Tichys Einblick
Grundrecht war gestern

Wie das Verfassungsgericht Bürger zu Schutzbefohlenen machte

Ein Zeit-Gespräch mit der langjährigen Verfassungsrichterin Susanne Baer gibt rare Einblicke: Es geht um einen Klimabeschluss, Coronaurteile, das Abendessen im Kanzleramt – und ein autoritäres Rechtsverständnis.

Susanne Baer, Richterin des Bundesverfassungsgerichts a.D. mit der Entlassungsurkunde in Schloss Bellevue, Berlin, 20.02.2023

IMAGO / Fotostand

Selten kommt es vor, dass Verfassungsrichter über Urteile und Beschlüsse reden, die noch nicht lange zurückliegen. Noch dazu, wenn es sich um hochpolitische Verfahren handelt. In Karlsruhe gab es lange den Satz: „Wir sprechen durch unsere Urteile.“ Aber vieles, was früher einmal so galt, stellt sich heute ein bisschen anders dar. Das muss nicht immer etwas Schlechtes bedeuten. Im Gegenteil, das lange Interview in der Zeit vom 2. März mit der Verfassungsrichterin Susanne Baer zum Ende ihrer zwölfjährigen Amtsperiode stellt einen Glücksfall dar. So bekommt der Leser einen kostbaren Einblick in die Gedankenwelt einer Richterin und in das fast noch frische Wirken eines Verfassungsorgans, das Kabinett und Parlament kontrollieren und vor allem die Grundrechte der Bürger schützen sollte, ausdrücklich auch gegen die Regierung. So jedenfalls lautete einmal der Auftrag der Institution.

Das Gespräch mit Baer stellte die Zeit unter die Überschrift „Erschütternd, dramatisch und langweilig“. Das fasst den Inhalt des Gesprächs tatsächlich brillant zusammen.

Für die Langeweile sorgen Fragesteller Heinrich Wefing und die Interviewte vor allem zu Anfang und Ende. Dazwischen kommen durchaus interessante Passagen vor. Schließlich geht es um Sachverhalte wie den Klimabeschluss des Verfassungsgerichts („eine der eindrücklichsten Entscheidungen, auch für mich als Richterin“), die Corona-Beschlüsse und das Gerichtsdinner im Kanzleramt.
 Um mit dem abgedimmten Teil zu beginnen: Dort geht es um die Erinnerung der von den Grünen als Nachfolgerin von Brun-Ott Bryde nominierten Juristin an ihren ersten Arbeitstag („traditionell ein kleines Essen im Kreis der Kolleginnen und Kollegen“).

Der Zeit-Redakteur fragt außerdem nach eventuellen Diskriminierungen Frau Baers in Karlsruhe. „Es gab in der Vergangenheit durchaus persönliche Angriffe gegen Personen, die im Amt von manchen nicht gewollt waren“, erklärt die Ex-Richterin. Aber gegen sie selbst: nein. Wefing versucht es noch einmal mit hypothetischer Vergangenheitsbetrachtung: „Hätte das Gericht noch vor 20, 30 Jahren ganz anders auf eine offen homosexuelle Richterin reagiert?“ Worauf Baer meint: „Das kann durchaus sein.“ Damit endet der zähe Was-macht-das-mit-Ihnen-Block, der mittlerweile offenbar in jedes Interview gehört, sofern der Journalist nicht gerade Alice Weidel gegenübersitzt.

Für das Privatleben von Mitgliedern des Bundesverfassungsgerichts interessiert sich die Öffentlichkeit ähnlich intensiv wie für die Hobbys der Karlsruher Amtsmeister und Pförtner. Der Amtsantritt des ersten offen schwulen Politikers in Deutschland – Klaus Wowereit – liegt mittlerweile mehr als zwei Jahrzehnte zurück, und auch die Tatsache, dass die AfD-Chefin mit einer Frau zusammenlebt, führt heute zu keinen Erregungswellen mehr. Das ist auch gut so. Trotzdem hält sich die Routinefrage nach der Diskriminierung offenbar hartnäckiger als die Diskriminierung selbst.

