Tichys Einblick

Jonglieren mit Worten: Auf der Suche nach den inneren Emigranten

Der Begriff „Innere Emigration“ bezeichnet Tarnungstaktiken von Künstlern in unfreien Regimes. Gibt es vergleichbare Phänomene auch in der Gegenwart? Eine Spurensuche in der Schriftsteller-Szene.

Monika Maron, Schriftstellerin

imago Images/Gerhard Leber

Innere Emigration als Begriff kam unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges auf. So entzündete sich zwischen Thomas Mann auf der einen Seite und Walter von Molo sowie Frank Thiess auf der anderen ein heftiger Disput: Handelt es sich bei der „inneren Emigration“ um Verschleierung der Kollaboration oder ist nicht eher die „Riviera-Lösung“ derer abzulehnen, die sich aus dem Staub gemacht haben? Mann kehrte trotz diverser Bitten nicht nach Deutschland zurück.

In belletristischen Werken schlägt sich der Geist der inneren Emigration häufig in symbolischen Verschlüsselungen nieder. Von den katholischen Schriftstellern, die so überwintern mussten, ist neben Werner Bergengruen und Gertrud von Le Fort Reinhold Schneider zu nennen. Dessen Roman „Las Casas vor Karl V.“, 1938 als Art halblegale Schrift veröffentlicht, protestiert in zeitloser Weise gegen das „Leid des geschundenen Wesens Mensch“, indem er sich auf die „Seite des Leidens“ stellt (Joseph Ratzinger).

Schneider schildert den Disput zwischen dem Theologen Juan Ginés Sepúlveda, der die Unterwerfung der Indios aus Gründen von Staatsräson und Rassesuperiorität rechtfertigt, und dem Bischof Las Casas. Dieses Streitgespräch hat 1550 tatsächlich stattgefunden und wird in fiktionaler Verfremdung präsentiert. Las Casas argumentiert triftig, dass es sich bei den Indios um Menschen handle, nicht um Tiere. Er kann den im Roman (anders als in der Wirklichkeit) anwesenden Kaiser und die Ratsherren überzeugen. Denen, die während des Dritten Reiches sehen und hören wollten, öffneten die (scheinbar bloß historischen) Dialoge die Augen.

Ernst Jüngers „Marmor-Klippen“ brachten Goebbels zum Toben

Das wohl bedeutendste Zeugnis der inneren Emigration, das während der NS-Herrschaft publiziert werden durfte, stammt jedoch von einem Protestanten, der kurz vor Beendigung seines hundertsten Lebensjahres zur katholischen Kirche konvertiert ist: Ernst Jüngers „Auf den Marmor-Klippen“. Joseph Goebbels soll nach der Lektüre getobt haben. Er hatte die mit zahlreichen Symbolen und Anspielungen angereicherten „Marmor-Klippen“ trotz ihrer wortreichen Verhüllungen sehr wohl verstanden. Noch heute wundert man sich, dass die Schrift überhaupt gedruckt werden durfte. Vielleicht ist dieses Entgegenkommen der Machthaber Hitlers Sympathien für Jünger geschuldet, die er auch nicht abgelegt hat, als sich Jünger als Kritiker der braunen Machthaber entpuppte.

Der Erzähler lebt am fiktiven „Marina“-Ufer. In den umliegenden Wäldern treibt ein „Oberförster“ mit gewalttätigen Banden sein Unwesen. Die Schinderstätten werden in eindrucksvollen Metaphern dargestellt. Auf „Köppels-Bleck“ findet ein „Totentanz“ statt. Das Geschilderte ist ebenso zeitlos wie -gebunden, gleichzeitig nahe und fern. Die Atmosphäre changiert zwischen „ausgeformtem Nihilismus und der wilden Anarchie“. So bekämpfen sich die finsteren Gestalten untereinander – wohl eine Anspielung auf den blutig niedergeschlagenen sogenannten „Röhmputsch“. Wie die Publikation des Romans auf Regimegegner, etwa den Journalisten und späteren Politologieprofessor Dolf Sternberger, gewirkt hat, haben diese später ausführlich geschildert. Jünger bestritt nach Kriegsende eine politische Deutung.

