Tichys Einblick
Geschichten aus dem Lockdown

Im Oberharz lässt sich der Lockdown aushalten

Mit dem Schnee kommen die Lockdown-Entfliehenden aus weit entfernten Städten in den Oberharz. Die Corona-Maßnahmen scheinen den kleinen Ort mitten im Winter aus dem Winterschlaf zu reißen. Von Gregor Leip
Schicken auch Sie uns Ihre persönlichen Geschichten und Erfahrungen.

Wir nehmen uns immer viel vor, meine Tochter und ich in unserer Oberharzer Bergstadt, im alten Haus der Großmutter, auf den Weiden, dort wo das Pony der Tochter steht und im Wäldchen, wo wir das Holz holen im Winter für den Küchenofen, um etwas einzukochen, zu mosten oder einfach nur gemütlich davor zu sitzen, das Türchen zur Brennkammer einen Moment aufzulassen und es einfach mal prasseln zu lassen.

Die sieben Harzer Bergstädte Clausthal, Zellerfeld, Andreasberg, Altenau, Lautenthal, Wildemann und Grund waren schon vor Generationen durch den Abbau von Silber aus unzähligen Gruben wohlhabend und zum Reiseziel der umliegenden Großstädte Braunschweig und Hannover geworden. Noch von Hamburg, Bremen und Berlin kamen Kurgäste, und sogar von fremdsprachigen aus den flachlandigen Niederlanden wird berichtet.

Am liebsten kamen sie im Winter, weil der Schnee hier im Oberharz zuverlässig noch bis Ostern liegenblieb. Ganze Kolonnen von Touristen fuhren auf Loipen, von Schanzen oder nur mit dem Schlitten ins Schneevergnügen. An den Wegen standen manchmal einheimische Kinder und verkauften Haselnüsse. Das lockte die Eichhörnchen aus ihrem Dickicht, sie wurden zahmer, gieriger und irgendwann reichte ein „Nuss, Nuss, Nuss“ in den Wald gerufen und schon schoss ein Eichhörnchen heran mit seinen rotbraunen Pfoten auf weißen Grund, so federleicht, das kaum eine Spur zu sehen war, wenn es ein kurzes Stück am Boden lief. Nur ein Huschen wie eine schüchterne kleine Schneewehe und die Nuss war vom Handschuh verschwunden.

Das ist aber schon lange vorbei. Anfang der Neunziger Jahre schloss in Bad Grund die letzte Silberhütte des Oberharzes, über eintausend Kumpel sangen noch einmal ihr Glück auf, Silber war zwar noch genug im Berg, der Abbau in Deutschland aber nicht mehr lohnend, im Ausland wurde das Edelmetall längst kostengünstiger abgebaut.

Und als die Männer nicht mehr in den Berg gingen, und als wäre das nicht schon genug an Elend, blieb auch noch der Schnee aus, jedenfalls in dieser jährlich wiederkehrenden Gewissheit. Die gab es nur noch ganz oben auf dem Brocken, der mit über eintausend Metern höchsten Erhebung des Harzes, dort, wie die Hexen auf dem Besen reiten und schmutzige Lieder singen.

Es kamen keine Kurgäste mehr. Viele der arbeitslosen Bergleute zogen mit ihren Familien weg und auch die einst von den Bergleuten mühsam angelegten Bergseen verwaisten bald ganz. Ja, irgendwo ganz tief im Wald gab es eine Enklave Nudisten am See, aber sie blieben die Ausnahme, und auch die Nackten wurden immer älter und weniger. Kein sommerlicher Trubel mehr am stillen See, dort, wo in einer anderen Zeit nach anregender Wanderung die Gäste der Bergstädte Rast und Erfrischung suchten.

Von Braunschweig kommend, zerstreuen sich heute schon bald nach der Abfahrt Seesen die letzten Autoschlangen. Und noch einmal zehn Kilometer weiter hinter dem Hübichstein ist man ganz für sich auf der sich den Berg so gemächlich hinauf schlängelnden alten Bundesstrasse.

Die Tochter wohnt mit der Mutter oben am Berghang in einer der zahlreichen Südtiroler Siedlungen. Ja, die modernen Zeiten haben auch hier Einzug gehalten, man wohnt räumlich getrennt. Das gab es bei den Südtirolern seltener, die kamen in den Dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts mit dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich. Mit dem Verbleib Südtirols bei Italien war es den Einwohnern der Region freigestellt gewesen, Italien zu verlassen und als Deutsche „heim ins Reich“ zu kommen.

