Tichys Einblick
Deutsche „Teil-Opposition“

„Demokratie ohne Streit vergammelt“

„Ohne Streit und Konflikte vergammelt die Demokratie“, mahnt der Politikwissenschaftler Jerzy Maćków. Er sieht in Donald Trump auch eine Chance für die amerikanische Demokratie – und Populismus als normale Erscheinung in einer freien Gesellschaft. Ein Interview.

Bilder: Pool/Getty Images | Privat

Frage: Viele sehen die USA unter Trump und Europa auf dem Weg in die Unfreiheit. Trifft das zu?

Maćków: Es gibt die so genannte Welle des Populismus, die durch beide Kontinente geht. Um die Frage zu beantworten, ob sie die Freiheit bedroht, müssen wir zuerst definieren, was wir in diesem Fall unter Freiheit verstehen. Es ist sehr bezeichnend, dass man aktuell sehr wenig über die Demokratie als Garantie der politischen Freiheit spricht.

Wie definieren Sie die Freiheit?

Maćków: Es geht hier um politische Freiheit. Also Freiheit der politischen Wahl und Beteiligung. Und die Freiheit der Institutionen, die beides gewährleisten sollen. Die Annahme, dass die Populismus-Welle automatisch diese Freiheit bedroht, ist voreilig.

Warum?

Maćków: Weil zu einer freien Gesellschaft auch eine freie, populistische Reaktion auf Missstände gehört. Statt diese Reaktion als undemokratisch zu desavouieren, wäre es sinnvoller, diese Energie auf die Missstände zu richten.

Dann müsste man den Begriff des Populismus definieren und untersuchen, inwieweit er zur Diskreditierung abweichender, aber legitimer Meinungen missbraucht wird?

Maćków: Selbstverständlich gibt es viele Definitionen des Populismus. Wenn wir ihn begreifen als Kritik an Eliten und das Anbieten einfacher Lösungen für nicht immer leicht lösbare Probleme, dann gehört er von jeher zum Arsenal der Politik in demokratischen Ländern. Er nimmt allerdings dann Oberhand, wenn die Politik einen Problemstau produziert hat. Er kann unter Umständen ein Mittel sein, um diesen Problemstau zu beseitigen.

Tut er das?

Maćków: Populismus ist gleichzeitig eine große Chance und eine große Gefahr. Wenn man auf ihn falsch reagiert, droht er die rationale Politik zu überwuchern. Setzt man ihn geschickt ein, ist es eine zu begrüßende Chance.

Lassen Sie uns konkreter werden. Sehen Sie dann auch Trump als Chance?

Maćków: Ich bin nicht arrogant genug, davon auszugehen, dass Millionen Amerikaner, darunter gebildete und verantwortungsvolle Menschen, sich irren müssen, wenn sie ihn als eine Chance für ihr Land wahrnehmen. Grundsätzlich wird das Schicksal einer Demokratie im betroffenen Land entschieden, nicht durch Urteile, die von außen kommen. Insofern sind wir als Außenstehende dazu gezwungen, es bei aller Skepsis zu akzeptieren, dass Trump auch als Chance für die Erneuerung der amerikanischen Demokratie und für die Lösung der Probleme der Vereinigten Staaten gesehen wird.

In Deutschland jedenfalls wird er fast ausschließlich als massive Gefahr für die Demokratie in den USA wahrgenommen. Können Sie konkreter beschreiben, worin die Chance besteht bzw. gesehen wird?

Maćków: Er spricht und packt Probleme an, die sehr viele US-Amerikaner bewegen. Die Migrationspolitik, den Verfall der Infrastruktur, die dramatische Staatsverschuldung, das teure militärische Engagement in der Welt und vieles andere. Er respektiert die Regeln des politischen Systems, insbesondere die Entscheidungen der Gerichte. Gefährlich mag seine Rhetorik erscheinen, aber bei jeder politischen Analyse soll man zwischen Rhetorik und Realität zu unterscheiden wissen. Die Realität stellt sich so dar, dass Trump augenblicklich nicht über weniger Unterstützung bei den Wählern verfügt als am Tag seiner Wahl.

Aber fügt seine populistische Art der demokratischen Kultur nicht massiven Schaden zu?

