Tichys Einblick
Interview mit Litauens Ex-Staatschef

Landsbergis: „Deutschland gleitet ein drittes Mal in den Sozialismus ab“

Die politische Korrektheit führe die Welt in den Abgrund, mahnt der litauische Ex-Staatschef Vytautas Landsbergis: Sie sei nichts anderes als die Lüge. Den Deutschen wirft er vor, sie mieden Tabuthemen. Ihre Sympathien für den Kommunismus kann er nicht verstehen.

Vladimir Shtanko/Anadolu Agency/Getty Images

Tichys Einblick: Von Ihnen stammt der Ausspruch, die Westeuropäer hätten 70 Jahre Urlaub von der Geschichte gehabt, sie hätten nur Freiheit, Frieden und Wohlstand kennengelernt und hielten das für ein Naturgesetz – und sie hätten das bei Ihnen in Osteuropa allgegenwärtige Gefühl dafür verloren, wie zerbrechlich diese großen Errungenschaften seien. Wie kommen Sie zu diesem Schluss?

Vytautas Landsbergis: Den Westeuropäern ist nicht nur das Gefühl für die Gefahr verloren gegangen, sondern auch das Gefühl für den Sinn des Lebens.

Warum?

Das müssen Sie die Westeuropäer fragen, nicht mich! Ich denke, die Vorhersagen Dostojewskis bewahrheiten sich vor unseren Augen. Wenn es keinen Gott mehr gibt, ist alles erlaubt. Alles wird gleich, die Werte gehen verloren. Alles wird nichtig, außer kurzlebigen, nichtigen Sachen. Wir haben es mit dem zu tun, was Friedrich Nietzsche vorhergesagt hat, dem letzten Menschen: konfliktscheu, sicherheitsfixiert und verwöhnt. Ohne Ziele, ohne Werte.

Sie sprechen von Morallosigkeit. Im Westen glauben viele, Moral sei links.

Sozialistische Ideen sind sehr beliebt. Ich sehe keinen Zusammenhang zwischen Sozialismus und Moral. Im Gegenteil. Die Idee, Wohlstand für viele zu haben, konsumieren, konsumieren und noch mal zu konsumieren, was ist dar an moralisch? Das sind banale Freuden.

Viele Linke sehen sich als Kämpfer für Moral, wollen die Welt verbessern.

Wie soll die Welt besser werden, wenn man die einen Menschen besser stellen will als die anderen? Diese Leute glauben, im Namen des vermeintlich Guten könnten sie Menschen unterdrücken. Das ist schon in sich unmoralisch. Aber man muss sich auch fragen, was dieses Gute ist, das sie angeblich anstreben.

Und was ist es?

Ein richtiges Ziel wäre eine friedliche Koexistenz zwischen Menschen mit guten Absichten. Nicht gut ist es, wenn man selektiert, wen man fördert und auf wen man Druck ausübt, und diese Selektion dann damit rechtfertigt, das geschehe ja nur, um jemandem oder ei­ner Gruppe zu helfen. Mit genau diesem Denken beginnt der Bolschewismus.

Was halten sie von der Politik der offenen Grenzen, die viele fordern?

Europa hat seinen Lebenstrieb einge­stellt, die Europäer wollen keine Kin­der mehr auf die Welt bringen, zumin­dest nicht genügend zur Reproduktion. Deshalb braucht Europa Menschen von außen, um seinen Konsum sicherzu­stellen. Dazu holt man dann Menschen ins Land, die aus Krisengebieten kom­men. Wie soll man mit dem Problem des Migrationsdrucks umgehen? Kann man Afrika absperren? Nein. Euro­pa abschotten? Es kommen Millionen hungriger Menschen. Stephen Hawking hat gesagt, dass der Erde noch 200 Jah­re bleiben. In 200 Jahren kann man sich erfolgreich selbst vernichten. Die Über­bevölkerung ist ein großes Problem, und ich sehe keine Lösung. Außer viel­leicht, dass die Natur eine findet. Die Frage ist, wie lange die sich von einer einzigen Gattung, dem Menschen, auf der Nase herumtanzen lässt. Die Natur protestiert schon gegen uns, aber die meisten Menschen denken nur an den nächsten Tag.

