Tichys Einblick
Interview / TE 01-2019

Interview Wolfgang Bosbach: „Die Folge sind dann bittere Niederlagen“

Wolfgang Bosbach (CDU) gewann sechsmal seinen Wahlkreis für den Deutschen Bundestag und gehört auch nach seinem freiwilligen Ausscheiden aus dem Parlament zu den beliebtesten Politikern des Landes. Ein Gespräch über die Migrationspolitik und die Haltbarkeit der Großen Koalition.

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Tichys Einblick: Sie waren viele Jahre Vorsitzender des Bundestags-Innenausschusses. In Ihre letzte Amtszeit fiel der Beginn des Migrantenansturms. Die deutschen Staatsgrenzen waren aufgrund politischer Tolerierung scheinbar offen für alle. Bis heute gibt es Debatten darüber, ob wirksamer Grenzschutz der binnenstaatlichen Grenzen im Schengen-Raum überhaupt möglich ist. Können Sie unseren Lesern darüber Aufklärung geben?

Wolfgang Bosbach: Seit mehr als drei Jahren wird darüber diskutiert, ob es sich im Herbst 2015 tatsächlich um eine Grenzöffnung gehandelt hat oder ob die Grenzen nicht schon seit Jahren im Zuge des Schengen-Prozesses offen waren, sodass es gar keine Grenzöffnung hätte geben können. Richtig ist, dass wir im September 2015 eine Ausnahmevorschrift zur Regel gemacht haben, nämlich das sogenannte „Selbsteintrittsrecht“ im Zuge der Dublin-Regelungen. Mit der Abschaffung der Binnengrenzkontrollen im Schengen-Raum haben wir ja nicht die Staatsgrenzen abgeschafft, sondern die stationären Grenzkontrollen. Die Abschaffung der stationären Grenzkontrollen bedeutet aber keineswegs die Abschaffung der rechtlichen Voraussetzungen für eine reguläre Migration nach Deutschland. Das heißt: Passpflicht in den allermeisten Fällen für Drittstaatsangehörige. Auch die Visumpflicht ist nie abgeschafft worden. Die Einhaltung dieser rechtlichen Vorschriften setzt natürlich Grenzkontrollen voraus, aber nicht zwingend unmittelbar an der Grenze. Das kann auch im grenznahen Raum passieren. Deswegen haben wir ja die Bundespolizei. Deren klassische Aufgabe besteht in der Kontrolle, ob die gesetzlichen Einreisevoraussetzungen vorliegen oder nicht. Allerdings räumt das Schengen-Abkommen die Möglichkeit ein, dass Staaten darauf verzichten, dass der Asylantrag dort gestellt wird, wo man zum ersten Mal ein Land der Europäischen Union erreicht hat, und stattdessen die Migranten selbst in das Asylverfahren aufnehmen. Jetzt kann man darüber streiten, ob die Anwendung einer Ausnahmevorschrift über Jahre hinweg rechtmäßig ist oder nicht.

Die Bundesregierung hätte also damals, da sie sich auf einen Ausnahmetatbestand berief, zumindest binnen weniger Monate zur Normalität zurückkehren können?

Ich dürfte das allerdings so nicht sagen (lacht). Das deutsche Vorgehen war nicht rechtlich geboten, sondern es war politisch gewollt. Als dann die Bundesregierung gemerkt hat, dass sich zwei Erwartungen nicht erfüllen, hat sie ja auch mit aller Macht reagiert. Die erste Erwartung war, dass sich andere Länder der Europäischen Union am Vorbild Deutschlands orientieren und es somit zu einer gleichmäßigen Lastenverteilung bei der Aufnahme von Flüchtlingen kommt. Tatsächlich sind viele Länder in ihrer Politik restriktiver geworden. Die zweite Erwartung war, dass die Flüchtlingswelle abebbt, dass es innerhalb kürzester Zeit immer weniger würden und sich damit das Problem gelöst hätte. Tatsächlich aber floss der Flüchtlingsstrom ununterbrochen. Die Bundesregierung hat ja die Schließung der Balkanroute nach außen heftig kritisiert. Aber man war schon froh, dass sich die Zahlen dann ab Anfang 2016 deutlich reduzierten. Erst danach kam dann das Abkommen mit der Türkei.

