Tichys Einblick
Sehnsuchtsort Heimat

Geschichtsvergessenheit und der Verlust von Heimat in Zeiten der Umdeutung

Immer mehr Menschen spüren, dass irgendetwas nicht stimmt. Dass Dinge auf den Kopf gestellt werden. Dass Europa eine Entwicklung durchmacht, die unweigerlich zum Ende unserer geistigen Freiheit, unserer Kreativität, Phantasie und unserer Möglichkeiten, Kritik zu üben, führen muss.

Die Sehnsucht nach einem vertrauten Ort, an dem man sich geborgen, sicher und verstanden fühlt, war auch schon immer ein beständiges Thema in der Literatur: in Gedichten, in Novellen, Romanen und Märchen. Bei dem wohl bekanntesten Dichter der Romantik Joseph von Eichendorff findet man den Begriff „Heimat“ immer wieder – und damals noch so ganz und gar unbelastet.

Was wisset ihr, dunkele Wipfel,
Von der alten, schönen Zeit?
Ach, die Heimat hinter den Gipfeln
Wie liegt sie von hier so weit!

So lautet eine Strophe in seinem Gedicht „Heimat“.

Friedrich Nietzsche macht den Gegensatz „Welt – Heimat“ in seinem bekannten Gedicht „Heimat“ auf:

Die Krähen schrei’n
Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
Bald wird es schnei’n –
Wohl dem, der jetzt noch – Heimat hat!
Nun stehst du starr,
Schaust rückwärts ach! Wie lange schon!
Was bist du, Narr,
Vor Winters in die Welt – entflohn?

Auch Gottfried Benn aus Ostpreußen, der abgeklärte, nüchterne Vertreter des Expressionismus‘ kann sich dem nicht entziehen. 1949 erinnert er sich:

Es ist ein Garten, den ich manchmal sehe
östlich der Oder, wo die Ebenen weit,
ein Graben, eine Brücke und ich stehe
an Fliederbüschen, blau und rauschbereit.

Ein weiteres Beispiel bietet das Schicksal des damals weltberühmten österreichischen Schriftstellers Stefan Zweig, der 1934 vor den Nazis nach England floh. Aus Angst vor Internierung als „Enemy Alien“ verließ er nach einigen Jahren Großbritannien und fand 1940 schließlich in Brasilien Asyl, wo er zwei Jahre später mit seiner Frau Lotte Selbstmord beging. In seinem Abschiedsbrief, in dem er dem Land Brasilien für die Gastfreundschaft dankt, schreibt er weiter:

„Mit jedem Jahr habe ich dies Land mehr lieben gelernt und nirgends hätte ich mir mein Leben lieber vom Grunde aus neu aufgebaut, nachdem die Welt meiner eigenen Sprache für mich untergegangen ist und meine geistige Heimat Europa sich selber vernichtet. Aber nach dem sechzigsten Jahre bedürfte es besonderer Kräfte um noch einmal völlig neu zu beginnen. Und die meinen sind durch die langen Jahre heimatlosen Wanderns erschöpft. So halte ich es für besser, rechtzeitig und in aufrechter Haltung ein Leben abzuschliessen, dem geistige Arbeit immer die lauterste Freude und persönliche Freiheit das höchste Gut dieser Erde gewesen. Ich grüsse alle meine Freunde! Mögen sie die Morgenröte noch sehen nach der langen Nacht! Ich, allzu Ungeduldiger, gehe ihnen voraus.“

Nach der Morgenröte

Nach der „Morgenröte“ der Aufbaujahre nach dem Krieg werden die Folgen der schleichend beginnenden Globalisierung immer offensichtlicher und spürbarer. Man will uns nun – besonders der Jugend – weismachen, wir alle profitierten davon. Wir seien geborene Weltbürger; jeder von uns finde sich überall auf der Welt zurecht.

Entspricht das der Wahrheit? In Bertolt Brechts „Dreigroschenoper“ heißt es:

Denn die einen sind im Dunkeln
und die andern sind im Licht
und man siehet die im Lichte
die im Dunkeln sieht man nicht.

