Tichys Einblick
Pro und Contra

FDP: Lindners laues Lüftchen weht durch den Parteitag

Mit Spannung wurde der FDP-Parteitag erwartet, der in Berlin-Kreuzberg begonnen hat, und ein wenig wirkt er auch so – wie Berlin-Kreuzberg, wie ein charmanter Versuch, nicht erwachsen zu werden, so Klaus-Rüdiger Mai. Roland Tichy wird seine Sicht dagegen stellen.

© Tobias Schwarz/AFP/Getty Images

Mit Spannung wurde der FDP-Parteitag erwartet, der in Berlin-Kreuzberg begonnen hat, und ein wenig wirkt er auch so – wie Berlin-Kreuzberg, wie ein charmanter Versuch, nicht erwachsen zu werden. Wer, wie Christian Lindner es in seiner Rede unternimmt, ein Heimatministerium gegen das peinliche Denglish von „Innovation Nation“ – so der Parteitagsslogan – auszuspielen, träumt in einem aufwendig sanierten Kreuzberger Loft von der Welt. Und so bot die Rede des Parteivorsitzenden wenig Analyse, dafür aber die Marketing-Erzählung „Lindner und wie er die Welt sieht.“

Lindner und wie er die Welt sieht

Den ersten Teil seiner Rede nimmt Europa, genauer die EU ein, denn auch Lindner vermag nicht zwischen Europa und der Brüsseler EU zu unterscheiden, sieht nicht, dass die EU zu einer schweren Bürde und vielleicht auch zu einer Gefahr für Europa werden kann. Es kommt einer Milchmädchenrechnung gleich, wenn man meint, Auseinandersetzungen zwischen Staaten in Europa dadurch zu vermeiden, dass man die europäische Einigung vertieft, letztlich aber nur interne Spannungen erzeugt, die zu innereuropäischen Konflikten führen. Dringend geboten ist vielmehr eine Debatte, welches Europa wir wollen, welches Europa für die Europäer das beste wäre. Diese aus liberaler Perspektive zu eröffnen, wäre ein gewichtiger Beitrag.

Wie kann ein Liberaler zu der Phrase kommen, dass jede mögliche Antwort auf alle Krisen mit einem Wort begänne „und dieses Wort … Europa“ hieße? Selbst der liberale Historiker Heinrich August Winkler wirft der EU große Demokratiedefizite vor. Im Grunde agiert die EU-Kommission wie eine Verwaltungsbürokratie über die Köpfe und häufig über die Interessen der Bürger Europas hinweg. Jüngstes Beispiel dafür ist die neue Datenschutzverordnung, die in knapp 14 Tagen in Kraft treten soll und die gerade Mittelständler hart treffen wird. Doch das neueste Bürokratiemonster der EU kommt in Lindners „Innovation Nation“ gar nicht vor.

Nachhecheln hinter Macron

Schiebt man ein paar Feigenblätter der Rede beiseite, so kritisiert Lindner Merkel dafür, dass sie Emmanuel Macron nicht rasch genug auf dem Weg folgt, dass Deutschland Souveränität verliert. Nimmt man den FDP-Vorsitzenden ernst, dann kann es ihm nicht schnell genug gehen mit der Auflösung der Bundesrepublik, denn er fordert eine gemeinsame Verteidigungs-, Außen, – Energie-, Klima-, Bildungs- und Handelspolitik. Wie soll eine gemeinsame Handelspolitik aussehen, die französische und deutsche Besonderheiten und Interessen gleichermaßen berücksichtigt? In der Realität wird es darauf hinauslaufen, dass die deutschen Interessen vernachlässigt und die Deutschen sich erhabene Gefühle machen werden, weil sie das als ihren Beitrag für Europa feiern werden. Das Dumme daran ist nur, dass die Deutschen die Einzigen sein werden, die einen Beitrag liefern, während andere ihre Interessen wahren – was nicht verwerflich, aber für Europa erforderlich wäre.

Es ist schon heuchlerisch, Trumps America-first-Politik zu kritisieren, wenn Frankreich und Italien seit jeher und weiterhin einer France-first- oder Italia-first-Politik unter klingender Europa-Rhetorik folgen.

First gilt nur für die USA, Frankreich und Italien, nie für D.

Lindners europapolitische Vorstellungen münden in die Forderung nach einem gemeinsamen EU-Haushalt. Illiberal ist die Forderung der FDP-Vorsitzenden schon allein deshalb, weil der gemeinsame EU-Haushalt sukzessive das Königsrecht der nationalen Parlamente, das Haushaltsrecht, auflösen wird, zumal Lindner sogar für einen Europäischen Währungsfond eintritt. Mit diesem Währungsfonds wären dann endgültig die Schulden sozialisiert, die deutschen Sozialkassen geplündert und jede Möglichkeit, finanzpolitischen Einfluss zu nehmen, für Deutschland beendet. Der Bürger, der Souverän, bliebe von da an außen vor. Auch wenn Lindner glaubt, das verhindern zu können, wenn er den Währungsfonds „im Dienste der finanzpolitischen Eigenverantwortung“ stellen möchte, dann weiß es der FDP-Vorsitzende entweder nicht besser oder es stellt eine bloße Nebelkerze dar. Denn den Bestimmungen zur „finanzpolitischen Eigenverantwortung“ wird es ergehen, wie weiland der no-bail-out-Klausel. Zudem lässt sich auf Dauer nicht verhindern, dass der Währungsfond von „Spezialisten“, von Technokraten, die von der EZB und der EU-Kommission benannt werden, in vulgo: von Brüssel verwaltet wird.