So ein Verhalten kann man heuchlerisch nennen: Ungarn vor allem, aber auch Österreich kritisieren – und sich gleichzeitig freuen, dass die Balkanroute blockiert wurde.

Die Beschreibung ist richtig. Es war zumindest sehr zweideutig. Denn die innenpolitische Entspannung wurde ja insbesondere nach den dramatischen Ereignissen der Kölner Silvesternacht 2015/16 geradezu herbeigesehnt. Eigentlich war jedem bewusst, dass es nicht so weitergehen konnte wie im letzten Quartal 2015. Denn wir hatten in den letzten zehn Monaten 2015 mehr Flüchtlinge in Deutschland aufgenommen als in den zehn Jahren davor zusammen. Und auf diese Zahl – 890000 in einem Jahr – war Deutschland überhaupt nicht vorbereitet. Wenn wir nicht das überwältigende ehrenamtliche Engagement gehabt hätten, in Zivilgemeinden, Kirchengemeinschaften, in karitativen Organisationen, wäre der Staat völlig überfordert gewesen.

Ich fasse nochmals nach, was die Grenzkontrollen betrifft. Die EU hatte bereits im Jahr 2014, also vor der Migrationswelle, ein Verfahren gegen Deutschland eingeleitet, weil sie Einwände gegen die Schleierfahndung erhob, mit der Deutschland im Radius von 30 Kilometern ab Staatsgrenze durch die Bundespolizei Personenkontrollen vornehmen ließ. Erst 2017 stellte die EU-Kommission dieses Verfahren ein. Wie soll denn Deutschland seine Binnengrenzen wirksam schützen?

Die EU-Kommission wäre gut beraten, wenn sie sich einmal selber daran erinnerte, dass die Abschaffung der Binnengrenzkontrollen dem Versprechen sicherer EU-Außengrenzen folgte. Das war die europäische Erzählung: Wir schützen die EU-Außengrenzen gegen irreguläre Migration, und das ist die Geschäftsgrundlage für den Wegfall von stationären Binnengrenzkontrollen. Nie aber waren die EU-Außengrenzen durchlässiger als in den letzten Jahren. Das kann doch nicht ohne Auswirkungen auf Binnengrenzkontrollen bleiben.

Der zuständige EU-Kommissar behauptet das Gegenteil: Noch nie seien die EU-Außengrenzen so sicher geschützt gewesen wie heute.

Es ist doch ein erkennbarer Widerspruch, wenn die deutsche Bundeskanzlerin sagt, es sei praktisch nicht möglich, unsere Grenzen zu unseren Nachbarstaaten gegen irreguläre Migration zu schützen, die Europäische Union dagegen verspricht, dass sie genau das für die Außengrenzen gewährleisten will. Die europäischen Außengrenzen sind um ein Vielfaches schwieriger zu schützen als die Binnengrenzen der Bundesrepublik.

Systematische Binnengrenzkontrollen verstießen gegen die Personenfreizügigkeit, die im Schengen-Raum doch gewährleistet sein soll, tönt es dann aus dem Mund vieler EU-Freunde.

Niemand möchte die Freizügigkeit beschränken. Aber Freizügigkeit galt immer nur für reguläre Migration innerhalb der EU-Mitgliedstaaten für EU-Bürger, doch nicht für Drittstaatsangehörige. Übrigens ist es auch sehr interessant, dass bis zur Stunde – Gott sei Dank – noch niemand gefordert hat, die Transitbereiche an den großen Verkehrsflughäfen aufzulösen. Da findet nichts anderes als eine stationäre Kontrolle statt – und zwar Passagier für Passagier –, um die Frage zu entscheiden, ob jemand einreisen darf oder nicht. Das hat noch niemanden gestört. Die Debatten beziehen sich nur auf die Landesgrenzen.

Kommen wir zu den politischen Folgen der Migrationswelle. Bereits nach
den spektakulären Wahlergebnissen der AfD im März 2016 bei den Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz warnten renommierte Altpolitiker wie Roman Herzog (CDU), Henning Voscherau (SPD), Rupert Scholz (CDU) oder Wolfgang Gerhardt (FDP) in der „FAZ“ vor dem Totschweigen von Themen, die dem Volk auf den Nägeln brennen. Doch erklärt hat sich Angela Merkel nie – weder zur Grenzöffnung noch zum späteren Kurswechsel. Fehler wurden erst recht nie eingestanden.

