Tichys Einblick
Fünf Jahre Klimanotstand

Das gefährliche Zündeln mit „Notlagen“ – zum Beispiel Reiner Haseloff

Die kurze, aber reiche Geschichte der Notlagen in der Bundesrepublik kennt ein neues Beispiel. Der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt fordert die „Haushalts-Notlage“ – damit betreibt Reiner Haseloff ein gefährliches Zündeln.

IMAGO
Reiner Haseloff (CDU) fordert die Ampel auf, die „Haushalts-Notlage“ im Bund auszurufen. Ein Sound, an den sich Leser längst gewohnt haben. Notlage und Notstand sind zu unseren treuen Begleitern geworden – zu einer Art Dauerzustand. Am 2. Mai feiert dieser Zustand seinen fünften Jahrestag. Da ist Konstanz als erste Stadt in den „Klimanotstand“ gegangen – es folgte eine Welle, der sich rund 60 Kommunen angeschlossen haben. Notstand galt 2019 als chic.

Nun war der „Klimanotstand“ auch noch der Wohlfühlnotstand. Ein bisschen das Feuerwerk zum Stadtfest absagen hier, ein paar Fahrverbote dort. Maßnahmen bekamen eine Sinnstiftung, die ohnehin geplant waren. 2019 war schließlich das Jahr, in dem „das Kind“ Greta Thunberg die Welt so herzergreifend vor dem Klimatod warnte. „How dare you?!?“ Der heutige rheinland-pfälzische Innenminister Michael Ebling (SPD) antwortete 2019 auf die Interview-Frage, was denn der Klimanotstand bringe: Er schade ja auch nichts. Wir sind im Notstand. Einfach so. Warum soll Panikmache etwas Schlechtes sein, wenn sich alle dabei gut fühlen?

Der Kollege David Boos hat jüngst eine kluge Analyse geschrieben dazu, wie die deutsche Öffentlichkeit auf eine Eskalation des Kriegs in der Ukraine vorbereitet wird.

Boos hat dabei das realistische Bild einer Völkermühle gemalt, in der Russland und die Nato-Staaten an der finnischen Grenze das Problem der Überbevölkerung mindern und die Mächtigen im westlichen Hinterland den Kriegszustand nutzen, um Demokratie und Rechtsstaat nicht allmählich, sondern schlagartig abzubauen. Ein besorgniserregendes Szenario. Ein besorgniserregend treffend hergeleitetes Szenario.

Es war entweder dumm oder Augenwischerei, 2019 zu behaupten, so etwas wie ein „Klimanotstand“ bedeute ja nichts. Als ob es ein Nichts sei, wenn die Regierenden eine Sondersituation beschwören. Als ob es nichts bedeute, wenn staatliche und staatsnahe Medien Untergangsszenarien beschreien, die nur durch zusätzliche staatliche Handlungsbefugnisse abzuwenden seien. „Das Kind“ und seine Jünger stellten schon damals öffentlich in Frage, ob die Demokratie die „Klimarettung“ zu leisten imstande sei. Kein Inlands-Geheimdienst reagierte. Staatliche und staatsnahe Medien transportierten die Frage als klugen Gedanken weiter.

Der Klimanotstand blieb der Wohfühlnotstand. Doch es war auch die Gelegenheit, sich an den Notstand gewöhnen zu können. Eine kurze Gelegenheit. Denn nur zehn Monate später brach der echte aus. Der folgenschwere. Der es den Regierenden ermöglichte, in den Alltag der Menschen hineinzuregieren. Die Rede ist von Corona. Und von Polizisten, die Jugendliche mit dem Auto hetzten und die bereit waren, sie über den Haufen zu fahren – um sie auf die schützende Wirkung der Maske hinzuweisen. Die Kinder von Rodelschlitten zerrten und alte Frauen zu Boden rissen, um ihre fragile Männlichkeit zu beweisen. Ein Staat, der Kindergeburtstage stürmte, Ausgangssperren verhängte und festlegte, wie viele Mitglieder einer Familie zusammen Weihnachten feiern dürfen.

Ein Staat, der Demonstrationen verbot und niederknüppeln ließ, die gegen seine Politik gerichtet waren. Dessen Vertreter aber zeitgleich bei Demonstrationen mitliefen, die gesellschaftspolitische Positionen der Regierung unterstützten. Eine Gesellschaft, in der Vertreter des Staatsfernsehens aufforderten, man solle Bürger vom öffentlichen Dialog ausschließen, wenn sie gegen die Schließung von Kitas und Schulen sind – auch wenn sich später zeigte, dass sie Recht hatten. Ein Staat, der Bürger in Monate dauernde Untersuchungshaft sperrte, die gegen die Pflicht zu einer Impfung demonstrierten – von der sich später erwies, dass sie eben doch schwere Gesundheitsschäden nach sich ziehen kann.