Etwas aufschlussreicher, wenn auch nicht überraschend wirkt Baers Schilderung, wie die damalige Chefin der Grünen Renate Künast ihr 2010 erklärte, es stünde die Nachfolge des ebenfalls auf grünem Ticket gewählten Bryde an: „Wir haben an Sie gedacht.“ Das wirft ein Licht darauf, dass nicht, wie es das Gesetz eigentlich will, Bundestag und Bundesrat die Bundesverfassungsrichter bestimmen, also zumindest zur Hälfte das Parlament, sondern die jeweiligen Parteiführungen die Positionen faktisch ohne öffentliche Beteiligung besetzen. Konsequent sagt Baer etwas weiter unten: „Die Richterinnen und Richter müssen von unterschiedlichen politischen Parteien vorgeschlagen werden.“ Anders als in den USA gibt es auch keine öffentliche Anhörung der Kandidaten. Nach Karlsruhe kommen fast immer Juristen, die außerhalb von Fachkreisen niemand kennt.

Bei Baer handelt es sich um eine Wissenschaftlerin mit einer besonderen Vita. Sie definiert ihr Gebiet als „feministische Rechtswissenschaft“. Im Jahr 2002 übernahm sie den Lehrstuhl für öffentliches Recht und Geschlechterstudien an der Humboldt-Universität Berlin. Ein Jahr später richtete sie an diesem Lehrstuhl das „Genderkompetenz-Zentrum“ der Universität ein, vielmehr, die Bundesregierung organisierte dieses Zentrum, das unmittelbar aus den Mitteln des Familienministeriums erst unter Ulla Schmidt und dann Ursula von der Leyen finanziert wurde, bis der Geldfluss einige Monate nach Amtsantritt der eher konservativen Nachfolgerin Kristina Schröder 2010 versiegte. Das Zentrum diente nach Baers eigenen Worten der Politikberatung. In einem Interview mit der Zeitschrift des Deutschen Juristenbundes, geführt 2015, erklärte sie:
 „Das war so lange spannend und interessant, wie es eine gewisse Rückendeckung 
innerhalb der Bundesregierung gab, die wir beraten sollten und beraten haben.“

Wenn Wissenschaftler ergebnisoffen forschen und dann ihre Erkenntnisse der Politik anbieten, lässt sich nichts dagegen sagen. Bei einem von der Regierung durchfinanzierten Institut zur Auftragsberatung auf dem Feld Gender-Mainstreaming sieht das schon anders aus. Im Archiv des Genderkompetenzzentrums, das ab 2010 von einem Verein weitergeführt wurde, finden sich kaum Hinweise auf Forschung, und nur wenige Publikationen.

Wie sah das Verfassungs- und vor allem Grundrechteverständnis Baers aus, als sie Verfassungsrichterin wurde? Darauf gibt es zwei Hinweise, die beide erst einmal für eine halbwegs liberale Auffassung sprechen. Sie habilitierte sich 2006 zum Thema “‘Der Bürger im Verwaltungsrecht zwischen Obrigkeit und aktivierendem Staat“ – kein schlechtes Thema für eine Juristin, die in den 1., also den Grundrechtesenat des Verfassungsgerichts einzieht. Zumal sie durchaus wohlwollend einen alten Leitsatz des Bundesverfassungsgerichts zu diesem Thema zitiert: „Der Einzelne ist zwar der öffentlichen Gewalt unterworfen, aber nicht Untertan, sondern Bürger.“

In einem Vortrag vor der grünen Bundestagsfraktion kurz vor ihrem Amtsantritt als Bundesverfassungsrichterin skizzierte sie zweitens die Grundrechte zutreffend als Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat. Die Verfassung kenne zwar auch aktive Schutzpflichten, gerade beim Umweltschutz. „Ich persönlich“, erklärt Baer damals, „bin bei Schutzpflichten etwas vorsichtig. Denn allzu schnell wird aus Schutz Bevormundung.“ Als sie antrat, stand sie also für ein sehr linkes und identitätspolitisch aufgeladenes Rechtsverständnis, in dem aber auch – zumindest konnte man diesen Eindruck gewinnen – ein paar liberale Inseln existierten.

