Tichys Einblick
Merkels fahrlässige Welteinladung

Lampedusa und die Dankbarkeit

Stündlich landen in Lampedusa neue Boote an. Wir ahnen, wohin die zahlungsfähigen Kunden der Schlepper möchten. – »Wir schaffen das« ist die gefährlichste Lüge des 21. Jahrhunderts.

imago Images/Future Image

Stellen wir uns eine Frau vor, die an der Kante einer Anhöhe steht. Sie schaut aufs Tal. Die Sonne scheint ihr in den Rücken. Wenn sie weitergehen will, weiter nach vorn, dann wird sie abwärts steigen müssen.

Wenn sie den Abstieg ins Tal und die Durchquerung des Tals wohlbehalten überlebt, und nur dann, kann später ein neuer Aufstieg auf eine neue Anhöhe folgen – wenn nicht, dann nicht.

Dort, wohin sie hinabsteigen soll, hört man Steinchen hinabfallen – wie viele Steinchen werden sich unter ihren Sohlen lösen, wenn sie den Abstieg wagt? Wie oft wird ihr Fuß abrutschen, wie wird ihr Schritt im-allerletzten-Moment doch noch festen Grund finden?

Ein letztes Mal noch – ein allerletztes Mal! – will sie sich umdrehen, zurückblicken, von der Kante weg, hin zu den Feldern und Städten, aus denen sie kam, durch die sie kam, die sie verließ – verlassen musste.

Der Blick zurück lässt sie blinzeln. Da, die sind die Straßen ihrer Kindheit, wo sie als Mädchen spielte. Erste aufgerissene Knie, erste Freunde, erster Streit, erstes Versöhnen, erstes Verliebtsein, erste Hoffnung, erste Enttäuschung – erstes Wegziehenmüssen.

Da ist die Stadt ihrer Jugend. Bücher, Tanzen, nächtelange Gespräche um nichts und alles. Großer Ärger, schlimme Probleme, und doch, so sang unser Barde, ging immer wieder die Sonne auf, folgte auf Dunkelheit das Licht. Und, darüber hinaus: Auf den Knüppel der Dummheit folgten die kleinen Siege der Klugheit. (Jedoch: Der Barde ist tot.)

Auf Kindheit und Jugend aber folgten die Lebenszeitalter der praktischen Vernunft. Nicht die, die der Königsberger kritisiert – die wirklich praktische Vernunft. Wer das Leben kennt, tut sich mit Maximen schwer (das scheint ein nützliches Grundprinzip zu sein).

Als sie das Tor zur Ehe durchschritten hatte, zur Familie, zur Mutterschaft – und das hatte ihr niemand zuvor gesagt! – verzehnfachte sich die Geschwindigkeit der Zeit. Zu einigen sinnlichen Vormittagen ihrer Jugend weiß sie mehr Einzelheiten zu berichten als zu ganzen Jahren und Jahrzehnten ihrer Mutterschaft.

Nun steht sie also am Rand, an diesem Ende der Anhöhe (warum sie dort allein steht, das geht uns nichts an), und sie schaut sich um, und sie blickt zurück auf die Städte und Stätten ihres Lebens.

Es war nicht ihre Wahl. Niemand wählt, dass die Zeit voranschreitet, nur wenige verfügen über die notwendige Macht, die Zeiten auch nur ein wenig an den Zügeln zu zerren (und wir wären erschrocken, wie wenig Macht der einzelne Mächtige wirklich in seinen Händen hält).

Stehenzubleiben ist keine Option, keine Möglichkeit. Solange wir leben, bewegen wir uns voran, sei es auch ins Tal hinab – und sterben will sie nicht, noch nicht, noch lange nicht! Es gilt, den nächsten Schritt zu machen.

Wie wird sie den nächsten Schritt setzen, den ersten Schritt von der Anhöhe ihrer Vergangenheit und Gegenwart hinab, ins Tal, in die Zukunft, in die neue Gegenwart, vielleicht bald auf eine neue Anhöhe? Mit Wehmut ob des Vergangenen? Vielleicht, doch Wehmut allein wäre nicht genug, wäre vergebene Zeit wie Mühe!