Wenn, wie Lindner sagt, jede Antwort auf jede Krise mit einem Wort beginnt und das Wort Europa heißt, plädiert er letztlich für die Vereinigten Staaten von Europa. Liberal gedacht aus der Perspektive der Bürger ist das nicht, es ist ein Votum für einen supranationalen Einheitsstand, dessen demokratische Legitimation fragwürdig ist.

Marx und der Luftballon namens Blockchain

Deutschlands Hauptproblem sieht Lindner darin, dass die Bundesrepublik ihre Zukunft verspielt. Denn: „Ein Land, dass sich mehr mit Karl Marx beschäftigt als mit Blockchain, ist dabei, den Anschluss zu verlieren.“ Der Satz ist eine Meisterleistung, denn mehr Oberfläche, mehr Phrase, mehr Luftballon geht rhetorisch nicht. Auf Blockchain wird man politisch und wirtschaftlich nicht reagieren können, wenn man sich nicht mit politischen und wirtschaftswissenschaftlichen Denken beschäftigt hat – und da gehört Karl Marx dazu, wenn auch als Warnung, wie schnell emanzipatorische Modelle ins Totalitäre kippen können, übrigens schon bei Marx selbst. Es gehört allerdings zu den Legenden, dass Marx richtig lag, er nur von seinen Anhängern verfälscht wurde. Auch wenn die „wissenschaftliche Weltanschauung“ des Trierers nicht Wissenschaft, sondern lediglich Weltanschauung war, steht er mit seinem Werk „Das Kapital“ in der Tradition eines ökonomischen Denkens, dass mehr war als die fragwürdigen Interpretationen dubioser mathematischer Kalküle, mit der heutige Wirtschaftswissenschaft gern vor den geistigen Herausforderungen einer gesellschaftlichen Analyse ökonomischer Entwicklungen flieht. Doch Blockchain ist nicht nur Innovation, sondern auch die Möglichkeit der technischen Realisation eines Überwachungsstaates, nicht nur im Bereich einer Kryptowährung, die das Bargeld ersetzen würde. Denn die große Frage bei Blockchain und vor allem bei der Kryptowährung ist doch, wer den Schlüssel der Verschlüsselung in der Hand hält.

Man kann auch auf beiden Seiten vom Pferd fallen. Die FDP muss aufpassen, dass sie in ihrem Modernitätsstreben nicht die Bürgerrechte verscherbelt und den Verlust als Kollateralschaden abtut. Deutschlands Zukunftsfähigkeit in Gefahr zu sehen, weil wir statt eines Digitalisierungsministeriums ein Heimatministerium haben, geht in die gleiche Richtung. In Lindners schicker Airbnb- und Uber-Welt hat die Lebenswirklichkeit der meisten Menschen und übrigens die Freiheit keinen Platz mehr, die davon bestimmt ist, dass die meisten Menschen in Familien leben und auf einen funktionierenden Staat angewiesen sind. Dass die Globalisierung immer stärker in der Herrschaft globaler Eliten gipfelt, die um so radikaler agieren müssen, um so öfter die Globalisierung an ihre Grenzen stößt, entgeht Lindner in seiner durchgestylten Rede. Schlimmer für einen Liberalen ist jedoch, wenn er nicht begreift, dass nur der in seinen Regionen lebende Mensch mit seinen unveräußerlichen staatsbürgerlichen Rechten, wozu auch Aspekte der sozialen Absicherung und des Schutzes vor Institutionen oder Konzernen, die seine Rechte ignorieren, gehören, wirklich frei ist, der globalisierte Mensch Spielball fremder Interessen und Sklave international agierender Eliten ist. Der globalisierte Mensch kommt der Freiheit nur nahe in der Illusion der Freiheit. Der freie Mensch benötigt als Garantie seiner Freiheit Region und Nation. Insofern müsste ein Heimatministerium eigentlich eine urliberale Forderung sein. Die liberale Frage lautet also nicht, Heimat- oder Digitalisierungsministerium, sondern welche Aufgaben aus liberaler Sicht ein Heimatministerium hat. Dass die Fragen der Digitalisierung in einem Heimatministerium angesiedelt sein müssen, versteht sich von selbst. Es geht nicht darum Trends blind hinterher zu laufen, sondern darüber zu diskutieren, welche Entwicklung wir nach Maßgabe des Möglichen wollen.