Bertolt Brecht, der alte Linke, wollte damals noch unseren Blick auf „die im Dunkeln“ richten: auf die Benachteiligten, die Schwachen und Unterprivilegierten. Doch diese Sicht ist – wie vieles – längst auf den Kopf gestellt worden: „Dunkeldeutschland“ hat es Ex-Bundespräsident Gauck genannt, und das war keinesfalls empathisch und in sozialem Sinn gemeint. „Dunkeldeutsche“ sind für ihn die, die die Dinge anders sehen als die mächtigen Veränderer; die, die eine abweichende Meinung von der heute angesagten Linie nicht nur zu denken, sondern auch zu äußern wagen. „Die im Dunkeln“, die Brecht anspricht, sind nämlich nicht gemeint bei der Globalisierung, denn sie können an deren angeblichen Vorteilen gar nicht teilhaben, weil ihnen schlicht und immer mehr die Mittel dazu fehlen. Sie haben nur die Folgen auszubaden, die überall zu beobachten sind.

Alles nur noch mit den Augen von heute sehen

Das schon 1985 veröffentlichte Buch des Medienwissenschaftlers Neil Postman „Wir amüsieren uns zu Tode“ ist heute aktueller denn je. Die Spaß-Pop-Party-Unterhaltungsindustrie mit ihren weltweit geteilten Anglizismen hat sich wie Mehltau über einen großen Teil der Erde gelegt; über zum Teil uralte Kulturen, von denen wir heute nur die Oberfläche zu sehen bekommen: eine zeitgeistgetränkte, dünne Firnis, unter der Jahrtausende schlummern.

Der Schriftsteller William Somerset Maugham schreibt in seinem in China spielenden Roman „Der bunte Schleier“ über eine Chinesin: „Hier war der Osten, uralt, unerforschlich, unergründlich. Die Bekenntnisse des Westens schienen kindisch, verglichen mit den Bekenntnissen und Idealen, von denen sie (die britische Reisende und Besucherin Kitty) durch dieses auserlesene Geschöpf einen flüchtigen Blick zu erhaschen meinte.“

Aydin Özoguz‘ Ausspruch: „Eine spezifisch deutsche Kultur ist, jenseits der Sprache, schlicht nicht identifizierbar“ ist ein frappierend deutliches Zeichen für eine solche Geschichtsvergessenheit, die unsere vielgestaltete Vergangenheit, unsere geistige Heimat, auf deren Erfahrungen jede Zukunftsplanung zurückgreifen muss, im Dunkel verschwinden lassen will. Die, die noch ein Bewusstsein für die Geschichte haben, sind für die, die das konterkarieren, heute schlicht die „Ewiggestrigen“. Es heißt Abschied nehmen von Euren veralteten Vorstellungen, sagen sie uns und stellen undifferenziert „weltoffen“ gegen „ewiggestrig“, „bunt“ gegen „Nazi-braun“ gegenüber. Schlagworte in Dauerspirale.

Ein Beispiel: Die „Demo für alle“ gegen die Übernahme der Gender-Ideologie in den Lehrplan in Baden-Württemberg ist für die Gegendemonstranten einfach nur „ultrarechtsradikal“, ein Angriff auf „unsere“ Lebensqualität, sagt Ulrich Wilken, Landtagsabgeordneter der Linken. „Wir leben frei und queer“, man lasse sich von Ewiggestrigen und Klerikalfaschisten nichts anderes vorschreiben. Und der Wiebadener SPD-Stadtverordnete Dennis Vol-Borowski spricht sich für volle Akzeptanz aus: „Es ist scheißegal, wen du liebst.“ – Ist mir auch egal, denke ich. Wenn ihr hier also gegen eine andere Meinung demonstriert, könnt ihr nicht gleichzeitig von Vielfalt reden.

Wenn sie ihre Schlagworte erklären sollen, fragen sie, ob man die Frauen etwa wieder hinter den Herd schicken soll, nennen das von der CSU angedachte Betreuungsgeld „Herdprämie“. Substanzielleres fällt ihnen dazu nicht ein. Sie können alles nur mit den Augen der Jetztzeit sehen, bereinigen störende „unzeitgemäße“ Begriffe in Büchern, manipulieren Inhalte von Oper und Schauspiel so, dass man das Gefühl bekommt, vergangene Jahrhunderte hätten in demselben Zeitgeist gelebt wie heute und gehörten daher dafür noch nachträglich zur Rechenschaft gezogen.

