Tichys Einblick
Sprache im Wandel

Hat der, der über die Sprache herrscht, die Macht über die Menschen?

Es gibt in der Politik und anderswo nur noch wenige Unangepasste, die sich trotz despotisch durchgesetzter Sprachregeln nicht von der freien Rede abbringen lassen. Die Sprachreiniger irren an einem ganz wesentlichen Punkt.

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In einer Veranstaltung über Migration in Frankfurt sagte Tübingens Oberbürgermeister, ob das so genannte „N-Wort“ eine Beleidigung sei oder nicht, hänge vom Kontext ab. Daraufhin wurde er mit „Nazis raus“ niedergebrüllt. Er hat recht, wenn er sagt: „Cancel Culture macht uns zu hörigen Sprechautomaten, mit jedem Wort am Abgrund.“ Und der Furor, mit dem Stürme im Netz Existenzen vernichten können, werde immer schlimmer.

Wenn man nun ein Wort tabuisieren will, müsste man eigentlich „Nazi“ zum N-Wort erklären, denn es verharmlost die Herrschaft der Nationalsozialisten. Der eigentliche Skandal ist also nicht, dass Palmer ein Wort aussprach. Der eigentliche Skandal, von dem kaum jemand spricht, ist, dass er dafür als „Nazi“ diffamiert wird. Wenn inzwischen jeder Unliebsame, jeder, der sein Recht auf freie Meinungsäußerung entgegen des Mainstreams wahrnimmt, als Nazi bezeichnet wird, dann hat der Begriff „Nazi“ offensichtlich eine Bedeutungserweiterung erfahren, mit der das Dritte Reich und unkorrekte, freie Meinungsäußerung nahezu gleichgesetzt werden.

Dazu ist der Begriff „Nazi“ das Totschlagsargument einer selbst autoritären Rhetorik. Kindermund tut Wahrheit kund: Selber, selber, da lachen alle Kälber da lacht die alte Kuh und raus bist du!

Die angebliche Diskriminierungsgeschichte des Wortes „Neger“ ist eine Erfindung

In den meinungsbeherrschenden Medien wird heute einfach erklärt, das Wort „Neger“ sei eine früher gebräuchliche rassistische Bezeichnung für Schwarze. Stimmt das? Schauen wir uns dazu den wichtigsten Zeitzeugen an:

Aus der berühmten Rede von Martin Luther King aus dem Jahr 1963: „But one hundred years later the Negro still is not free.“ In der Übersetzung: „Aber einhundert Jahre später ist der Neger immer noch nicht frei.“ Hier wird deutlich, dass das Wort „Neger“ eben keine Diskriminierungsgeschichte aufweist.

Palmers Heuchelei kommt ans Licht
Über einen Brandbrief, der alle kalt lässt
Die Logik ist offensichtlich. King nahm den Begriff für seine eigene Bürgerrechtsbewegung an, um ihm das Stigma zu nehmen – ähnlich wie die Schwulenbewegung das früher abfällig konnotierte „schwul“ beziehungsweise „gay“ für sich adaptierte – und das durchaus erfolgreich. Selbst in den 70er Jahren wurde noch in großer Selbstverständlichkeit in Schulbüchern und im Fernsehen über Negerdiskriminierung in den USA und in Deutschland und über die Rede von Martin Luther King gesprochen.

Immerhin hat es die herrschende Kaste geschafft, dass heute praktisch jeder, der das Wort „Neger“ verwendet – egal, in welchem Kontext – dies mit einem schlechten Gefühl tut. Er muss sich jederzeit gewahr sein, dass eine politisch korrekte Meute über ihn herfällt und ihn als asozialen Paria ausgrenzt.

Nun ist Palmer bei den Grünen ausgetreten. Er könne seiner Familie, seinen Freunden und Unterstützern, der Tübinger Stadtverwaltung, dem Gemeinderat und der Stadtgesellschaft die wiederkehrenden Stürme der Empörung nicht mehr zumuten, erklärte er demnach. Aber solche Menschen sind unverzichtbar, möchte man das flackernde Flämmlein der Demokratie am Leben erhalten.