Wer sich die zentralen Urteile ansieht, an denen sie in ihren 12 Jahren mitwirkte, der kann ihren Satz von 2011 nur als Prophetie verstehen, allerdings mit umgekehrtem Vorzeichen. Denn der Umschlag von behaupteter Schutzpflicht des Staates in autoritäre Bevormundung vollzog sich geradezu mustergültig sowohl in dem so genannten Klima-Urteil als auch den Entscheidungen zu den Corona-Maßnahmen. Sie tragen allesamt Baers Unterschrift. 
Es lohnt sich, beides, Klimabeschluss und Coronaentscheidungen, miteinander zu vergleichen. Beides passt zusammen wie Yin und Yang.

In seinem Beschluss vom 24. März 2021, in der Berichterstattung oft „Klimaurteil“ genannt, entschied das Bundesverfassungsgericht formal nur wenig. Es erklärte den Klimaschutzplan der damaligen Bundesregierung für unzureichend und damit verfassungswidrig. Konkret gibt das Gericht der Regierung und den nachfolgenden Kabinetten auf, konkrete CO2-Minderungsvorgaben auch über das Jahr 2030 fortzuschreiben. Wichtig und geradezu revolutionär wirkt nicht, was das Gericht damals formal entschieden hatte – sondern das, was es in dem Beschluss sagte.
 Der Senat unter Vorsitz von Stephan Harbarth stellte ganz am Anfang fest, der Vertrag von Paris gebe keinem Land Vorgaben zur Reduzierung des CO2-Ausstoßes, also auch Deutschland nicht. Anschließend bezieht er sich auf die entsprechenden Pläne der EU, die für alle Wirtschaftssektoren bis weit in die Zukunft so genannte Klimaziele festschreibt. Daraus wiederum, so das Gericht, ergäben sich sehr eng gezogene Linien für die deutsche Politik – und damit auch für die Bürger.

Zu den Leitsätzen des Klimabeschlusses gehört die apodiktische Feststellung: „ Artikel 20a GG verpflichtet den Staat zum Klimaschutz. Dies zielt auch auf die Herstellung von Klimaneutralität.“ Artikel 20a verpflichtet den Staat, so der tatsächliche Wortlaut des Artikels, „auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung“ zu schützen. Daraus umstandslos die Verpflichtung eines einzelnen mittelgroßen Landes zur Klimaneutralität abzuleiten, also dazu, nur noch so viel CO2 auszustoßen, wie wieder gespeichert werden kann, stellt zumindest einen logischen Sprung dar, der irgendwie hätte hergeleitet werden müssen. Diese Herleitung sparte sich das Gericht. Und auch jede Abwägung zwischen den unterschiedlichen Prognosen und Szenarien zur Klimaentwicklung. Eine Unsicherheit innerhalb der Wissenschaft erkennt der Senat zwar an, folgert aber daraus, gerade deshalb müssten „bereits belastbare Hinweise auf die Möglichkeit gravierender oder irreversibler Beeinträchtigungen“ die politischen Entscheidungen leiten: „Besteht wissenschaftliche Ungewissheit über umweltrelevante Ursachenzusammenhänge, schließt die durch Art. 20a GG dem Gesetzgeber auch zugunsten künftiger Generationen aufgegebene besondere Sorgfaltspflicht ein, bereits belastbare Hinweise auf die Möglichkeit gravierender oder irreversibler Beeinträchtigungen zu berücksichtigen.“