Zwei Beispiele: Studenten wollen ihre Hochschule in Berlin umbenennen, weil Humboldt ein „Kolonialrassist“ gewesen sei; andere behaupten, Immanuel Kant verbreite aus einer „eurozentrischen weißen Perspektive rassistische Ansichten.“ (Zu finden in „Die Freiheit der Wissenschaft und ihre ‚Feinde'“, Seite 103/104.) Preise werden oft nur noch an „Gleichgesinnte“ verliehen. Hat man sich dann doch einmal „geirrt“, wie jetzt bei dem österreichischen Schriftsteller Peter Handke wegen seines Versuchs, im Jugoslawienkrieg die Seite der Serben mit einzubeziehen, soll er sich jetzt erst mal entschuldigen oder auf den Nobelpreis ganz verzichten.

Der „neue Mensch“ und die Rolle der Kindheit

Ist das jetzt mal wieder „der neue Mensch“, der erneut in den Fantasien auftaucht – der Traum aller Ideologen? Einer, der keine Vergangenheit hat, keine Herkunft und Entwicklung, der wieder bei Null beginnen soll – wie beim Kommunismus, bei den Bauhäuslern, bei totalitären Regimen jeder Art und dann wieder bei den 68ern? Der „neue Mensch“ ist naturgemäß in der Kindheit und Jugend zu formen. Wir konnten und können die Bemühungen überall beobachten.

Nur ein Beispiel: Kinder seien in Krippen oft besser aufgehoben als zuhause, wird schlicht und apodiktisch behauptet. Ja, das kann unter dem Druck der ökonomischen Verhältnisse und ohne Wahlmöglichkeiten oft so sein, weil heute im Gegensatz zu früher beide Eltern gezwungen sind zu arbeiten, um zu überleben. Die Erkenntnisse der Bindungsforschung müssen daher lautlos im tiefen Brunnen der Vergangenheit verschwinden und anderen sozialen Einflüssen in einer Zeit des Lebens Platz machen, in der der Mensch am formbarsten ist, weil er entwicklungsbedingt noch keinen kritischen Standpunkt einnehmen kann. Sich später aus dieser Konditionierung zu lösen, ist praktisch unmöglich, und damit rechnen diejenigen, die das für ihre Zwecke nutzen wollen. Wir können die Konditionierung gerade jetzt wieder bei den Kindern der IS-Kämpfer sehen, die in der rigiden Glaubenswelt ihrer Eltern aufwachsen und schon im Kindesalter kein anderes Leben kennenlernen als Kampf, Hass auf Andersdenkende und Tod (Siehe ZDF-Dokumentation „Kinder des Dschihad“).

„Macht kaputt, was euch kaputt macht!“

Der „Marsch durch die Institutionen“, von den 68ern propagiert, scheint gelungen. Nebenbei bemerkt: Der Untergang der Welt war schon damals – in meiner Jugend zu Zeiten der Studentenunruhen, also vor 50 (!) Jahren – genauso Thema wie heute. „An den Weltuntergang haben wir uns seit dem Waldsterben gewöhnt“ schreibt die „Taz“ 2015. Ein halbes Jahrhundert ist vergangen, und nichts ist geschehen! Im Gegenteil: Die weltweiten Kohlendioxidemissionen und die Kohlendioxidkonzentration in der Atmosphäre nehmen kontinuierlich zu. Seit 1970 haben sie sich mehr als verdoppelt.

Genauso wie heute wurden damals Vorlesungen und ähnliche Veranstaltungen niedergebrüllt und gewaltsam verhindert. Genauso wie heute wurde nur eine Meinung geduldet und die Macht durch Diskriminierung beansprucht. Nur mit dem Unterschied, dass die 68er mit ihren radikalen Auswüchsen noch vom Staat bekämpft wurden, während ihre Nachfolger heute die Institutionen erobert haben und von der Politik unterstützt werden.

