst an sich herankommen lässt. In ihrer Kommission, die 2011 schnell die Begründung für den Atomausstieg bis 2022 liefern sollte, saßen von vornherein keine Physiker und Ökonomen, von denen sie grundsätzlichen Widerspruch hätte erwarten müssen. Und nach ihrer Grenzöffnung von 2015 vermied sie jedes direkte Gespräch mit den Leitern des Sicherheitsapparates, mit BND-Chef Gerhard Schindler, mit Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen, mit Bundespolizeipräsident Dieter Romann. Im Gegenteil, Schindler ließ sie schon 2016 aus dem Amt treiben. Maaßen landete nur deshalb nicht im Ruhestand, weil Horst Seehofer noch einen Ersatzposten für den Nachrichtendienstler herausschlagen konnte.

Ein Teilnehmer einer Sitzung der Unionsfraktion schilderte einmal, wie ihr damaliger Innenminister Thomas de Maizière 2016 sagte, Grenzen könnte man sehr wohl schützen – das sei eine Frage des politischen Willens. Merkel antwortete darauf: gar nichts. Sie ließ die Bemerkung einfach wortlos an sich abtropfen. Der frühere Chef der CDU-Mittelstandsvereinigung Josef Schlarmann beschrieb, wie er Merkel auf das Desaster der Energiewende aufmerksam zu machen versuchte, die Deutschland eine gigantische Subventionslast und den höchsten Strompreis der Welt verschafft hat. „Ich habe gegen eine Wand geredet“, erinnerte sich Schlarmann.

In seinem Artikel „Die Trümmerfrau“ schreibt Roger Köppel in der „Weltwoche“ über die „Zähigkeit, die Ausdauer und die unglaublichen Nehmerqualitäten“ Merkels. Nur sind es eigentlich keine Nehmerqualitäten, denn sie nimmt nichts auf. Sie registriert, dass es Argumente gegen ihre Politik gibt, so, wie jemand Lärm auf der Straße registriert, bevor er das Fenster schließt. In ihrer Praxis erweist sich Merkel als Meisterin der Abschottung.

Es fügte sich, dass fast zeitgleich mit ihrer Rede über Debattenkultur der Bundesrechnungshof seinen Bericht über die Energiewende an die Regierung übergab. Die Rechnungsprüfer verfassten einen Totalverriss, der auf nüchternen Zahlen beruht. Ihr Fazit lautet: Deutschland, genauer, die Stromkonsumenten, haben allein in den letzten fünf Jahren 160 Milliarden Euro gezahlt – für nichts. Zur CO2-Vermeidung, mit welcher der staatlich verordnete Umbau einer ganzen Branche offiziell begründet wird, trägt das Großexperiment kein Stück bei. Solche Berichte kommentiert Merkel üblicherweise nicht. Oder sie stellt fest, es gebe eben „Herausforderungen“  – einer ihrer Lieblingsbegriffe – und sie arbeite daran, Schwachstellen zu beseitigen.

In ihrer Rede vor der Adenauer-Stiftung sagte sie, weder bezogen auf die Kritik an ihren Projekten noch überhaupt bezogen auf irgendetwas Konkretes: „Und deshalb plädiere ich dafür, dass wir uns nicht in Empörungsspiralen begeben, sondern alles daran setzen, Klarheit und Orientierung zu geben“.

Über Klarheit und Orientierung verfügt sie also schon. Sie muss sie nur noch „geben“. Nehmen andere sie nicht an, dann ist das deren Problem.

Zusammengefasst lässt sich aus ihrer Rede destillieren, wie ungefähr ihre Idealgesellschaft aussähe. Es hätten zwar nicht alle die gleiche Meinung, das ist nicht zu machen – aber das Meinungsspektrum sollte schon deutlich schmaler sein. Standpunkte dürfen einander nicht einfach gegenüberstehen, denn das suggeriert ja, sie würden sich auf gleicher Höhe bewegen. Kommunikation funktioniert in ihrem Wunschland strikt von oben nach unten: Oben ist Klarheit, Orientierung wird gegeben. Was sie nach unten durchstellt, darf dort natürlich gern auf höhere Erkenntnis abgeklopft werden. Dagegen hätte sie nichts einzuwenden. Dass es sich im Deutschland des Jahres 2018 nicht ganz so verhält, nimmt sie als Defizit wahr. Beziehungsweise, um ein älteres Merkelwort zu bemühen, sie „bedauert es auf das allerhärteste“. Das Gerede von der „Spaltung der Gesellschaft“, das auch in ihrem Referat wieder vorkam, geht in genau diese Richtung: andere drohen sich von ihr abzuspalten. Das merkelsche Gesellschaftsbild, das da vorscheint, kommt einem nicht ganz fremd vor. Es entspricht ziemlich genau dem heutigen Deutschland unter Abzug der AfD und der neu entstandenen Medien. Kaum unterschiedliche Standpunkte, die einander wirklich entgegenstehen: das war der Bundestag über Jahre hinweg bis zur Wahl 2017. Praktisch kein Binnenpluralismus: das gilt in den öffentlich-rechtlichen Medien noch heute. Wäre etwa nach dem Bericht des Rechnungshofes ein ARD-Brennpunkt über das totale Desaster der Energiewende  denkbar, einschließlich der Frage: Frau Merkel, was nun? Nein.