Die unbestreitbare Tatsache, dass Deutschland mit seinem Anteil von 2,2 Prozent am weltweit menschengemachten CO2-Ausstoß selbst beim besten Willen das globale Klima nicht ernsthaft beeinflussen kann, wischt das Verfassungsgericht als unbeachtlich zur Seite. „Als Klimaschutzgebot hat Art. 20a GG eine internationale Dimension“, heißt es in dem Beschluss: „Der nationalen Klimaschutzverpflichtung steht nicht entgegen, dass der globale Charakter von Klima und Erderwärmung eine Lösung der Probleme des Klimawandels durch einen Staat allein ausschließt. Das Klimaschutzgebot verlangt vom Staat international ausgerichtetes Handeln zum globalen Schutz des Klimas und verpflichtet, im Rahmen internationaler Abstimmung auf Klimaschutz hinzuwirken. Der Staat kann sich seiner Verantwortung nicht durch den Hinweis auf die Treibhausgasemissionen in anderen Staaten entziehen.“ Mit anderen Worten: Deutschland muss so handeln, als hinge von ihm tatsächlich die globale Durchschnittstemperatur im Jahr 2100 ab.

Der wirklich zentrale Gedanke des Urteils besteht allerdings darin, die Rechte künftiger Generationen als Argument für mehr Staatslenkung und Einschränkung in der Gegenwart anzuführen. In dem Gespräch mit der Zeit erklärt Baer: „Und diese Kinder und Jugendlichen sagen doch: Wenn ihr Erwachsenen unsere Emissionen heute verpulvert, werden wir in 20 Jahren nicht mehr frei, nicht mehr selbstbestimmt agieren können. Die Selbstbestimmung auch in der Zukunft ist deshalb der Gedanke, der die Entscheidung trägt.“
 Bekanntlich nutzen die Transformationsverfechter in Berlin sowohl das Paris-Abkommen (in dem wie gesagt überhaupt keine konkreten Minderungsziele stehen) und den Klimabeschluss des Verfassungsgerichts als argumentative Brechstange, um schon in der praktischen Gegenwartspolitik die Selbstbestimmung der Bürger zu beschneiden.
 Für seine Entscheidung stützte sich das Gericht nur auf bestimmte Wissenschaftler, diejenigen nämlich, die Worst-Case-Prognosen vertreten. Es befasste sich auch nicht mit der Möglichkeit, auf Klimaveränderungen mit Anpassung zu reagieren, sondern folgte strikt der reinen CO2-Reduktionslogik als einziger Rettungsstrategie. Vor allem aber – und hier liegt der entscheidende Punkt – wägt der Beschluss Rechte zwischen heutigen und zukünftigen Bürgern ab, aber überhaupt nicht mehr zwischen den Abwehrrechten der gegenwärtigen Bürger und dem Staat. Es hebt damit das gesamte Institut des Bürgerrechts, das sich aus der vom Verfassungsursprung zum Hier und Jetzt reichenden Bürger-Staat-Beziehung ergibt, aus den Angeln und ersetzt es durch eine Fiktion, in der die Bürger schon jetzt einer hochgerechneten Zukunft Rechte abzutreten haben. Die konkreten Entscheidungen legt das Gericht in die Hand eines vormundschaftlichen Parteienstaates, der gern den Weg dorthin weist.
Dass sich zentrale Passagen des Beschlusses schon vor seiner Verkündung auf dem Rechner des Ehemanns von Richterin Gabriele Britz fanden, der sich bei den Grünen engagiert, dass er also entweder den Beschluss vorher kannte oder ihn umgekehrt sogar beeinflusste, schrumpft angesichts der grundstürzend neuen Bürger-Staat-Beziehung, die das Gericht postuliert, zum reinen Aperçu.

