Tichys Einblick
Parlamentspräsidium

Förmchen werfen im Bundestag

Eine All-Parteien-Querfront ist sich einig: Die größte Oppositionsfraktion im Parlament soll keinen Bundestagsvizepräsidenten stellen. Das ist erschütternd kindisch. Die AfD reagiert auch nicht viel erwachsener.

© John MacDougall/AFP/Getty Images

„Jede Fraktion des Deutschen Bundestages ist durch mindestens einen Vizepräsidenten oder eine Vizepräsidentin im Präsidium vertreten.“

(§ 2 Abs. 1 Satz 2, Geschäftsordnung des Deutschen Bundestags)

Zuerst trifft es die Grünen.

1983, die Partei war erst drei Jahre zuvor überhaupt gegründet worden, zieht die neue bundespolitische Alternative in den Deutschen Bundestag ein. Der Empfang dort ist, man kann es nur so sagen: frostig. Die von den Grünen selbst nicht wirklich liebevoll so genannten „Altparteien“ wollen sich auf die Neulinge als gleichwertige Gesprächspartner nicht einlassen und sie nicht als Polit-Gegner auf Augenhöhe akzeptieren. Entsprechend lassen sie die grüne Kandidatin Christa Reetz bei der Wahl zum Bundestagsvizepräsidenten dreimal durchfallen. Statt einer Grünen sitzen schließlich gleich zwei FDP-Politiker im Präsidium. Erst 1994 bekommt das Bundestagspräsidium auch ein grünes Mitglied.

Dann ist die „Linke“ dran.

Neues Jahr, gleiches Spiel: 1990 heißt die SED-Nachfolgepartei zwischenzeitlich gerade PDS. Ansonsten folgt alles dem bekannten Muster: Die Altparteien wollen die neue Partei ausgrenzen und lassen deren Kandidatin bei der Wahl zum Vizepräsidenten krachend durchfallen. Erst 1998 bekommt das Bundestagspräsidium auch ein linkes Mitglied.

Und jetzt also die AfD.

2017 zieht die neue bundespolitische Alternative in den Deutschen Bundestag ein. Der Empfang (Überraschung!) ist frostig. Der AfD-Kandidat (Überraschung!) fällt bei der Wahl zum Bundestagsvizepräsidenten dreimal durch. So weit, so bekannt.

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Vielleicht wiederholt sich Geschichte ja. Aber wenn sie es tut, dann zieht sie sich zwischendurch um. Das Gezerre um den AfD-Parlamentsvizepräsidenten ist zwar einerseits so wie seine Vorgänger – aber andererseits eben doch auch anders: Denn mittlerweile hat jede Fraktion im Bundestag einen festgeschriebenen Anspruch auf einen Vizepräsidenten.

Das mag den Parteien, die heute Altparteien sind, nicht gefallen. Aber sie haben es selbst so in die Geschäftsordnung geschrieben, schon 1994. Manchmal hat Geschichte übrigens auch Humor: Beschlossen wurde dieser Passus seinerzeit auf Antrag der Grünen.

Sowohl die Ökopaxe als auch die anderen Parteien schert ihr Geschwätz von gestern (bzw. ihre Geschäftsordnung von 1994) allerdings wenig. Mag die AfD auch festgeschriebene Ansprüche haben: Man ignoriert sie. So geht Gleichberechtigung im Bundestag: Die AfD sagt „Wir haben eine Berechtigung“ – die anderen Parteien sagen „Gleich“. Und so fällt nicht nur der erste AfD-Kandidat für das Vizepräsidentenamt, Albrecht Glaser, dreimal glatt durch – auch die danach nominierte Mariana Harder-Kühnel wird zweimal nicht gewählt.

Rechtlich ist das auf den ersten Blick in Ordnung. Zwar steht der Passus in der Geschäftsordnung im Indikativ: „ist vertreten“. Es handelt sich also nicht um eine dieser berüchtigten Soll-Vorschriften. Aber jeder Vizepräsident muss eben ganz unabhängig von seiner Fraktionszugehörigkeit ausdrücklich von einer absoluten Mehrheit des Bundestages gewählt werden. Verfehlt ein Kandidat das Quorum, ist er  halt nicht gewählt – ganz egal, zu welcher Fraktion er gehört.