Im Grunde wurde von der Bundesregierung beides nicht ausreichend kommuniziert: weder die sogenannte Grenzöffnung noch die anschließende Kurskorrektur. Vermutlich deshalb, weil man sich gar nicht eingestehen wollte, dass man im Herbst 2015 die Lage falsch eingeschätzt hatte.

Sie waren ja eine der wenigen kritischen Stimmen in der Politik, die es auch wagten, die Risiken und Nebenwirkungen des Migrationsdramas zu thematisieren. Das wurde im Volk durchaus registriert. Im Februar 2016 lagen Sie im Ranking der wichtigsten Politiker nach Wolfgang Schäuble und Frank Walter Steinmeier auf Platz 3 – vor der Bundeskanzlerin.

Ich kann mich an die damalige Zeit noch sehr gut erinnern, weil ich maßlos enttäuscht war, dass so gut wie keine nüchterne Sachdebatte stattgefunden hat. Jede Kritik am politischen Kurs wurde als Nörgelei an der Bundeskanzlerin abgetan. Das Problem haben wir heute wieder im Zusammenhang mit dem UN-Migrationspakt. Wenn es dafür überragend gute Gründe gibt: Warum kommuniziert die Bundesregierung nicht den Inhalt von Amts wegen ganz offensiv und verteidigt den Pakt?

Wie dumm muss eine Regierung sein, die aus dem Migrationsdesaster
nichts gelernt hat und erneut unter dem Radar der Öffentlichkeit ein so brisantes Thema vorantreibt?

Manchmal erweckt die Bundesregierung bei mir den Eindruck: Lasst uns mal in Ruhe arbeiten. Wir machen das schon, und wir wissen auch, was für das Land und für die Bevölkerung gut ist. Wenn es dann Kritik gibt, dann heißt es: Ihr habt die Großartigkeit des Werkes nicht verstanden. Aber wenn ich gute Sachargumente habe, dann muss ich doch keine lebhafte und kontroverse öffentliche Debatte scheuen. Wenn man diese Debatte allerdings nicht offensiv führt, dann darf man sich nicht wundern, dass sie an anderer Stelle stattfindet und dass man dann erst den Populisten die Möglichkeiten gibt, durch Halbwahrheiten oder gar Unwahrheiten Stimmung zu machen.

Jetzt zur aktuellen politischen Lage. Die CDU verliert in zwei Richtungen: Die Grünen ernten Mitte-Links-Wähler aus dem Unionsmilieu, die AfD räumt die konservativ-nationalliberal Gesinnten ab. Mit welcher Strategie soll die Union diesen Aderlass stoppen?

Was mich am meisten erstaunt, ist die große Gelassenheit, mit der die Parteispitze – und damit ist nicht nur Angela Merkel gemeint, sondern auch Vorstand und Präsidium der CDU Deutschlands – in den letzten Jahren die mageren Wahlergebnisse hingenommen hat. Ich hatte nie das Gefühl, dass es die Parteispitze wirklich mal aufgeregt hat, wenn wir verloren hatten. Früher war das erklärte Ziel „40 Prozent plus x“. Heute ist erklärtes Ziel, dass nicht gegen uns regiert werden kann. Doch die Parteien müssten eigentlich den Anspruch haben, so viele Stimmen zu bekommen, dass sie ihre politische Überzeugung in praktische Politik umsetzen können.

Ja, Ihre Feststellung ist durchaus richtig, dass wir in alle Richtungen verlieren, was die Sache aber nicht besser macht. Zu den kuriosesten Argumenten gehört: Ja keine politische Kurskorrektur, denn wir verlieren in alle Richtungen! Das ist ein wirklich originelles Argument. Aber die Flüchtlingspolitik hat das Land gespalten und die Partei auch, die CDU mehr als andere Parteien – mit dem Ergebnis: Wer mit der Flüchtlingspolitik überhaupt nicht einverstanden ist, ist – jedenfalls zu einem Teil – zur AfD gegangen. Wen die harten Töne, zum Beispiel der CSU, gestört haben, der ist dann zu den Grünen gewechselt. Die breite Abdeckung des politischen Spektrums, von der demokratischen Rechten bis links der Mitte, findet dann nicht mehr statt, wenn sich diese Ränder lösen und zur politischen Konkurrenz gehen oder in die politische Wahlenthaltung.