Wo ist der Ausweg?

Wir müssen die Philosophie des Lebens ändern. Dem Marxismus und der Poli­tical Correctness den Kampf ansagen, die Dinge beim Namen nennen und un­seren Verstand einschalten.

Und wenn das nicht gelingt?

Dann können wir uns aussuchen, wel­chen Krieg wir wollen, Afrika gegen Eu­ropa, China gegen Russland oder Russland gegen Amerika. Wir bewegen uns auf alle drei Szenarien zu.

Wo genau liegen die Gefahren von Marxismus und politischer Korrektheit?

Der Marxismus ist eine Ideologie, die auf der Annahme beruht, dass der Mensch für den anderen Menschen ein Feind ist, dass die Menschen einander ausnutzen, dass alles ungerecht ist und die Ungerechtigkeit zu Hass und Rache führt. Das alles will der Marxismus än­dern und die Übeltäter im Zweifelsfall vernichten. Die Bourgeoisie muss ge­hen, entweder freiwillig oder sie muss vernichtet werden. Marxismus – das sind erfundene, angeblich wissen­schaftliche Regeln, die nichts anderes sind als eine neue Religion. Man fragt nicht mehr Gott, was gut und schlecht ist, sondern die Geschichte lehrt es.

Und die Ideologen bestimmen dann, was genau die Geschichte lehrt?

Ja, bis hin zu dem Schluss, dass alle, die dagegen sind, unwürdig sind. Selbst der junge Marx hat ja von progressiven Völkern in Europa gesprochen und von rückständigen Völkern, die bald Ge­schichte sein würden. Das sei normal, schrieb Marx, und man könnte diesen Völkern auch helfen beim Verschwin­den aus der Geschichte.

Warum sind die linken Ideen heute noch oder wieder so populär?

Weil sie vereinfachen und weil sie dem Menschen seine bösen Absichten ver­süßen. Wer diesen Ideen anhängt, der braucht selbst nichts Gutes zu tun. Er fordert das Gute von den anderen, an­statt von sich selbst. Und wenn er nicht bekommt, was er will, dann macht er die anderen dafür verantwortlich, ist wütend auf die anderen, aber hinter­fragt nicht sich selbst.

Warum halten Sie die politische Korrektheit für so gefährlich?

Sie ist nichts anderes als eine Lüge. Oder deren Kaschierung. Wir sollen nicht aussprechen, was uns nicht gefällt.

Warum wurde diese Lüge im Westen so übermächtig?

Weil der Mensch dazu neigt, sich selbst zu betrügen. Der Mensch liebt die Wahr­heit nicht und auch nicht, sich selbst im Spiegel anzusehen. Er liebt es, den Spie­gel durch etwas anderes zu ersetzen – das ihm genau das Bild zeigt, das er se­hen will. Genau dieser Wunschspiegel ist die politische Korrektheit.

Ist die stärker im Westen als bei Ihnen in Osteuropa?

Mir fällt es schwer, das zu vergleichen. Aber die Menschheit wird nicht über­leben, wenn sie nicht dazu zurückkehrt, die Dinge beim Namen zu nennen.

Erinnert Sie die politische Korrektheit an Sowjetunion und Kommunismus?

Der Kommunismus hat die Menschen unterteilt in solche, die es wert sind zu leben, und solche, die es nicht sind. Ich würde das als „Klassen“-­Rassismus bezeichnen. Daran wurde dann alles andere ausgerichtet – das Regime, die Diktatur. Und das Motto war immer: Wir haben die Wahrheit auf unserer Seite. Je­der, der gegen diese Wahrheit ist, ist ein Schädling. Und den muss man vernich­ten. Keine Gespräche mit dem Feind!

In Deutschland laufen heute viele sozialistischen Ideen hinterher, und wer das kritisiert, läuft Gefahr, als „rechts“ oder als „Nazi“ diffamiert zu werden. Erinnert Sie das an die Sowjetunion?