Die Bürger der Gegenwart können von Glück sagen, dass dieser Geist nicht schon in den siebziger Jahren am Bundesverfassungsgericht herrschte. Denn bewaffnet mit dieser deterministischen Argumentation hätten sich Juristen in Karlsruhe schon damals auf die Prognosen des Club of Rome beziehen können, der bekanntlich das Ende der letzten Goldader für 1981 voraussagte, das Ende des Quecksilbers für 1985, den letzten Tropfen Öl für 1992 und das Finale der Gasförderung für 1994. Mit der Autorität der Stimme aus dem brennenden Dornbusch prognostizierten seine Mitglieder außerdem Millionen von Hungertoten in einem verelenden Asien, sollte nicht endlich das zentrale Üble bekämpft werden, nämlich das wirtschaftliche Wachstum. Schon dieses Material hätte sich nach der aktuellen Rechtslogik bestens dafür geeignet, die Politik per Richterspruch zu strenger Rohstoffrationierung und Wirtschaftslenkung im Interesse der künftigen Bürger anzuhalten. Schließlich reichen ja “belastbare Hinweise auf Möglichkeiten“ laut Klimabeschluss als Rechtfertigungsgrund. Und die kollektiven Fehlprognosen des dauerlärmenden kapitolinischen Gänseclubs galten damals vielen als unumstößliche Wahrheit, ja schlechthin als die Wissenschaft. So wie vor kurzem auch die jeweils düstersten Vorhersagen zur Virenlage und immer noch etliche Klimaapokalypsen, wobei allerdings schon allerlei ältere Prognosen mit der Behauptung, es blieben nur noch zehn oder fünf Jahre zur Rettung, nach und nach in die tiefsten Archive umgeräumt werden mussten.

Im Licht der Klima-Verfassungsgerichtsentscheidung erscheint die Forderung der “Letzten Generation“ nach einem Gesellschaftsrat, der in ihrem Sinne Beschlüsse fällen sollte, gar nicht mehr ganz so bizarr. Auch nach der Logik des Gerichts und der Experten, auf die es sich beruft, bleibt schon der klassischen Politik kein Entscheidungsspielraum mehr, sondern nur noch die Pflicht, die Vorgaben von beiden sorgfältig abzuarbeiten.

Wie passen nun die Corona-Entscheidungen dazu, die auch Baers Unter- und Handschrift tragen? Sie fügen sich, wie oben schon angedeutet, geradezu kongenial an. Mit der Entscheidung über die Klage gegen die „Bundesnotbremse“, eingereicht im April 2021, ließ sich der 1. Senat erst einmal sehr lange Zeit, um sie dann am 30. November 2021 abzulehnen. Zur Erinnerung: Es ging damals um Ausgangssperren, Kontaktbeschränkungen selbst für Treffen in privaten Räumen und einiges mehr. „Die Beurteilung des Gesetzgebers, es habe bei Verabschiedung des Gesetzes eine Gefahrenlage für Leben und Gesundheit sowie die Gefahr der Überlastung des Gesundheitssystems bestanden, beruhte auf tragfähigen tatsächlichen Erkenntnissen“, hieß es in dem entsprechenden Beschluss. Und: „Mit den Kontaktbeschränkungen verfolgte er Gemeinwohlziele von überragender Bedeutung. Der Gesetzgeber wollte so Leben und Gesundheit schützen, wozu er nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verpflichtet ist.“ Mit anderen Worten, das Bundesverfassungsgericht meinte, der Staat werde schon wissen, was er da tut. Aus einer konstruierten Schutzpflicht folgt umgehend, um Baers Worte von 2011 noch einmal zu zitieren, eine paternalistische Bevormundung, wie sie so in der Bundesrepublik vorher noch nie stattgefunden hatte.