»Es war schön, und es waren gut gelebte Jahre«, so sagt sie sich, »und ich will mich freuen, dass ich sie leben durfte!«

Stehenzubleiben ist keine Möglichkeit in der Zeit, im Leben, das ja in der Zeit spielt, zurückzukehren ebensowenig, außer in der Erinnerung. In diesem Geiste also wendet sie ihrer Vergangenheit wieder den Rücken zu. Beim Blick zurück hatten sich ihre Augen schnell wieder an die Sonne gewöhnt – im Rückblick ist manches heller, vieles wärmer. Der Blick nach vorn, ins Tal, erscheint ihr ungewiss.

Es wird eine Zukunft geben, wie lang sie auch sein wird. Keine neue Kindheit, keine neuen Jahrzehnte des Bangens und Hoffens, des Wachens an Babybetten, der Klassenkonferenzen und der ach-so-wichtigen Verhandlungen mit Vorgesetzten und Untergebenen, mit Kunden und Kollegen – und sie ist wahrlich froh drum, dass zu ihrer Zeit die Hoffnung greifbarer schien als heute.

Gleich bei ihrem ersten Schritt von der Anhöhe lösen sich Steinchen, und doch findet ihr Fuß einen Halt. Und dann der nächste Schritt. Und dann noch einer.

Nur 113 Kilometer

Vor wenigen Jahren noch war »Lampedusa« ein Geheimtipp unter Urlaubern – heute ist der Name jener Insel ein Synonym für die Migrationsindustrie, also die inoffizielle, aber effiziente Zusammenarbeit von Schleppern, NGOs und Wohlfahrtskonzernen, welche ausreichend wohlhabenden Afrikanern die Einwanderung in Länder mit hochspendablen Sozialsystemen ermöglicht. Die an Lampedusa nächste Landmasse ist Tunesien, nur 113 Kilometer entfernt – und das bestimmt das aktuelle Schicksal der Insel als Zwischenstation für Schlepperkunden auf dem Weg nach Deutschland.

Es ist 2020, es ist Sommer, und aktuell treffen stündlich Boote mit illegalen, aber offensichtlich zahlungsfähigen Migranten in Lampedusa ein (vergleiche etwa welt.de, 26.7.2020) – die wirklich Armen und Schwachen bleiben in Afrika. Einige politiknahe deutsche Zeitungen, die ja bekanntlich inzwischen von der Regierung offen mit hohen Millionenbeträgen subventioniert werden (und die schon mal im Besitz einer Partei sind, welche über die Subvention mit-entscheidet), sprechen in neu-orwellschem Stil wieder häufiger von »Flüchtlingen«.

Das Aufnahmezentrum in Lampedusa ist überfüllt, so berichten italienische Medien (mediterraneocronaca.it, 26.7.2020). Der Bürgermeister nennt die Lage »unkontrollierbar« und kündigt an, den »Ausnahmezustand« ausrufen zu wollen.

Matteo Salvini spricht das Offensichtliche aus: »Hier geht es nicht um Flüchtlinge, sondern, um junge, gesunde Migranten, die aus Tunesien eintreffen« (zitiert nach sn.at, 24.7.2020).

Der folgenreichste Denkfehler

Wenn Sie eine Rakete oder ein anderes Gerät in das Weltall schießen, und wenn Sie sich dabei auch nur in einer einzigen mathematischen Berechnung vertun (etwa weil Sie die falsche Maßeinheit benutzen), dann kann die Marssonde auf den Mars stürzen und verbrennen, statt Daten zu liefern (wir erwähnten es im Essay vom 23.4.2019).

Deutschland und Europa rechnen seit einigen Jahren mit gleich einer ganzen Handtabelle voller »Lieblings-Denkfehler«, und einer davon ist jener, wonach Deutschland (und, so hofft man: die Länder der EU) gratis Kost und Logis für alle migrationswilligen Bürger Afrikas anbieten können. Es ist ein arger Rechen- und Einheitenfehler – und wir können nicht anders, als an jene Marssonde zu denken.

Wenn in zehntausend Rechenschritten auch nur eine einzige Kalkulation falsch ist, wird wohl die gesamte Berechnung falsch sein, so richtig die übrigen neunhundertneunundneunzig Rechenschritte auch ausgeführt sein mögen. (Natürlich ist es logisch möglich, dass durch einen unwahrscheinlichen Zufall ein weiterer Fehler den ersten Fehler ausgleicht, doch will, sollte und also darf man darauf wetten?)