Corona war der Testlauf für einen totalitären Staat. Ein Staat, in dem Abgeordnete für eine Maskenpflicht stimmen und dann am Verkauf der Masken Millionen verdienen. Ein Staat, in dem die staatsnahen Medien wegschauen, wenn ein Kritiker der Regierung neun Monate in Untersuchungshaft sitzt, obwohl die Anklagepunkte so schwach sind, dass sie nicht einmal zu einem Verfahren reichen. Ein Staat, in dem sich die Regierung eine „Ermächtigung“ gibt, um am Parlament vorbeiregieren zu können – und dafür Applaus von den Abgeordneten erhält.

Notstand ist bequem für Politiker. Notstand ist angenehm für Politiker. Eben waren sie noch Studienabbrecher, über deren Debatten zum Krümmungsgrad einer Banane die Leute lachen. Doch mit einem Schlag sind sie machtvoll, verdienen Millionen, in dem sie Maskengeschäfte „vermitteln“, und können sogar beschließen, wer Weihnachten mit der Familie feiern darf und wer nicht. Niemand wagt mehr, das zu hinterfragen. Und wer es doch tut, muss eine Kampagne der staatlichen und staatsnahen Medien über sich ergehen lassen.

Wenn Reiner Haseloff die „Haushalts-Notlage“ fordert, ist das auch nur bequem für ihn. Der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt muss zusehen, wie die AfD in seinem Land an seiner CDU vorbeizieht. Der Ministerpräsident darf nur so viel Geld ausgeben, wie die Wirtschaft zu erwirtschaften vermag. Unzumutbar. In der Haushalts-Notlage kann Haseloff Brücken und Straßen bauen, um die Notlage zu rechtfertigen. Und er kann den Sozialetat immer und immer mehr ausweiten, um sich Stimmen zu kaufen. Wer das alles bezahlen soll, fragt keiner mehr. Und falls doch, muss der Übeltäter staatliche und staatsnahe Medien fürchten.

Klimanotstand, Haushalts-Notlage und sogar die Pandemie sind aber ein schlechter Witz im Vergleich zu einem Krieg. Da hat der Kollege Boos recht. Allzumal, wenn es ein Krieg zwischen Russland und der Nato ist. Ein Horror-Szenario, das abzuwehren eines der größten Anliegen der Gründungsväter dieser Republik war: Konrad Adenauer (CDU), Willy Brandt (SPD) und Helmut Kohl. Und selbst der Staatsratsvorsitzende der DDR, Erich Honecker (SED) – sonst nicht als Menschenfreund bekannt – war klug genug, um von der zerstörerischen Kraft eines solchen Krieges zu wissen.

„Krieg“ und „Eskalieren“ sind zwei Wörter, die in der Geschichte der Menschheit bemerkenswert oft dicht aufeinander folgen. Ein Staat kann nicht drei Raketen auf einen anderen Staat abfeuern in der Erwartung, dass dieser höchstens drei Raketen zurückschießt. 35 Jahre lang galt es als Tabu, westliche Kriege „Kriege“ zu nennen. Es waren „Militäreinsätze“. Eine Schande für jeden Journalisten, das mitgemacht zu haben. Denn allmählich erweisen sie sich eben doch als Kriege: Die USA und ihre Verbündeten haben geglaubt, ihre Interessen mit punktuellen Einsätzen durchsetzen zu können. Das ist fast immer schief gegangen. In Afghanistan hat es zur Herrschaft der Taliban geführt. In Syrien und im Irak zum Aufblühen des Islamischen Staates. In Nordwestafrika erweist sich ein Militäreinsatz des Westens nach dem anderen als gescheitert. Da zu meinen, einen Krieg mit der Atommacht Russland begrenzen und beherrschen zu können – einem Reich mit einer der größten Bevölkerungsmassen und Landflächen der Erde – dieser Glaube ist verantwortungslos.

Der Krieg ist die Mutter aller Notstände. Der Krieg ist der Vater aller Notlagen. Im Krieg ist jede Eskalation denkbar. Sogar die nicht denkbare. An die Menschheitsverbrechen Shoa und Euthanasie haben sich die Nationalsozialisten erst mit Ausbruch des Kriegs gewagt. Die Euthanasie konnten sie nicht wie von ihnen gewünscht durchziehen, weil sie im Heimatland stattfand. Die Shoa war in ihrer unbarmherzigen Konsequenz auch deshalb möglich, weil sie zuerst an der Front stattfand durch die „Einsatzkommandos“ und dann „industriell“ betrieben im Niemandsland zwischen Front und Kerngebiet des Reichs. „Im Pulverdampf verborgen“, wie es die Figur des Reinhard Heydrich (Dietrich Mattausch) in dem Film „Die Wannseekonferenz“ von 1984 treffend beschreibt.

Notstände und Notlagen sind ein bequemes Mittel für Mächtige, die Welt in ihrem Sinn zu gestalten. Führen werden sie zu echter Not. Der Kollege Boos hat die möglichen Folgen für Demokratie und Rechtsstaat treffend beschrieben. Hunger, Obdachlosigkeit und durch den Tod zerrissene Familien kämen noch hinzu. Wenn ein Politiker daher mit dem Notstand zündelt, auch wenn es nur ein Wohlfühl-Notstand ist, tut jeder Bürger gut daran, ihm zu widersprechen. Zumindest, wenn ihm an Demokratie, Rechtsstaat, Wohlstand und Leben gelegen ist.

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