Mit dem gleichen Tenor winkte der 1. Senat am 19. Mai 2022 auch die einrichtungsbezogene Impfpflicht durch. Auch hier referiert er die Meinung von „sachverständigen Dritten“, den gleichen, auf die sich auch die Bundesregierung stützte. „Zur Prävention“, fasst der Senat deren Expertise in seinem Beschluss zusammen, „stünden gut verträgliche, hochwirksame Impfstoffe zu Verfügung. Impfungen schützten nicht nur die geimpfte Person selbst, sondern reduzierten gleichzeitig die Weiterverbreitung der Krankheit. Geimpfte und genesene Personen würden seltener infiziert und somit auch seltener zu Überträgern des Virus. Die insoweit vom Gesetzgeber ermächtigte Bundesregierung bündelt den für eine sachgerechte Bewältigung dieser Herausforderungen erforderlichen Sach- und Fachverstand. Auch kann sie durch auf gesetzlicher Grundlage installierte sachverständige Beratung besonders schnell beurteilen, welche Anforderungen im Sinne eines ausreichenden Immunschutzes an einen Impf- oder Genesenennachweis zu stellen sind. Denn mit dem Robert Koch-Institut und dem Paul-Ehrlich-Institut sind ihr mit spezifisch wissenschaftlicher Fachkompetenz ausgestattete selbständige Bundesoberbehörden im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit zugeordnet, die insoweit besonders geeignet sind, hoch dynamische Veränderungsprozesse nachzuvollziehen und zu bewerten.“ 
Auch hier also: Die Regierung weiß schon, was nötig ist. Und Bundesbehörden, die ihr unterstehen, bescheinigen ihr das auch. Causa finita.

Nun befinden wir uns beim Rückblick auf die Corona-Jahre an einem anderen Punkt als in der Klima-Alarmismusdebatte, die fast ausschließlich mit Zukunftsprognosen arbeitet. Dass die Ausgangssperren zur Virenbekämpfung nicht den geringsten Nutzen entfalteten, bestreitet heute noch nicht einmal Karl Lauterbach. Die Belegungszahlen der Intensivbetten zeigt: Nie stand das Gesundheitssystem vor einem flächendeckenden coronabedingten Kollaps. Mittlerweile behauptet auch niemand mehr, Corona-Impfungen würden die Virenübertragung durch die Geimpften verhindern. (Die Hersteller der Vakzine behaupteten das übrigens nie). Inzwischen leugnen auch Politiker nicht mehr die gravierenden Impfschäden bis hin zu Todesfällen. Um Patienten in Krankenhäusern und Alte in Heimen zu schützen, hätten Tests des Personals völlig ausgereicht. Nichts sprach gegen den Einsatz von gesunden Ungeimpften im Gesundheitswesen. Kurzum: Alles, worauf der Senat damals seine Beschlüsse baute, erwies sich nur Monate später als argumentativer Treibsand. Immerhin fragt die Zeit hier einmal ganz sachte nach: „Wir erleben die massivsten Grundrechtseinschränkungen der Bundesrepublik, ohne ausführliche parlamentarische Beratung beschlossen, und das Gericht lässt sich sehr viel Zeit.“
Worauf Baer behauptet: „Wir haben beschleunigt gearbeitet.“ Viel wichtiger wirkt aber ihre Rechtfertigung: „An die These von der massivsten Grundrechtseinschränkung würde ich zudem gern ein Fragezeichen setzen. Die damaligen Maßnahmen waren sicherlich flächendeckend wie nie zuvor, und das traf auch Menschen, die üblicherweise von Grundrechtseinschränkungen nicht betroffen sind.“ Wer ist denn in Deutschland „üblicherweise von Grundrechtseinschränkungen betroffen?“, möchte man sofort zwischenfragen. Was der Zeit-Redakteur aber nicht tut. Baer weiter: „Das Verfassungsgericht hat in Grundrechtsfragen immer wieder mit Fällen zu tun, in denen Kinder aus Familien genommen werden, oder Menschen werden in Länder abgeschoben, in denen ihnen die Todesstrafe droht, oder Leute leben am Rand des Existenzminimums. Ist da der Grundrechtseingriff nicht massiver als das Verbot, nachts – nachts, also zwischen 23 und 6 Uhr – das Haus zu verlassen? “ Was für ein wirres Gedankenknäuel.