Die Menschen, die zu Kunden der Schlepper werden und in Lampedusa ankommen (wenn sie nicht vorher ertrinken), folgen auch weiterhin Merkels Welteinladung von 2015, die ja nach wie vor im internationalen Raum steht.

Der folgenreichste Denkfehler zum Thema Migration (man könnte es die »Wir-schaffen-das-Lüge« nennen), den auszusprechen oder gar zu korrigieren in Deutschland durch Propaganda und Ideologie quasi-verboten ist, besteht auch weiterhin in der geradezu irren Annahme, Deutschland könne den Migrationswilligen Afrikas »ohne Obergrenze« gratis Kost, Logis und soziale Leistungen bieten – und da hat man noch nicht von den sozialen Verwerfungen gesprochen, die man unter orwellschem Propagandavokabular wie »Partyszene« und »Einzelfälle« wegdenken will. (Selbst, wenn es Merkel und ihren Helfern gelingen sollte, gegnerische Demokratien in der EU-Zone in die Knie zu zwingen und die von ihr eingeladenen Migranten zu versorgen, wäre es kein realistisches Anliegen.)

In den Fangschnüren

Während ich diese Gedanken notiere, erreichen uns immer neue Meldungen über all die Ereignisse, die laut Propaganda gar nicht passieren dürften. Auf manchen öffentlichen Plätzen einst schmucker Städte trauen sich Bürger abends nur noch dann hin, wenn ein Polizei-Aufgebot wie beim Staatsbesuch sie gegen die »Partyszene« und die »jungen Männer« schützt – die Vorsitzende des ZDF-Verwaltungsrats (und, in für das Propagandaland Deutschland wohl bald üblichen Personalunion, Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz) von der Rent-a-Sozi-Partei fordert derweil »Zurückhaltung der Polizei«, wohl um die jungen Männer nicht zu verärgern (welt.de, 25.7.2020). Wie zu erwarten, wird die Meldung relativ still platziert, wonach ein 39-jähriger »Flüchtling« aus Ruanda gestanden haben soll, das Feuer in der Kathedrale von Nantes gelegt zu haben (dailymail.co.uk, 26.7.2020).

Eine einzige Lüge kann die ganze Welt aus den Fugen bringen – die Lüge, dass eine Gesellschaft funktionieren kann, wenn sie sich selbst belügt und nach allen Seiten grenzenlos zeigt, reißt ein Tal zwischen den guten Jahrzehnten vor Merkel, und der nächsten guten Zeit, wie auch immer diese dereinst aussehen wird.

Das Tal, das vor uns liegt, es ist das Tal der Konsequenzen der Lügen, welche die Propaganda uns lehrt, welche Abend für Abend wie giftiger Schleim in die Häuser und Herzen der Menschen gepumpt werden, diese Lügen sind das falsche Lügeneinmaleins, nach dem unsere Politik unser Schicksal errechnet.

Nicht obwohl, sondern weil wir auf ein Tal zugehen, auf das hoffentlich eine weitere Anhöhe folgt (in welchen Schriftzeichen dort auch geschrieben werden wird, ob chinesisch oder kyrillisch), weil unsere Füße sich bereits in den Fangschnüren unserer großen, offiziellen Lügen zu verfangen begonnen haben, will ich noch schnell zurückblicken – und ich blicke in Dankbarkeit zurück.

Vor allem aber…

»Nostalgie« leidet zuweilen an einem staubigen Beigeschmack, wie einer, der von seinem verstorbenen Haustier nicht loslassen wollte oder seine Falten nicht akzeptieren wollte.

Nun, von Zeit zu Zeit gönne ich mir etwas Nostalgie. Ich vermisse die Zeiten, als Wahrheit das war, was mit dem Sachverhalt übereinstimmte, und nicht die Lüge-des-Tages, die sie im Staatsfunk und Subventionszeitungen berichtet hatten. Ich vermisse die Hoffnung, die einem geschenkt wurde, die zum Greifen nah war, als hätte man ein Anrecht auf sie, als wäre Hoffnung ein Menschenrecht.