Aus der Vogelperspektive betrachtet ist Merkels Kanzlerschaft geradezu grotesk frei von allem Positiven: Die langfristigen Folgen ihres Gesellschaftsumbaus sind noch gar nicht abzusehen, aber sie werden sehr übel sein. Im Land hat sie einen tiefen mentalen Graben aufgerissen, das Verhältnis Deutschlands insbesondere zu den mittelosteuropäischen Ländern ist zerrüttet, möglicherweise irreparabel. Sie hat ihren Teil zum Austritt Großbritanniens aus der EU beigetragen und ihre eigene Partei in historische Tiefen geführt. Möglicherweise geht die CDU unter ihr den Weg der Democrazia Christiana in Italien, also ins Nichts. Um einen solchen Kurs unbeirrbar immer weiter zu verfolgen, ohne dass die Hand dabei zittert – dazu braucht es schon ganz besondere Fähigkeiten.

Am Ende Ihres Vortrags plädiert sie noch einmal, und zwar „für Optimismus, Zuversicht, Tatkraft statt Larmoyanz, Untergangseuphorie und Dauergenörgel“. Auch hier steckt ziemlich viel in ihren Worthülsen. Larmoyanz und Dauergenörgel, genau das ist vermutlich ihre Chiffre für Kritik jeder Sorte an ihr. „Tatkraft“ gehört ebenfalls zu den Begriffen, die ihr Denken definieren. Ihre Tatkraft ist jedenfalls beängstigend. Sie weiß, dass 2022 das letzte Atomkraftwerk vom Netz geht, dass die Stromtrassen, die Energie von den Windparks im Norden nach Süden leiten sollen, im Jahr 2022 nicht fertig sein werden, noch nicht einmal 2025. Und dass es auf absehbare Zeit keine marktfähigen industriellen Stromspeicher gibt. Deutschland wird künftig von französischem Atom- und polnischem Braunkohlestrom abhängen. Früher oder später wird es auch zu regionalen Blackouts kommen.

Von den mittlerweile inklusive Familiennachzug gut zwei Millionen überwiegend schlecht oder gar nicht Ausgebildeten, die seit 2015 hereingewandert sind, konnten bisher gerade 20 Prozent einen versicherungspflichtigen Job finden – und das unter den Bedingungen einer Hochkonjunktur mit einer Million offenen Stellen. Kaum jemand von denen, die sie ins Land gelockt hat, wird wieder zurückgehen. Völlig offen ist, wie viele sich überhaupt um Arbeit bemühen. Und ewig wird die Konjunktur nicht halten, die zurzeit noch die meisten Probleme überdeckt und abpolstert. In nicht allzu langer Zeit dürfte es auch in Deutschland tagelange gewalttätige Unruhen geben wie heute schon immer wieder in den Randbereichen von Paris und anderen französischen Städten. Merkel hat tatkräftig gleich zwei Zündschnüre angesteckt, die ihren Explosivstoff erst in einigen Jahren erreichen werden. Diejenigen, die nach ihr kommen, könnten im besten Fall, wenn ihnen ein Kurswechsel gelänge, die Folgen nur mildern. Selbst das ginge nur mit einem geradezu phantastischen Kraftaufwand.

Vermutlich wird Merkel dann als Kanzlerin a. D. sagen, bei ihr seien die Verhältnisse ja noch in Ordnung gewesen. Ihrem Nachfolger gleite alles aus den Händen. Aber man dürfe trotzdem nicht larmoyant sein.

Warum sie das alles tut? Historiker wissen in dreißig Jahren vermutlich auch nicht mehr darüber als ihre Zeitgenossen heute. Über ihre Motive redet sie ja nicht. Auch das gehört zu ihrer Methode.

In ihrer Rede benutzte sie unter anderem die schon zitierte Wendung „Untergangseuphorie“.

Das ist, immerhin, eine für ihre Verhältnisse nicht unoriginelle Prägung.


Der Beitrag von Alexander Wendt erschien zuerst bei PUBLICO.