Die Herrschaft der Opferideologie


Grundlage dieses Denkens in Beleidigungen ist die heute mächtige Opferideologie. Das heißt, wer auch immer sich als Opfer oder als diskriminiert fühlt, kann andere diskriminieren, wenn diese nicht den Sprachgebrauch in seinem Sinne ändern. Wer sich also zum Beispiel aufgrund seiner Kultur als Opfer fühlt, hat so das Recht, den allgemeinen tradierten Sprachgebrauch in seinem Sinne umzudefinieren. Er hat die Sprachmacht. Aber ist das legitim? Kann jede Minderheit und ihre politisch korrekten, mächtigen Anhänger mit einem Tätervorwurf von der Allgemeinheit eine Sprachänderung erpressen?

Man könnte denken, es wäre so. In Wirklichkeit ist es noch verzwickter. Denn diejenigen, die einen politisch korrekten Sprachgebrauch einfordern, sind in der Regel gar nicht betroffen. Sie spielen sich als Vormund derjenigen auf, die sie zu vertreten vorgeben. Sie üben eine moralisch begründete Macht über der Volkssprache aus. Die Sprache ändert sich also nicht von unten nach oben, sondern sie befolgt nun Befehle von oben, die auch die unten zu befolgen haben. Mit anderen Worten, der Sprachzwang einer herrschenden Kaste ist antidemokratisch.

Aber natürlich ist das, was für den einen als Zensur erscheint, für den anderen das Gegenteil, nämlich Teilhabe und Sichtbarmachung einer bislang vergessenen oder unterdrückten Geschichte. Das kann der andere ja gerne so handhaben. Aber was berechtigt ihn dazu, eine ganze Sprache und damit die Sprachausübung aller zu kontrollieren?

Sprache und Macht

Die Ausübung dieser Macht über die Sprache braucht natürlich eine Legitimität. Und das funktioniert nur, indem die angeblich zu Beschützenden als Unmündige behandelt werden, und das nennt man heute Rassismus.

Was ist aber passiert, dass die herrschende Kaste bei Benennung des Wortes „Neger“ in eine künstlich erzeugte Hysterie verfällt und den Sprecher diffamiert und sozial stigmatisiert? Natürlich ist es abhängig vom Kontext, ob ein Wort beleidigend ist oder nicht. Zudem gibt es reichlich Schimpfwörter, auf die man ausweichen könnte, wenn man es darauf anlegte. Will man die alle verbieten? Umgekehrt kann man alle politisch korrekten Worte in einen Kontext setzen, der beleidigend wirkt.

Glosse mit Buchstabensalat
Nicht nur das N- auch das P-Wort und das R-Wort geächtet – Vorsicht beim Sprechen!
Vor allem vergessen diejenigen, die den Begriff stigmatisieren, eines: Die Formel „N-Wort“, die sie benutzten, bezeichnet ja das Gleiche, nur in komprimierter Form. Jeder weiß, was gemeint ist. Die Diskriminierung hängt auch nicht an dem Begriff – sondern umgekehrt: Er drückte früher eine abfällige Haltung gegenüber Menschen mit dunkler Hautfarbe aus, die jetzt zum Glück bestenfalls in Nischen existiert. Wer den gerade ernannten neuen Berliner Kultursenator Joe Cialo von der CDU wegen dessen Hautfarbe anpöbeln würde, macht sich damit zum gesellschaftlichen Tölpel. In Wirklichkeit schwindet die Diskriminierung in Deutschland. Wer eine riesige Kampagne daraus macht, dass ein Bürgermeister ein bestimmtes Wort benutzt, suggeriert das Gegenteil: nämlich einen rasant anwachsenden Rassismus.
Der neue Tugendterror

Der Terror der Tugend, Robespierres Guillotine, ist heute die moralische Ausgrenzung und Verurteilung politisch unkorrekter Begriffe. Eskimos, Neger und Zigeuner sind ausgestorben samt ihrer Tradition in der deutschen und englischen Sprache. In den politisch korrekt gesäuberten Schulbüchern und Medien gibt es keine Eskimos mehr. Inuits bevölkern plötzlich den Norden. Warum, weiß niemand so recht. Wer definiert die politische Unkorrektheit? Auch das weiß keiner so genau. Aber die Verurteilung durch die Helfer der grauen Eminenzen ist gewiss.