So kamen auch einige Hundert Tiroler in den Oberharz und hier nach Grund. Ihnen wurde am Hang eine fesche Fachwerksiedlung gebaut. Fast einhundert Jahre später gibt es hier aber keine Nachfahren der Südtiroler mehr. Ihre Häuser stehen heute unter Denkmalschutz. Teils hatten sich die Nachfahren über das umliegende Land verteilt oder die Kinder sind mangels Arbeit ohne Grube gleich ganz weggezogen. Ein paar der Familien sind nach dem verlorenen Krieg auch wieder in ihre alte Heimat zurückgekehrt. Nationalität spielte nach dem Zusammenbruch keine Rolle mehr.

Inzwischen haben die Ortsansässigen und Neuzugereiste die Siedlung übernommen, nur die rotweiße Fahne der alten Südtiroler Heimat weht noch am Siedlungseingang als letzte Erinnerung ihrer einstigen Bestimmung.

Ich hatte der Tochter versprochen, ihr Pony Ole von Grossmutters Weide gleich neben der Grube „Hilfe Gottes“ zu holen und mit dem Vierbeiner durch die Wälder den Berghang hinauf zu ihr zu kommen, um sie abzuholen.

Dieses Jahr ist hier vieles ganz anders: Märchenhaft verwunschen liegt der Schnee in den Wäldern, auf den Wegen und an den Berghängen, wo er sich die letzten Jahre kaum noch für länger sehen ließ. Konstant um Null Grad bleiben die Temperaturen über Tage hinweg und so bleibt der Schnee einfach liegen, als wäre das die leichteste Übung, immer wieder aufgefrischt noch durch dieses am Morgen und in der Dämmerung so schweigsame Schneerieseln.

Einige Tannen haben bereits unter der Last des Schnees in den Zweigen aufgegeben und sind lang hingeschlagen über die Wanderwege oder mitten hinein in ihren Ursprungsort, in die dichten Wälder, dort wo es immer noch ein paar Grad kälter ist.

So wandere ich mit Ole am Strick über die weißen Wege, die hier dicht gesäumt sind von den so wundersam weiß gepuderten Bäumen. Vom Tal kommend über die Berge hinweg bis zum Hang hinauf, an dem die Tochter wohnt. Dort angekommen erwartet sie mich schon dick eingepackt vor der Tür, das Pferd wechselt den Führer und ein paar Äpfel und Möhren hat das Kind schon in seinen Schneeanzug gestopft, um das Tier für jeden neuen kurzen Aufstieg zu belohnen oder um einen flotten Abstieg noch attraktiver zu machen. Die Möhren leuchten im Schnee noch viel orangener als schon in der gut ausgeleuchteten Auslage im Verkauf.

Den Abstieg zurück zur Weide nehmen wir den Weg vorbei an den alten Wandertreffpunkten oben am Hübichstein vorbei und entlang einer „Weltwald“ genannten Touristenattraktion. Der wurde schon in den 1970ern großzügig angelegt aus tausenden exotischen Bäumen und Sträuchern samt hübscher Beschilderung sogar mit den lateinischen Namen darauf. Alles für Besucher, die gar nicht mehr kommen wollten.

Heute aber sind schon am Hübichstein kurz hinter der Südtiroler Siedlung alle Parkplätze besetzt. Die Tochter schaut staunend auf die Nummernschilder der Fahrzeuge , während sie ihr kleines Pony vorantreibt. „H“ für Hannover, skandiert sie und „Doppel H“ für Hamburg, „B“ für Berlin erkennt sie ebenso, wie „HB“ für die Besucher aus Bremen. Stolz, nein, fast huldvoll, erwartet sie bei jedem Wagen, an dem wir vorbeikommen und an dem gerade noch Besucher stehen, eine freudige Bemerkung über das echte Harzer Kind mit seinem Pony. Die Gäste entladen ihre Schlitten, zurren ihre Rucksäcke zurecht, den Kindern kann es gar nicht schnell genug gehen.