Ich bin dankbar, Lehrer gehabt zu haben, die mich die Fakten der Welt lehrten, nicht die politisch korrekten Lügen der Propaganda. Ich bin dankbar für die ungezählten schönen Sommernächte, als wir in der Kölner Innenstadt bis in den Morgen hinein feierten, ob am Dom skatend oder am Rhein, ohne einen Gedanken an unsere Sicherheit (ach, ich freute mich so, dass meine Kinder dereinst solche schönen Stunden erleben würden). Ich bin dankbar für die Genauigkeit des Denkens, die man mich zu lehren versuchte – und die Genauigkeit der Handwerker (was in Deutschland als übliche deutsche Handwerksqualität galt, das ist anderswo ein Luxus nur für die reichen Leute). Ich bin dankbar für die Ärzte, die auch mich Kassenpatienten mit ganzer Sorgfalt behandelten. Ich bin dankbar für die Höflichkeit, die ja noch nicht tot ist, nicht überall – die Herzlichkeit etwa, die mir in Bayern begegnet, lässt mich noch immer jedes Mal aufs neue dankbar sein. Ich bin dankbar für die Weisheit, die geduldige Deutsche mich lehrten – und für die Weisheit in den deutschen Büchern, die Schönheit in den großen Symphonien wie in den kleinen Sonaten (ja, einige davon österreichisch, ich weiß – hach Salzburg!). Ich danke für die Wälder und Berge, die ich erleben und erwandern durfte – bevor man begann, den Horizont mit diesen unsäglichen hohen, vogelmordenden Monstern mit ihren rotierenden Flügeln aus giftigen Verbundstoffen zu verschandeln. Ich bin dankbar für die Tage an den Seen und in den Freibädern – damals war der Sprung vom Zehnmeterbrett das einzige, wovor man sich fürchtete, wenn man im Sommer schwimmen ging. Ich bin dankbar für all die guten Werte, die heute von linken Trotteln verschmäht werden, für Zuverlässigkeit, für Pünktlichkeit, selbstbewusste Ehrlichkeit, für kluge Arbeit, die immer auch auf Sicherheit bedacht ist – das Leben muss ja morgen noch weitergehen. (Ach ja, ein Detail noch: Ich bin dankbar für die Schwarzwälder Kirschtorte, die es bei uns immer zum Geburtstag gab, dieses gefrorene, aufzutauende Wunderwerk,das man günstig beim hervorragend sortierten Discounter erwerben konnte, auch ohne Alkohol – aber bitte mit Sahne!)

Doch, ich will mich nicht der Nostalgie hingeben, nicht vollständig. Ich will nicht in Nostalgie untergehen – auch im süßesten Trinkwasser lässt sich ertrinken, wenn man hineinfällt und zu viel davon einatmet.

Nicht die Kunden der Schlepper sind Schuld an dem, was kommt – es sind unsere Politiker und Propagandisten, die denen, sich und uns Lügen erzählen – die uns derart in ein Tal führen, und zwar alle gemeinsam, inklusive derer, die sie eingeladen haben.

Habt Sorgen, und ich teile eure Sorgen – doch ich will auch dankbar sein. Manche und mancher ruft heute aus: »Ich bin froh, dass ich schon alt bin, dass ich ein gutes Leben hatte!« – wir verstehen ihn, wenn er weiter sagt: »… doch um die kommenden Generationen mache ich mir Sorgen.«

Das Tal der nächsten zwanzig und fünfzig Jahre wird eine andere Welt sein, als die, auf die wir hofften – sehr anders.

Seid dankbar, für das, was ihr hattet. Seid zu euch selbst ehrlich über das, was nun kommt. Setzt eure nächsten Schritte sehr, sehr vorsichtig.

Vor allem aber: Seid dankbar!


Dieser Beitrag erschien zuerst auf dushanwegner.com

Dushan Wegner (geb. 1974 in Tschechien, Mag. Philosophie 2008 in Köln) pendelt als Publizist zwischen Berlin, Bayern und den Kanaren. In seinem Buch „Relevante Strukturen“ erklärt Wegner, wie er ethische Vorhersagen trifft und warum Glück immer Ordnung braucht.

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