Maćków: Wahrscheinlich. Nun stellt sich aber die Frage, ob er darauf verzichten kann, wenn er sein Programm durchsetzen will. Ein Beispiel: Schon Obama hat versucht, die internationale Rolle der USA zurückzufahren. Selbstverständlich aus Kostengründen. Er ist damit im Großen und anzen gescheitert. Trump hat dieses schwierige Erbe übernommen. Dass er sich populistischer Mittel bedient, ist zweifellos auch die Folge von Obamas Scheitern.

Glauben Sie, dass viele Probleme der USA nur mit Populismus zu bewältigen sind?

Maćków: Es ist müßig, darüber zu diskutieren. Wir erleben gerade, wie das geschieht. Und nicht Trump allein ist daran schuld. Ich habe doch das Beispiel seines Vorgängers genannt, der in acht Jahren nicht das getan hat, was er versprochen hatte.

Das klingt wie eine positive Einschätzung Trumps. Sehen Sie nicht die Freiheit bedroht?

Maćków: Ich versuche, den Populismus in den Vereinigten Staaten nicht als Problem einer einzelnen Person zu sehen, sondern als eine Reaktion auf Missstände, die in vorangegangenen Jahrzehnten angewachsen und nicht gelöst worden sind. Dabei spielt es überhaupt keine Rolle, dass ich persönlich Trumps Rhetorik nicht viel abgewinnen kann.

Das klingt sehr nüchtern in Vergleich zu der sehr negativen Einschätzung von Trump, die in den deutschen Medien vorherrscht…

Maćków: Der Fokus wurde zu früh auf die vermeintlichen Freiheitsbeschränkungen in den USA gerichtet, wodurch die Zuschauer und Leser den Eindruck bekommen können, das Land habe keine Probleme außer einem Präsidenten, der durch eine demokratische Wahl an die Macht gekommen ist. Ich bin überzeugt, dass dies ein falscher Ansatz ist.

Nochmal – sehen Sie die Freiheit nicht bedroht?

Maćków: Ich sehe keine gravierenden Probleme der amerikanischen Demokratie. Sie befindet sich in einer besonders schwierigen Phase und kommt mit den Herausforderungen zurecht.

Inwiefern?

Maćków: Das Land verändert sich dynamisch, es gibt Konflikte, Streit, und das System lässt das zu. Das ist doch für jeden Demokraten ein erstrebenswerter Zustand.

Aber das sehen viele in Deutschland eher umgekehrt – Konflikt und Streit gelten bei vielen hierzulande als demokratieschädlich.

Maćków: Das Gegenteil ist der Fall. Demokratie ohne Streit und Konflikte vergammelt.

Vergammelt die deutsche Demokratie?

Maćków: Ich würde mir mehr Konflikt und Streit wünschen. Besonders in einem Land, in dem die Große Koalition sich jahrelang größter Popularität erfreut.

Was ist falsch an der Großen Koalition?

Maćków: Lassen Sie da trennen zwischen den Großen Koalitionen vor 2017 und danach. Heute haben wir faktisch keine Große Koalition, weil die sie bildenden Parteien in der langen Ära der echten Großen Koalitionen sich auf einen Weg des Untergangs begeben haben. Sie sind so geschrumpft, dass wir eine normale Regierungsmehrheit und eine relativ starke Opposition haben, was der deutschen Demokratie nicht schlecht bekommen ist.

Nochmal – was ist falsch an der Großen Koalition?

Maćków: Sie vernichtet den politischen Wettbewerb, der neben der Rechtsstaatlichkeit der Grundpfeiler eines demokratischen Systems ist. Wir können also sagen, dass Deutschland vor 2017 immer weniger demokratisch geworden ist. Wenngleich es zum Glück Rechtsstaat geblieben ist.

Heute hat man den Eindruck, dass zumindest Teile der Opposition eher damit beschäftigt sind, die Regierung zu unterstützen als sie zu bekämpfen.

Maćków: Halten wir zunächst das Positive fest: Wir haben nach mehreren Jahren wieder eine nennenswerte politische Opposition im Parlament. Das ist ein Grund zum Jubeln…

…meinen Sie die AfD?

Maćków: Ich meine alle oppositionellen Parteien. Ihre Qualität und die Qualität ihrer oppositionellen Arbeit sind eine andere Geschichte…

…finden Sie wirklich, dass die Grünen agieren wie eine Opposition?