Das, was uns bisher kulturell geprägt hat, was uns Orientierung geboten hat, soll aufgebrochen werden. Alles, was einmal ein gewisses Maß an Geborgenheit und Sicherheit bedeutete, sollte schon damals weg: die traditionelle Familie, die christlichen Traditionen, Bürgersolidarität, Bindung und Kontinuität, Formen des Umgangs und des Respekts, Achtung der Intimsphäre und Taktgefühl. Heimat, Nation und Familie wurden zum Inbegriff dessen, wovon man sich abzusetzen hatte. Das gilt auch für Menschen, die heute – ermutigt durch einen Pakt, der Migration zu einem Menschenrecht macht – entwurzelt und desorientiert durch die Welt irren und sich nirgends mehr zuhause fühlen können.

Als Ersatz wird Beschäftigung auf Nebenschauplätzen geboten: Dauerauseinandersetzungen der Parteien, Klimadebatten ohne Ende. Party im weitesten Sinne: Gender-Ideologie und Sex jeder Art ab frühem Kindesalter, Shopping, Betäubung, billige Beschallung und Drogenrausch: alles, was der Begriff Spaßgesellschaft beschreibt. Spaß, der sogar nach Attentaten und Terroranschlägen immer als erstes eingefordert wird. Bei Fridays-for-Future-Demos muss man nicht mehr seine spaßgetränkte Freizeit opfern, sondern bekommt – statt Informationen über die Hintergründe – von Politikern, Lehrern und Eltern Beifall gespendet. Politiker die sich dann besonders über die Unterstützung der „Kids“ für ihre Steuererhöhungen freuen. Demos als ausgelassene, selbstvergessene „Events“ mit meist auf Englisch beschriebenen Plakaten, die nicht selten Berge von Müll hinterlassen.

„Keiner kann anders, als er ist“

Im gleichen  Sinne wie Professor Singer in der FAZ über die Natur des Menschen äußert sich auch Erich Fromm in seiner sozialpsychologischen Untersuchung „Wege aus einer kranken Gesellschaft”. Zitat: „Aber genauso wie er die Stoffe der Natur nur entsprechend ihrer Eigenart umwandeln und verändern kann, so kann er [der Mensch] auch sich selbst nur seiner eigenen Natur entsprechend umwandeln und verändern“. Der Druck durch eine manipulative Minderheit, die Gesellschaft zu etwas zu erziehen, was wir tief in uns nicht wiederfinden, was uns widersinnig, ja, irre vorkommt, was mit unseren Erfahrungen nicht übereinstimmt, führt, wenn wir dem Druck nachgeben, zu einem schizophrenen „falschen Leben“, wie uns Hans-Joachim Maaz in seinem gleichnamigen Buch erklärt. Obwohl wir uns in einer Zeit des tiefgreifenden Umbruchs befinden, sollen wir so tun, als ob wir alle die drastischen Veränderungen, den Umbau unserer Gesellschaft als normal hinnehmen, ja, sogar begrüßen, und den weißen Elefanten im Raum mit offenen Augen („Eyes Wide Shut“ – Film von Stanley Kubrick) übersehen, um nicht geächtet zu werden und die Kosten für unser „Vergehen“ – Ausschluss aus der Gesellschaft und Verlust des Arbeitsplatzes – nicht tragen zu müssen.

Immer mehr Menschen spüren, dass irgendetwas nicht stimmt. Dass Dinge auf den Kopf gestellt werden. Dass Europa in den letzten Jahren eine Entwicklung durchgemacht hat, die unweigerlich zum Ende unserer geistigen Freiheit, unserer Kreativität, Phantasie und unserer Möglichkeiten, Kritik zu üben, führen muss und uns zu orientierungslosen Untertanen einer vereinheitlichten Welt macht, in der Zusammenhalt, Harmonie und Schönheit keine Rolle mehr spielt. Menschen, die im weitesten Sinne keine Heimat mehr haben, wandern heute durch eine unwirtliche „bunte, grenzenlos tolerante und offene“ Welt, die immer trister, intoleranter und geistig immer eintöniger wird. „Etwas Bornierteres als den Zeitgeist gibt es nicht. Wer nur die Gegenwart kennt, muss verblöden“ befindet der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger, der gerade seinen 90. Geburtstag gefeiert hat. Und zum Schluss möchte ich noch einmal auf den großen Erkenntnis- und Erfahrungsschatz eines großen Dichters und Denkers zurückkommen: „Die Lüge wird zur Weltordnung gemacht.“ Zitat aus „Der Prozess“ von Franz Kafka ( Erstdruck Berlin 1925, posthum).

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