Als ich in den 90er-Jahren noch für die Grünen im Bonner Bundestag saß und Helmut Kohl in seiner vierten und letzten Amtsperiode Kanzler war, repräsentierte die Union tatsächlich mit Köpfen die personelle und programmatische Bandbreite einer großen Volkspartei. Unter Angela Merkel dagegen reduzierten sich Personal und Programmatik auf Beliebigkeit.

Das trifft zu. Helmut Kohl hatte überhaupt kein Problem mit leidenschaftlichen und kontroversen politischen Debatten in der Partei. Er hatte überhaupt kein Problem, dass auf der einen Seite Heiner Geißler und Norbert Blüm waren und auf der anderen Seite auch Repräsentanten des national-konservativen Spektrums …

… Alfred Dregger zum Beispiel oder auch Erika Steinbach …

… solange nicht die Führung von Helmut Kohl infrage gestellt wurde (lacht). Solange nicht seine politische Führungsrolle angekratzt wurde, hatte er mit innerparteilichen Debatten kein Problem.

Wenn ich Ihren Hinweis aufgreife, dann wird die Union – egal, wer sie künftig führt – wieder eine programmatische Bandbreite zulassen müssen, die sich auch in der personellen Profilierung mit unterschiedlichen Akzenten abbildet. Natürlich immer mit einem Mindestmaß an Loyalität, damit klar ist, dass durchaus ein gemeinsames Interesse aller Akteure an guten Wahlergebnissen besteht.

Hier lässt sich eine Metapher aus dem Fußball gebrauchen. In der Kabine darf es ruhig mal knallen, wenn man aber auf dem Platz ist, dann wird man nur gemeinsam Erfolg haben. Wenn aber viele Mitglieder, auch Wählerinnen und Wähler, das Gefühl haben, meine politischen Vorstellungen und Ziele werden in der Partei noch nicht einmal mehr diskutiert und finden überhaupt nicht mehr statt, dann darf man sich nicht wundern, wenn sie der Partei den Rücken zudrehen.

Ich nenne ein Beispiel aus meiner früheren Partei. Die Grünen können sich glücklich schätzen, dass sie mit Boris Palmer einen bundesweit bekannten Oberbürgermeister haben, der lautstark und medienwirksam die negativen Folgen der Masseneinwanderung thematisiert. Viele linke Grüne würden ihn zwar am liebsten bei der AfD verorten, aber er gilt auch bei bürgerlichen Grün-Wählern als Stimme der Vernunft. Wenn es der Union nicht gelingt, mit glaubwürdigen und vernehmbaren Köpfen auch ihre alten nationalliberalen Milieus anzusprechen, dann wird die AfD weiter reüssieren. Ohne das Versagen der Union in der Migrationskrise wäre die AfD nach ihrer Selbstzerlegung im Frühjahr 2016 – dem Ausscheiden fast der kompletten Europaparlament-Fraktion aus der Partei – nicht wieder neu gestartet.

Ich kann mich noch gut erinnern, dass es am Anfang hieß, die AfD ignorieren wir noch nicht einmal, die thematisieren wir nicht. Wenn wir nicht darüber sprechen, fällt es den Leuten gar nicht auf, dass es diese Partei gibt. Das war eine riesengroße Fehleinschätzung. Mit denen setzen wir uns nicht in eine Talkshow, meinte unser Fraktionsvorsitzender Volker Kauder damals deklamieren zu müssen. Die Erwartung war, dass es sich bei der AfD um ein vorübergehendes Phänomen handle, so wie früher die Republikaner, die DVU oder andere rechte Parteien. Auch die Wähler fühlen sich ausgeschlossen, wenn sich die Etablierten nicht mehr für ihre Sorgen interessieren. Ist es verwunderlich, wenn sie sich dann auch nicht mehr für ihre alten Parteien interessieren? Die Folge sind dann bittere Wahlniederlagen.

Sie kündigten Ihren Rücktritt vom Amt des Innenausschussvorsitzenden im Bundestag im Juli 2015 an, weil Sie sich in der Euro- und der Griechenland-Rettungspolitik vom Fraktions- und Parteiestablishment vorhalten lassen mussten, dass Sie sich mit Ihrer ablehnenden Haltung illoyal verhalten würden.