Folklore, wie es den Medien gefällt

Außenpolitisch ist Lindners Rede belanglos und setzt sich aus der Folklore der deutschen Medienwelt zusammen, ohne dass eine tiefergehende Analyse erfolgt. Lindner beklagt zu recht, dass sich die USA „von vielen Showplätzen auf der Erde zurückgezogen“ haben, um gleichzeitig Trump vorzuwerfen, dass er in den Unilateralismus zurückfällt, was Lindner für einen zivilisatorischen Rückschritt hält.

Richtig ist, dass die Doktrin von Obamas komplett gescheiterte Außenpolitik dieser „Rückzug“ war. Was Christian Lindner entgangen zu sein scheint, ist, dass unter Trump die USA auf „viele Showplätze der Welt“ zurückkehren, im fernen wie im nahen Osten. Die russische Außenpolitik, die so prächtig von Obamas Versagen gelebt hat, kommt durch die neue außenpolitische Doktrin der USA in die Krise. Dass sich das notwendigerweise unilateral gestalten muss, weil die EU oder auch nur Deutschland als außenpolitischer Akteur nicht erkennbar ist, liegt im Wesen der Sache. Hier widerspricht sich Lindner selbst. Überdies ist es eine Illusion zu glauben, dass eine auf Kosten der Mitgliedsländer gestärkte EU automatisch ein stärkerer außenpolitischer Akteur wäre.

Man kann den USA nicht vorwerfen, dass die Vereinigten Staaten ihre Interessen definieren, vorwerfen kann man aber der Bundesregierung, dass sie deutsche Interessen nicht formulieren oder nur negativ als Absagen. Die beste Zusammenarbeit findet nur auf der Grundlage klar und deutlich definierter Interessen statt. Für Deutschland ergeben sich zwei außenpolitische Axiome, und nicht nur aus historischer Erfahrung oder Verantwortung, sondern auch aus fundamentalen aktuellen Bedürfnissen heraus. Erstens eine enge Kooperation mit den USA, nicht trotz, wie Lindner meint, sondern mit Donald Trump, und zweitens die Sicherheit Israels, die Teil deutscher Staatsräson ist. Dass Lindner in seiner Rede nicht die Verlegung der deutschen Botschaft nach Jerusalem, wie es immer Lippenbekenntnis war, fordert, stellt ein tiefblickendes Desiderat der Rede dar. Israel ist der einzig wirklich demokratische Staat im Nahen Osten. Man sollte wissen, dass Israel uns nur vorangeht. Israels Schicksal wird a la longe auch unser Schicksal sein. Es ist eine Frage der Freiheit.

Kein Mut in der Migrationsfrage

In der Migrationsfrage schwimmt Lindner und rettet sich auf die richtige Forderung, dass wir eine Migration hochgebildeter Menschen benötigen, ohne das aktuelle Thema der Masseneinwanderung wenig gebildeter Menschen auch nur hinreichend zu würdigen. Lindner gelingt es nur deshalb, moderate Töne anzuschlagen, weil er den wirklichen Problemen in der Rede aus dem Weg geht und lieber auf Nebenkriegsschauplätzen ausweicht, wenn er beispielsweise Kardinal Reinhard Marx für dessen Kreuzallergie lobt.

Der ganze Pomp der Rede kommt in dem albernen Satz zum Ausdruck: „Unser Kontinent darf jetzt sein Rendezvous mit der Geschichte nicht verpassen.“ Als wären Europa und die Geschichte aparte Wesenheiten, die sich hin und wieder über den Weg laufen, der „Kontinent“ in kurzen Hosen, die Geschichte im bunten Sommerkleidchen.

In dem Satz spiegelt sich das Grundproblem des Parteivorsitzenden und der Partei wieder: die FDP setzt nicht auf liberale Inhalte, sondern auf liberales Marketing. Nicht wenige Satzkonstruktionen in Lindners Rede eignen sich eher für einen Vertreter von Lebensversicherungen oder einen Vermögensberater als für einen Politiker, der für Deutschland Verantwortung übernehmen will. Wer es für eine entscheidende Zukunftsfrage hält start ups zu fördern und Unternehmensgründern schon für das Nachdenken über die Gründung eines Unternehmens finanzielle Zuwendungen einräumen möchte, denkt in naiven Kategorien.

Der Parteivorsitzende will über die Zukunft reden und redet über die Vergangenheit. Nichts aber ist älter, als die Zukunftsvision von gestern. Es wird Zeit, sich mit einer Welt auseinanderzusetzten, die in Bewegung geraten ist, in der man kein Rendezvous mit der Geschichte haben kann, weil Geschichte längst stattfindet. Man kann der FDP nur zurufen: raus aus den Marketing, Vorsicht vor zeitgeistigen Formulierungen, hin zu den Problemen, zu Analysen, zur inhaltlichen Ernsthaftigkeit. Werdet erwachsen.