Ja. Es war ja schon damals so, dass man, wenn man Zweifel hatte, als verdächtig galt. Oder wenn man eine Brille hatte – da galt man als jemand, der potenziell liest und damit gefährlich war. Sozia­lismus – das steht für einen Umbau der Gesellschaft und des Lebens mit Gewalt, unter Berufung auf die angeb­lichen Gesetze der Geschichte. Denen ordnet man alles unter: Man bringt je­manden um, weil er aus der falschen Klasse ist, die falsche Hautfarbe hat und das falsche Grundstück besitzt.

In Deutschland wird strikt unterschieden zwischen Sozialismus und Nationalsozialismus.

Das ist der größte Betrug, dass man jetzt immer so tut, als gäbe es einen Unterschied zwischen den Totalitarismen, zwischen nationalem und internationa­lem Sozialismus. Aber den gibt es nicht. Nur die Lackierung ist anders. Die Dis­sidenten in der Sowjetunion haben die Kommunisten rote Faschisten genannt. Und sie hatten recht. Die Diktaturen sind in ihrem Wesen alle gleich, sie sind alle faschistisch, sie setzen auf Gewalt und berufen sich auf eine Philosophie, um diese Gewalt zu rechtfertigen. De facto sind sie sozialdarwinistisch. Egal, ob rot, braun oder schwarz.

Warum wurden Sie nicht wie vorgesehen Ehrendoktor der Uni Leipzig?

Die Verleihung wurde abgeblasen, weil ich darüber sprach, dass auch die Rote Armee in Deutschland schreck­liche Verbrechen begangen hat. Das ist ein Tabuthema, die Deutschen trauen sich nicht, darüber zu sprechen. Man hat den Deutschen das Rückgrat ge­brochen, sie sind arme Menschen. Sie können sowjetische Menschen werden, leider sind sie dazu bereit.

Inwiefern?

Es ist erstaunlich, wie man sich in Deutschland denjenigen gegen­über verhält, die gegen den Kommunismus kämpften. Die Kommunisten haben nach dem Krieg die alten Konzentrationslager Hitlers wieder in Betrieb genommen, nach den braunen Faschisten dienten die den roten Faschisten. Gegenüber den Opfern des Kommunismus gibt es bis heute ein Grundmisstrauen in Deutschland. Selbst die Aufschriften auf den Denkmälern für sie sind ganz andere als bei denen, die gegen die Nazis kämpften. Da steht nichts von verbrecherischer Diktatur, gegen die sie kämpften – da ist dann nur verbrämt von Fehlern zu lesen und dergleichen. Ganz sanft. Kein Wort darüber, dass sie gegen eine kriminelle Ideologie kämpften, eine, die auf Hass baute, darauf, Menschen zu den Feinden anderer Menschen zu machen. Das sind Tabuthemen. Ich bin jetzt 86 Jahre, ich kann offen reden, mein Leben geht zu Ende, es lohnt sich nicht mehr, jemanden auf mich anzusetzen, der mir Gift untermischt oder Rufmord betreibt. Andere müssen da mehr Angst haben, offen zu sprechen.

Wie wird es weitergehen?

Die Lüge blüht. Und alle sagen sich: Wie soll man die Lüge so schlucken, ohne dass man dabei irgendjemandem Unbequemlichkeiten zumutet? Das war damals so. Und das ist auch heute so. Etwa auch im Umgang mit Putin. Genauso wie man unter Stalin sagte – bloß den Mund halten, sonst wird unser Freund im Kreml wütend, genauso macht man das heute.

Wie erklären Sie sich das Verhalten der Deutschen?

Sie begraben sich selbst. Bei ihnen ist es heute so, dass es als unanständig gilt, wenn man seine eigene Meinung hat, man muss das denken, was die Mehrheit denkt, das, was der Chef vorbetet.

Und woher kommt die Affinität zu Russland?