Maćków: So mancher Politologe spricht in diesem Zusammenhang von Teil-Opposition: Das ist zwar eine Besonderheit, aber nicht unbekannt in der Politik…

…ist das dann, zugespitzt, nicht eine Schein-Opposition?

Maćków: Nein. Eine Scheinopposition wäre es, wenn die Grünen die Privilegien einer Regierung in Anspruch nehmen würden wie Ministerialposten etc. Das tun sie selbstverständlich nicht.

Ist es dann eine Zwitteropposition?

Maćków: Es geht darum, dass die Grünen de facto keinen grundlegenden Wandel der Politik anstreben und darin der Regierung ähneln.

Was würde dieser Wandel beinhalten?

Maćków: Das ist doch offensichtlich: Statt der heutigen politischen Flickschusterei brauchen wir grundlegende und durchdachte Reformen: der Bundeswehr, der Familienförderung und der Bildung. Wir brauchen eine Demokratisierung der EU. Wir müssen die Infrastruktur erneuern, auch im digitalen Bereich. Um nur einige Beispiele zu nennen.

Wie steht es mit dem Willen zum Wandel bei den anderen Oppositionsparteien?

Maćków: Dass die AfD und die Linke keine Teil-Opposition betreiben, ist offensichtlich. Das Problem besteht darin, dass sie nicht regierungsfähig sind, was die AfD sogar ganz offen zugibt. Sie werden auch beide von den anderen Parteien als koalitionsunfähig gesehen, bis auf Teile der SPD, die mit der Linken auch auf Länderebene koaliert. Aber das kann sich selbstverständlich schnell ändern.

In Bezug auf AfD oder Linke?

Maćków: Auf alle. Das größere Problem ist also die Regierungsunfähigkeit.

Warum sind sie regierungsunfähig?

Maćków: Vor allem die AfD vermittelt den Eindruck, dass sie eine Partei mit einem einzigen Thema ist: Flüchtlinge. Aber auch sie schlägt diesbezüglich keine Lösungen vor.

Ihrer Aufzählung nach wäre dann die FDP neben den Grünen die einzige regierungsfähige Opposition?

Maćków: Sie ist regierungsfähig, es ist aber nicht klar, ob sie einen Wandel der Politik will.

Das ist ein verheerendes Bild der politischen Landschaft, das Sie zeichnen. Zwei Oppositionsparteien, bei denen nicht klar ist, ob sie einen Wandel der Politik wollen, und zwei, die einen Wandel wollen, aber nicht regierungsfähig sind. Wie soll so eine Demokratie funktionieren, sie lebt doch von Alternativen?

Maćków: Eine sehr gute Frage. Ob das verheerend ist, wird sich allerdings erst zeigen, wenn die politische Konstellation ins Wanken gerät.

Ist sie das noch nicht?

Maćków: Wir haben immer noch eine Regierung, die über eine stabile Mehrheit verfügt. Sollte das nicht mehr der Fall sein, ist gerade ein demokratisches System dazu prädestiniert, Alternativen anzubieten.

In der Theorie ja, aber dass es in der Praxis nicht so aussieht, haben Sie gerade selbst diagnostiziert.

Maćków: Gerade das Beispiel der Populisten wie Trump zeigt, dass auch politische Akteure, die heute nicht bekannt sind, diese Alternative bieten können. Auch Frankreich ist ein gutes Beispiel dafür.

Dort ist die alte Parteienlandschaft kollabiert. Kann das auch in Deutschland passieren?

Maćków: Wenn sich die etablierten weiter dem notwendigen Wandel verschließen werden, selbstverständlich. Das Beispiel der Großparteien, insbesondere der SPD, zeigt das anschaulich.

Wir stehen also vor aufregenden Zeiten?

Maćków: Wir sollen keine Angst vor Zukunft haben. Wir leben in einer Demokratie in einer freien Gesellschaft, wir werden die sich anbahnenden, manifesten Konflikte überstehen. Nochmals: Demokratie ohne Streit und Konflikte vergammelt.


Jerzy Maćków (57) ist Professor für Vergleichende Politikwissenschaft an der Universität Regensburg. Er ist Autor mehrere Bücher, zuletzt erschienen: „Die Ukraine-Krise ist eine Krise Europas“, edition.fotoTAPETA, Berlin 2016.