Tugendwächter, die in scheinbar höherem Auftrag gegen Antisemitismus, Antirassismus und Antifeminismus massiv zu Felde ziehen, gibt es in den Medien zuhauf. Wer in der Öffentlichkeit gegen die Regeln verstößt, gegen den wird zur medialen Hexenjagd geblasen. Mit ihrer Stigmatisierung bestimmter Wörter verheddern sich die Korrekten immer mehr. Neger soll man nicht sagen. Aber Negros heißt schwarz, es gibt den Niger. In der Zeit der US-Bürgerrechtsbewegung galt einmal der Satz: „Black ist beautiful.“ „Schwarzer“ und schwarz (neuerdings in der korrekten Sprache groß geschrieben) kann man sagen, mögen die Betreffenden auch braun sein. Der derzeit korrekte Begriff lautet PoC, People of Color. Sind wir im Buntstiftkabinett?

Und die Sinti & Roma? Das sind nur zwei Zigeunersippen. Warum grenzen wir die anderen aus? Heißt das Zigeunerschnitzel jetzt Sinti-&-Roma-Schnitzel? Der von Alexandra besungene Zigeunerjunge jetzt Sinti-&-Roma-Junge? Die Sinti-Allianz plädiert genau deshalb für die Beibehaltung des Begriffs Zigeuner: „Es gibt in dem Millieu, die Saucen etc. umbenennen möchten, scheinbar die falsche Vorstellung, einem ‚Antiziganismus‘ entgegenzutreten. Die Sinti Allianz Deutschland lehnt diese Form der Sprachhygiene ab, auch jegliche Form der Sprachüberwachung. Die Mehrheit der Sinti, die wir vertreten, verfolgt diese unwürdige ‚Saucendiskussion‘ kopfschüttelnd. Es ist richtig, die Bezeichnung Zigeuner wird von uns selbst verwandt.“

Die nächste Frage ist: Wie benennen wir die ganzen anderen Zigeunerclans, die nicht Sinti oder Roma heißen? Sie durch scheinbar politisch korrekte Sprache ausgrenzen?

Heute herrscht wieder eine mittelalterliche Kultur

Achtung Glosse
Das Kasulzke-Prinzip: Bei uns können Sie sich entschuldigen
Zentral wichtig für die politisch korrekte, woke Moralbourgeoisie ist der Begriff der Schuld. Einerseits wird eine Schuld des Einzelnen zelebriert. Galt es in den 70er Jahren zu vermeiden, eine „beleidigte Leberwurst“ zu sein, ist es heute zeitgemäß, wie eine Schneeflocke (snowflake) zu empfinden und alles darauf zu überprüfen, ob man nicht irgendwelche Beleidigungen finden könne. Jede Snowflake braucht einen Safe Space, einen sicheren Ort. Der angebliche Beleidiger hat sich zu entschuldigen, also sich der Moral des Beleidigten und dem Beleidigten zu unterwerfen.

Die Forderung nach Entschuldigung steht in den heutigen Machtausübungen hoch im Kurs. Vor einigen Jahrzehnten galt das Gegenteil: „Wer mich beleidigt, bestimme ich“, sagte Klaus Kinski, um zu zeigen, dass man selbst die Entscheidung trifft, sich nicht beleidigt zu fühlen. Heute ist das umgekehrt. Kinski ging es um autonome Persönlichkeiten, heute geht es um einen Platz in der Opferhierarchie.

Die korrekte Sprache

Die Zensur von alten deutschen Wörtern ist das Gegenstück des Genderdeutsch. Was hier tabuisiert wird, wird dort eingefordert. Jeweils unter Androhung moralischer Diffamierung und sozialer Ausgrenzung. Ein Sprachdiktat steckt hinter beiden. Wer denkt, dass der, der die Sprache kontrolliert, auch die Gedanken beherrscht, der täuscht sich. Neu geschaffene Wörter erhalten bald den alten Sinn.

Wenn bei George Orwells 1984 im Doppelsprech der Slogan „Krieg ist Frieden“ auftaucht, heißt dies ja nicht, dass es keinen Krieg mehr gibt, sondern nur, dass das Wort Krieg durch das Wort Frieden ersetzt wird. Und damit erhält das Wort Frieden bald die gleiche Qualität, die ehedem das Wort Krieg besaß.

Ein Gutdenker oder Gutmensch (engl. goodthinker) ist bei Orwell eine „rechtgläubige“ Person, die nie ungute Gedanken hat. Meist fällt sie durch Frömmelei und Scheinheiligkeit auf, also durch ungute Gedanken.

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