Die Deutschen sind den Russen in ihrer Denkweise und in ihrer Mentalität sehr ähnlich. Sie passen sehr gut zu dem russischen Imperium, das Putin bauen will. Michail Jurjew beschreibt das ganz offen in seinem Buch „Das dritte Imperium“. Sinngemäß steht da: Ein enges Bündnis Russlands und Deutschlands ist unausweichlich, das ist für beide Länder sehr vorteilhaft, das hat schon Bismarck verstanden. Deshalb wird es auch kommen. Die angelsächsische
Welt konnte das zweimal verhindern, aber das dritte Mal wird ihnen das nicht gelingen. Sobald Amerika schwach wird, wird Europa seine Souveränität verlieren. Die Frage wird nur sein, ob es unter dem Einfluss Russlands, eines russisch-deutschen Staates oder der islamischen Welt stehen wird. Wer weiß. Jedenfalls ist klar, dass der Glaube an die EU als eigenständige Kraft, die eine Rolle in der Weltpolitik spielt, nur ein Witz ist, wenn auch ein weit verbreiteter. Genau auf diesen Zerfall Europas arbeitet Russland hin.

Das sehen viele im Westen aber nicht so.

Viele Politiker bei Ihnen hofften, Russland würde sich ändern und westliche Werte übernehmen. In Moskau war man klüger. Man wusste: Der Westen wird sich den Zuständen in Russland annähern und sich verkaufen. Daran arbeitet man hart, man gibt Milliarden aus, um Europa zu zersetzen. Wenn man die Gehirne besetzt, muss man keine Territorien mehr besetzen. Genau das erleben wir heute: die geistige Okkupation Europas.

Wäre Deutschland im Zweifelsfall ein zuverlässiger Bündnispartner für Litauen?

Wir wollen enge Beziehungen mit Deutschland, wir haben sehr viel gemeinsam. Aber wir können nicht überzeugt sein, dass uns die Deutschen nicht verkaufen. Werden sie uns wirklich verteidigen, wenn wir angegriffen werden? Oder Sitzungen abhalten und diskutieren, warum man uns besser nicht helfen sollte? Weil man nicht mit Putin streiten will? Weil man lieber mit ihm Geschäfte machen wird.

In Deutschland ist die Überzeugung weit verbreitet, alle wollten doch nur Frieden. Stimmt die?

Klar. Auch Putin will Frieden. Stalin wollte den auch. Nur wollen sie den eben zu ihren Bedingungen. Wer ihre Bedingungen nicht erfüllt, der ist ein Feind, und mit dem kann man dann eben keinen Frieden haben. Es geht um Macht. Um Einfluss. Der ist für die eben wichtiger als Frieden. Es ist sehr naiv, dass so viele im Westen das nicht verstehen. Dabei hatten wir das doch in der Geschichte: Pax Romana. Rom eroberte alles, und danach war da Frieden. Klar, so einen Frieden will Putin auch. Pax Russena. Den Krieg gegen Georgien nannte man in Russland „Aktion des Erzwingens von Frieden“. Und in Deutschland, glaube ich, sehnen sich viele regelrecht nach so einem Frieden. In Moskau macht niemand einen Hehl daraus, dass man ein großes russisches Imperium will.

Warum schauen die Menschen weg?

Weil sie dumm sind. Und feige. Wenn man alle Informationen, die es gibt, sammelt und zu Ende denkt, muss man alles sehen. Aber man will es nicht.

Wie sehen Sie es, dass die umbenannten Kommunisten heute in Deutschland in einigen Bundesländern wieder mitregieren?

Ich kann Ihnen vorhersagen, dass die Kommunisten Deutschland wieder regieren werden. Die Methoden, mit denen sie die Regierung übernehmen, sind bekannt. Man muss nur in die Geschichtsbücher schauen! Verzeihen Sie mir den Galgenhumor. Es ist sehr traurig, dass die Deutschen ihre Lektion nicht gelernt haben – aus der Geschichte, aus dem nationalen Sozialismus, aus dem DDR-Sozialismus – und dass sie jetzt offenbar ein drittes Mal in den Sozialismus abgleiten.


Vytautas Landsbergis (86) war als Vorsitzender des provisorischen Parlaments das erste Staatschef Litauens nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit 1990. Er gilt als eine der zentralen Figuren beim Zerfall der Sowjetunion und riskierte für die Unabhängigkeit Leben und Freiheit. Landsbergis ist Musikwissenschaftler und war von 1978 bis 1990 Professor an der Musikakademie in Vilnius. Er war später Parlamentspräsident und bis 2014 Mitglied des EU-Parlaments.

Die mobile Version verlassen