Baer geht auch in diesem Interview (wie sie und ihre Kollegen schon in den Beschlüssen) überhaupt nicht darauf ein, dass es sich bei Grundrechten um Abwehrrechte handelt und diese Rechte sich folglich immer in der Spannung zwischen Bürger und Staat befinden. Sie wägt stattdessen die Rechte der einen Bürger gegen Rechtsfälle anderer Bürger ab. Dafür, Kinder aus einer Familie zu nehmen, kann es manchmal gute Gründe geben. Wann genau soll das Bundesverfassungsgericht die Abschiebung eines Migranten in die drohende Todesstrafe bestätigt haben? Und am „Rand des Existenzminimums“, also knapp darüber, werden immer Menschen leben, egal, wie hoch das Existenzminimum selbst ausfällt. Was hat ein niedriges Einkommen überhaupt mit einer Grundrechtseinschränkung zu tun? Aber selbst wenn, fällt der Verfassungsrichterin a. D. nichts anderes ein als: Weil es möglicherweise auch andere Grundrechtseinschränkungen gibt, war die Bundesnotbremse schon ganz in Ordnung. Sie müsste außerdem wissen, dass eine Einschränkung geeignet, erforderlich und angemessen sein muss. Die Ausgangssperre beispielsweise war nichts davon.

Der Zeit-Redakteur weist noch darauf hin, es sei ja nicht nur um Ausgangs- und Kontaktverbot gegangen, sondern auch um das Besuchsverbot in Krankenhäusern und Heimen – was bekanntlich dazu führte, dass Tausende dort einsam und ungetröstet von ihren Angehörigen starben. Ja, meint Baer, das sei schon „eine andere Qualität“ gewesen. „Ich habe aber kein Verfahren gesehen, in dem darüber zu entscheiden war.“
 Frage der Zeit: „Weil niemand geklagt hat?“
 Baer: „Oder weil die Verfassungsbeschwerden nicht zulässig waren.“
 Auf eine der schwersten Grundrechtseinschränkungen, die lange Schließung der Schulen, kommen beide gar nicht erst zu sprechen. Immerhin verpflichtet eine UN-Konvention auch die Bundesrepublik, die schulische Bildung von Kindern zu sichern. Beide erwähnen auch nicht die Aushebelung der Versammlungsfreiheit nach Artikel 8 durch das Infektionsschutzgesetz, also mit der inzwischen anerkannt sinnlosen Vorgabe, im Freien eine Maske zu tragen.

Es fallen zum einen die Parallelen zwischen Klimabeschluss und Corona-Beschlüssen ins Auge. Hier wie dort erfolgt die Abwägung zu Grundrechten zwischen Bürgern. Auf beiden Gebieten stützt sich das Gericht von vornherein nur auf bestimmte „sachkundige Dritte“, und zwar die alarmistischste Fraktion. In beiden Fällen schlagen Schutzpflichten des Staates mit dem Segen des Gerichts in die Rechtfertigung autoritärer Maßnahmen um. Es gibt aber auch einen Unterschied, der wiederum gut passt: Im Klimabeschluss zieht das Gericht dem Staat enge Grenzen für sein Handeln. In den Coronabeschlüssen, in denen der Staat schon gehandelt hatte, zieht es dagegen überhaupt keine rote Line, sondern es lässt ihm faktisch freie Hand. Beides läuft in der Konsequenz auf das Gleiche hinaus, nämlich die Suspendierung der Grundrechte zugunsten höherer Zwecke, die Karlsruhe jedes Mal mit einer Schutznotwendigkeit begründet. Damit stößt das Bundesverfassungsgericht das Tor zu einem ganz neuen Staats- und Rechtsverständnis auf. Aus Bürgern mit Abwehrrechten werden Schutzbefohlene des Staates.