Und die Tochter wird nicht enttäuscht. Immer wieder bleiben welche stehen und sie lässt die fremden Kinder auch bereitwillig ihr Pony streicheln, einer darf sogar einmal eine Möhre füttern. Viele Photos werden gemacht und von den Eltern mit zurück ins schneefreie Flachland genommen: Aufnahmen vom Ponymädchen und den eigenen Kindern daneben, im Hintergrund die verwunschene Harzer Schneelandschaft.

Zu meiner Verwunderung erinnert sich die Tochter an einen Pauschalurlaub in Ägypten, da war sie kaum fünf, dort gab der Gast aus Europa etwas Kleingeld für ein Photo mit dem Kamel oder dem Esel. So hält auch das Harzer Kind geschäftstüchtig die Hand auf und kann tatsächlich von den lachenden Fremden ein paar Euros für die Spardose schnappen. Nicht ohne einen gewissen schauspielerischen Aufwand schaut sie so gekünstelt genervt immer wieder zu mir hinüber, aber ich sehe natürlich das Grinsen und den Stolz hinter einem jetzt nicht mehr nur von den niedrigen Temperaturen rotwangigen Gesicht.

Die Tochter führt Ole am Strick geschickt in das Tal Richtung Weide und absichtsvoll über Wege auf denen sie noch mehr Touristen erwarten darf.

Und ich fühle mich zurückversetzt in meine Kindheit bei der Großmutter, wenn die Eltern uns Ende der 1960er Jahre in den Wintermonaten zu den Grosseltern brachten, um dort ein paar Tage zu verbringen und unbeschwert von morgens bis abends immer wieder neue Pisten und Abfahrten auszuprobieren.

Es mag am überraschend konstanten Schnee liegen, aber es muss noch mehr daran liegen, dass dieser Ort mitten im Winter noch einmal aus seinem ewigen Winterschlaf gerissen wurde – die Corona-Maßnahmen der Bundesregierung machen es nöglich. Und mit ihnen kommen verschüttete Erinnerungen zurück. Solche beispielsweise, wo ich als Kind auf dem zugefrorenen Bergsee in diesen klobigen alten Schlittschuhen – oder waren es gar noch Gleitschuhe? – auf den Bruder zurase, wir die Arme ausstrecken um uns ineinander verhaken, weil man sich so ausgebremst wunderbar um eine unsichtbare Achse drehen kann – solange, bis die Eisgischt hoch hinauf in die lachenden Gesichter spritzt. Und dann der unvermeidliche Fall, schmerzverzerrt, aber lachend, und nochmal von vorne …

Noch einmal Kind sein durch die Tochter, zwischen den schneeverwehten Bergen, umgeben von ganz unerwartet erscheinenden Touristen, die johlend die alten Hänge herabstürzen, während die schon ganz winterentwöhnten Eltern Hände reiben und auf der Stelle hin und her treten, um der Kälte zu trotzen und den Kindern doch ihren Spaß zu lassen, bis schon ganz blaue Lippen das Signal für die Mütter sind: „Nun aber schnell wieder ins Auto und heimwärts!“

Das Pony steht wieder auf seiner Weide, aber die Tochter will nicht zu Fuß den Berg hinauflaufen. Also geht’s im Auto zurück Richtung Südtiroler Siedlung. Und wieder Mal zählt sie die uns dieses Mal entgegenkommenden Fahrzeuge: „H“ für Hannover, „Doppel H“ für Hamburg. „HI“ für Hildesheim und auch ein „B“ für die nun abreisenden Berliner wird noch entdeckt.

„Ist der Lockdown bald zuende?“, fragt die Tochter zurückblickend und schon halb in der Südtiroler Tür verschwunden. Und ich höre an ihrer Stimme, dass ihr dieses fremde Wort, dessen Sinn sie noch nicht verstehen kann, ein Wort, das für viele zu einer echten existenziellen Bedrohung geworden ist, dass dieser Lockdown der achtjährigen Tochter eigentlich ganz gut gefällt.

„Nein, nein“ antworte ich grinsend, „ein bisschen dauert es sicher noch.“ Und sie schaut rüber, so, wie sie immer schaut, wenn sie sich was wünscht, von dem sie nicht weiß, ob sie es wirklich bekommen wird: „Noch bis zum Geburtstag?“ – „Na solange hoffentlich nicht“, antworte ich, denn die Tochter wird erst Anfang November neun Jahre alt, „Aber ein paar Wochen wird’s bestimmt noch dauern.“


Von Gregor Leip