Nun hat Harder-Kühnel allerdings nach dem ersten verlorenen Wahlgang allen anderen Fraktionen angeboten, sich bei ihnen vorzustellen und im direkten Gespräch Vorbehalte auszuräumen – und Bedenken gegen sie persönlich haben ihre politischen Gegner dabei gar nicht geäußert. Dafür wird Journalisten recht unverhohlen klar gemacht, dass man grundsätzlich dagegen sei, überhaupt irgendjemanden aus der AfD-Fraktion zu wählen. Das „destruktive Gebaren der AfD-Fraktion in ihrem ersten Parlamentsjahr“ habe zu einer generellen Ablehnung von AfD-Kandidaten geführt, fasst die „Hessische Niedersächsische Allgemeine“ ihre Recherchen zusammen. Die SPD-Pressestelle erklärt, dass „die Ereignisse von Chemnitz eine Zäsur waren“.

Tatsächlich wird die Nichtwahl also nicht mit der Ablehnung der Person von Harder-Kühnel begründet – was nach der Geschäftsordnung des Bundestages in Ordnung wäre. Die Nichtwahl wird mit der Fraktionszugehörigkeit von Harder-Kühnel begründet – was nach ebendieser Geschäftsordnung gerade nicht in Ordnung ist.

Um es höflich zu formulieren: Die All-Parteien-Querfront gegen die AfD im Bundestag biegt sich das Recht zurecht.

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An dieser Stelle, um mit Angela Merkel zu sprechen, ist es möglicherweise hilfreich, die Sinnfrage zu stellen: Was soll das Ganze?

Die damaligen Altparteien haben sich nach Kräften gewehrt, und nach elf Jahren saßen die Grünen dann doch im Parlamentspräsidium. Bei der SED/PDS/“Linken“ hielt der Widerstand noch acht Jahre. Glaubt irgendjemand, der auch nur halbwegs bei Sinnen ist, ernsthaft daran, dass man der größten Oppositionspartei auf Dauer verwehren kann, einen Bundestagsvizepräsidenten zu stellen?

Das Unvermeidliche wird also passieren, früher oder später. (Es sei denn, man hofft darauf, die AfD werde schon irgendwie wieder verschwinden. Das haben viele beim Internet ja auch gehofft. Heute Morgen, als ich das letzte Mal nachgeschaut habe, war es immer noch da.) Deshalb ist nicht ganz ersichtlich, was mit der absehbar endlichen Ausgrenzung der AfD eigentlich erreicht werden soll.

Manche meinen, man müsse den Anhängern der AfD klar machen, dass sie sich mit ihrer politischen Wahlentscheidung ins gesellschaftliche Abseits stellen. So kann eigentlich nur jemand argumentieren, der schon sehr lange nicht mehr mit ganz normalen Leuten geredet hat: mit Bürgern, die nicht bei den zahllosen Behörden, Parteien, Stiftungen, sogenannten NGO, öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten oder sonstigen öffentlich finanzierten Einrichtungen arbeiten und dort auf die eine oder andere Weise von dem leben, was andere erwirtschaften. Wer mit diesen bemitleidenswerten Bürgern redet – mit denen, die für ihren eigenen Lebensunterhalt hart arbeiten und so die anderen noch mitfinanzieren – der weiß, dass die allermeisten Anhänger der AfD sich längst im gesellschaftlichen Abseits fühlen: ausgegrenzt, stigmatisiert, benachteiligt. Wie, zur Hölle, will man die denn durch mehr Ausgrenzung, Stigmatisierung und Benachteiligung zurückgewinnen?

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Im Fußball würde man das eine Steilvorlage nennen. Und die AfD ist gerade dabei, den Ball zu verstolpern.

Fraktionschef Gauland droht den anderen Fraktionen nach Harder-Kühnels zweiter Abstimmungsniederlage, die würden schon sehen, was sie davon hätten. Wenig später zeigt er, was damit gemeint ist: Die AfD zweifelt die Beschlussfähigkeit des Plenums an und erzwingt dadurch einen sogenannten „Hammelsprung“. Das ist für alle lästig: Die anwesenden Abgeordneten müssen das Plenum verlassen. Die Parlamentarischen Geschäftsführer müssen alle Abgeordneten, die irgendwo im Bundestag in anderen Sitzungen sitzen, per Notsignal ins Plenum rufen. Dann müssen alle herbeizitierten Abgeordneten durch verschiedene Türen wieder ins Plenum gehen – auf dass, frei nach der Weihnachtsgeschichte, sie gezählet werden können.

Das ist, wie erwähnt, lästig – mehr aber auch nicht. Im konkreten Fall war der Bundestag dann auch noch bequem beschlussfähig, obwohl die AfD-Fraktion selbst alles versuchte, die Zahl der Anwesenden zu drücken.

Unterm Strich: Im Sandkasten des Deutschen Bundestags haben die anderen Fraktionen mit Förmchen geworfen. Die AfD fand das gemein, wollte sich das nicht gefallen lassen und hat zurückgeworfen. Am Ende haben alle geheult.