Man hat mir damals unmissverständlich erklärt: Wer ein Führungsamt innehat, der verdankt das der Fraktion. Der muss dann auch solidarisch sein mit der Fraktionsführung. Dann habe ich gesagt, wenn das die Argumentation ist: Auf das Amt kann ich gut verzichten, auf meine Haltung nicht.

Mit dieser Haltung haben Sie in den Monaten danach in der Bevölkerung hohe Zustimmung erfahren. Insgesamt sechsmal haben Sie mit Spitzenergebnissen Ihren Wahlkreis direkt gewinnen können. Bemerkenswert für mich ist übrigens, dass sämtliche Unionsabgeordneten, die sich bei der Euro- und Griechenland-Rettung gegen die Mehrheit der Fraktion stellten, direkt in ihren Wahlkreisen gewählt waren. Kein einziger Listenabgeordneter befand sich unter den „Neinsagern“.

Das war auch interessant. Diese Erfahrung hat mich auch all die Jahre begleitet, oft mit Schmunzeln, wenn wir nach Wahlen wieder nach Bonn und dann Berlin zurückkamen. Denn die Kolleginnen und Kollegen, die vielleicht 35 Prozent erreicht hatten, wollten dann uns, die 50 Prozent Zustimmungswerte erzielt hatten, erklären, wie man richtig Politik zu machen hat.

Jetzt noch ein Blick in die Glaskugel: Wie lange bleibt Angela Merkel Kanzlerin? Hält die Koalition bis zum Halbzeit-Evaluierungstermin im kommenden Herbst? Gibt es einen Koalitionswechsel in Richtung Jamaika oder gar Neuwahlen?

Die SPD hat eine Sollbruchstelle in den Koalitionsvertrag eingebaut. Zur Halbzeit will sie anhand der konkreten politischen Ergebnisse überprüfen, ob sie in der Regierung bleibt oder nicht. Stand heute wird die SPD Neuwahlen fürchten wie keine andere Partei. Sie kann dann, wenn sie Neuwahlen provoziert, in der politischen Bedeutungslosigkeit verschwinden. Denn bisher ist die SPD immer angetreten, um politisch zu gestalten, und nie, um in die Opposition zu gehen. Die Sehnsucht nach der Opposition ist ja erst nach der letzten Bundestagswahl durch Kevin Kühnert & Co befeuert worden. Aber gerade weil weder SPD noch Union ein ernsthaftes Interesse an Neuwahlen haben, gehe ich davon aus, dass die Koalition bis zum Ende der Wahlperiode halten wird. Nicht weil beide Seiten die Koalition unbedingt wollen und restlos begeistert sind, sondern weil Neuwahlen eine Reise ins Ungewisse wären. Wenn die SPD aussteigt, wird es vermutlich auch keine nahtlose Wiederbelebung von Jamaika geben. Nicht zuletzt deshalb übrigens, weil sich die Grünen jetzt in einer deutlich stärkeren Position befinden als vor einem Jahr.

Wenn diese Koalition aus Angst vor Neuwahlen zusammenbleibt, dann befürchte ich eine weitere unverantwortliche Ausgabenpolitik, weil SPD und Union im Kampf gegen einen „deutschen Trump“ das frustrierte Volk mit neuen und teuren Sozialleistungen wieder ködern wollen.

Ihre Befürchtung ist leider nicht ganz unberechtigt. Denn alle Ausgaben sind sozialpolitisch sicher gut zu begründen. Aber es handelt sich vorwiegend nicht um einmalige und rentierliche Investitionen für Zukunftsaufgaben, sondern um konsumptive Dauerausgaben, die aufgrund der Demografie tendenziell eher steigen als sinken werden. Gleichzeitig laufen wir in eine konjunkturelle Situation, in der wir nicht davon ausgehen können, dass wir weiter starkes Wirtschaftswachstum und damit ständig steigende Steuereinnahmen haben werden.

Wir unken gemeinsam. Aber als gute Katholiken, Sie als Rheinländer und ich als Oberschwabe, stirbt natürlich auch bei uns die Hoffnung – wie bei Luther und damit ökumenisch – zuletzt.

Wir bleiben weiter der Kirche treu (lacht).

Herzlichen Dank für das Gespräch.


Das Interview ist in der Ausgabe 01-2019 von Tichys Einblick erschienen.