„Natürlich, Deutschland ist ein Rechtsstaat;
darum werden Bücher nicht verboten und Schriftsteller nicht
verhaftet. Aber es gibt auch in einem Rechtsstaat Möglichkeiten,
Menschen wegen unerwünschter Meinungen die Existenz
zu erschweren oder sogar zu zerstören“
Monika Maron

Schickt es sich, einen Bogen zur Gegenwart zu schlagen? Uwe Tellkamp, vielfach preisgekrönter Autor, hat sich in den vergangenen Jahren in den politischen Auseinandersetzungen anders verortet, als es der (das betreute Denken fördernde) Kulturbetrieb empfiehlt. Er hat es gewagt, aus der Einheitsfront „gegen rechts“ auszuscheren. Natürlich erhielt er kein Schreibverbot, aber man fragte beim Suhrkamp-Verlag dezent an, ob es nicht Möglichkeiten gebe, die Rückkehr des Verirrten anzumahnen. Man beließ es dort bei Distanzierungen von der Meinung eines Autors, mit dessen Fähigkeiten man bislang viel Geld verdient hatte. Viele von den „Guten“ äußerten sich über den Geisteszustand des offenbar Therapiebedürftigen besorgt. Besonderer Anlass dafür war der Disput mit dem stromlinienförmigen Kollegen Durs Grünbein. Mit seinen Ansichten kam der Standhafte bei den Hütern der kulturellen Ordnung gerade noch durch.

Literaten, die ihre Sicht der Welt nur verklausuliert mitteilen, gibt es im freiesten Staat der deutschen Geschichte genug. Nehmen wir Monika Maron. In einem Artikel der Neuen Zürcher Zeitung vom 7. November 2019 äußert sie „galliges Gelächter“: „Natürlich, Deutschland ist ein Rechtsstaat; darum werden Bücher nicht verboten und Schriftsteller nicht verhaftet. Aber es gibt auch in einem Rechtsstaat Möglichkeiten, Menschen wegen unerwünschter Meinungen die Existenz zu erschweren oder sogar zu zerstören. Wenn Zweifel schon verdächtig sind, wenn Fragen als Provokationen wahrgenommen werden, wenn Bedenken als reaktionär gelten, wenn im Streit nur eine Partei immer recht hat, können einen alte Gefühle eben überkommen. Und dann kann man darüber verzweifeln, vor Wut toben oder darüber lachen, unser schönes galliges Gelächter.“

Zwischen Geschichte und Gegenwart: Parallelen im Chaos

Zu Diskussionen führte Marons Roman „Munin oder Chaos im Kopf“. Die Ich-Erzählerin Mina Wolf verfasst als Auftragsarbeit einen Beitrag zu einer Jubiläumsschrift über den Dreißigjährigen Krieg. Wie andere Bewohner ihres Viertels wird die Journalistin dabei vom Gesang einer psychisch kranken, ehemaligen Operndiva gestört. Die Stimmung ist gereizt. Ein solches Bild bietet sich für die Beschreibung der unmittelbaren Gegenwartslage an. Manche Sätze aus „Munin“ lesen Irritierte zweimal: „Aber immerhin waren sie zu finden, die Meldungen über zunehmende Vergewaltigungen, Messerstechereien, Raubzüge und sogar Angriffe auf die Polizei, als sei mit den Millionen Menschen, die in den letzten Jahren aus fremden Kontinenten eingewandert waren, auch der Krieg eingewandert, dem sie entflohen waren.“ Liegt im Chaos nicht die Parallele zwischen dem, was vor 400 Jahren vor sich ging, und der Umgebung der Journalistin? Das Chaos im Kopf der Journalistin nimmt im Gespräch mit einer zutraulich-orakelhaften Krähe, Munin genannt, noch zu. Wolf wird für den Aufsatz fürstlich bezahlt, er erscheint aber nicht.

Weniger Aufmerksamkeit im Vergleich zu Marons Werk erhielt Eugen Ruges Roman „Follower“. Das ist für den Autor zu verschmerzen, erzielten doch seine Titel „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ oder „Metropol“ internationale Erfolge. „Follower“ handelt von den schnell vorbeirauschenden Informationen unserer Zeit. Der Schreibstil ist idiosynkratisch. Im Durchschnitt gibt es pro Kapitel genau einen Punkt, sonst vertreten Kommata die Gattung Satzzeichen über ganze Seiten hinweg. Skizziert wird ein Bild von der Zukunft Mitte dieses Jahrhunderts. Der Protagonist Nio Schulz ertrinkt fast in Big Data. Selbstoptimierung ist großgeschrieben – in jeder Hinsicht. Datenbrillen sind omnipräsent. Brisante Botschaften finden sich jedoch mehr en passant. Warum stehen sie, kann man fragen, nicht im Zentrum? So kann man längst mittels Bomben das Klima beeinflussen – und tut das auch. Gewachsene Kulturen sterben aus, aber das ist egal. „Maskulin“ ist aus dem Wortschatz verbannt. Hassobjekt sind vornehmlich AKWs, also Anonyme Kritische Weiße (Heterosexuelle). Natürlich sind die Grenzen zwischen den Geschlechtern verwischt. Diese Stellen sind wohl die interessantesten. Man möchte noch mehr davon vernehmen. Zu weit will der Autor aber doch nicht gehen.


Dieser Beitrag erschien zuerst in Die Tagespost. Katholische Wochenzeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur, der wir für die freundliche Genehmigung zur Übernahme danken.