Und wie steht es um das Verhältnis zwischen Gericht und Regierung? Dazu enthält das Zeit-Gespräch einen kleinen Sprengsatz, der sich leicht überlesen lässt. Denn der Interviewer fragt Baer nach dem berühmten Abendessen im Kanzleramt am 30. Juni 2021, also zu einer Zeit, als die Klage gegen die Bundesnotbremse in Karlsruhe lag. Bei dieser Zusammenkunft an Angela Merkels Tisch hielt die damalige Justizministerin Christine Lambrecht bekanntlich ein glühendes Plädoyer für die Coronamaßnahmenpolitik des Kabinetts. Schon das verletzte die Gleichheit beider Prozessparteien.
„Die Abendessen mit der Bundesregierung sind eine gute Idee“, antwortet Baer. Warum? „Wir – also die Verfassungsorgane – müssen uns verstehen, wir müssen wissen, wie die anderen ticken. Das trägt dazu bei, sich gegenseitig mit Augenmaß zu kontrollieren.“ Moment einmal: Das Bundesverfassungsgericht soll in der Tat Bundesregierung und Parlament kontrollieren. Aber „gegenseitig“? Die Regierung auch das Gericht? Auch an dieser geradezu sensationellen Stelle hakt Wefing nicht nach. Sollte es je einen Journalistenpreis für ungestellte Fragen geben, sollte er ihn als erster bekommen.
Vielleicht meint Baer ja gar nicht kontrollieren im eigentlichen Sinn. Schließlich kontrollierte das Gericht die Regierung in den Corona-Entscheidungen nicht ernsthaft. Möglicherweise meint sie eher die Tuchfühlung zweier Organe, die sich nicht mehr als institutionelle Gegenspieler sehen, sondern als zwei Gremien, die einander die Bälle zuwerfen.

Zum Abspann gibt es noch einen kleinen identitätspolitischen Nachschlag mit der Frage: „Muss das Gericht insgesamt diverser werden?“
 Das Gericht besteht übrigens schon hälftig aus Frauen und Männern.
 „Unbedingt“, meint Baer, „und da ist Luft nach oben. Diversity on the bench, also Vielfalt auf der Richterbank ist eine extrem wichtige Ressource.“ Was sie dann aufzählt, läuft, wenig überraschend, nicht auf eine Vielfalt an Rechtssichten hinaus, sondern auf das YMCA-Diversity-Verständnis. Also „unterschiedliches Alter, unterschiedliche Herkunft, auch eine, die nicht in einer heterosexuellen Ehe lebt“.

Ein Richter oder eine Richterin egal welcher Herkunft und mit welchem Hintergrund, der oder die sich vor allem als Anwalt der Bürger und der Grundrechte versteht, wie es früher Hans-Jürgen Papier und Udo di Fabio taten, täten dem Bundesverfassungsgericht auch ganz gut. Es gibt sie dort nämlich nicht mehr.
 Bei der Gelegenheit fordert Baer auch „einen Spitzenjurist oder eine Spitzenjuristin mit Migrationshintergrund“. Dass es den mit dem liberal-konservativen di Fabio schon einmal gab, Sohn italienischer Einwanderer, muss beiden, Baer wie dem Zeit-Redakteur, entfallen sein.
 Spätestens an dieser Stelle verdichtet sich auch alles zu dem Punkt, dass es bei der Besetzung des Gerichts gar nicht um links oder rechts geht, sondern um das Verhältnis zum Bürger und dessen Grundrechten.
Das Gericht, das beide schlecht behandelt, genießt immerhin eine gute Presse. Sie verkneift sich schon von ganz allein alle wirklich wichtigen Fragen.

Warum das Klima-Urteil des Bundesverfassungsgericht skandalös ist, begründen Fritz Vahrenholt und Sebastian Lüning in ihrem Buch „Unanfechtbar“: