Tichys Einblick

Europäische Solidarität? Ja, aber der Preis ist entscheidend

Großzügigkeit gegenüber Italien und gegenüber anderen Regionen und Ländern, die besonders stark von den Folgen der Seuche betroffen sind, ist durchaus angebracht. Aber eine explizite Transferunion würde am Ende Deutschland selbst existenziell gefährden.

Wie Europa und insbesondere die EU nach dem Abklingen der Corona-Epidemie aussehen wird, lässt sich jetzt noch nicht wirklich prognostizieren. Klar ist freilich schon jetzt, dass Europa eine schwere Rezession mit erheblichen mittelfristigen Folgen nicht erspart bleiben wird. Italien, das zeichnet sich jetzt schon ab, wird es besonders hart treffen. Einerseits lebt das Land praktisch seit Einführung des Euro ohne jedes reale Wirtschaftswachstum, andererseits hat die Seuche das wirtschaftliche Zentrum des Landes, die Lombardei, mit der Gewalt einer Naturkatastrophe getroffen. Sicher haben die Behörden in Italien bei der Abwehr der Epidemie auch Fehler gemacht, indem sie etwa zu spät und zögerlich reagierten, aber solche Fehler wurden in Deutschland mindestens bis Mitte März auch begangen, man denke an die fehlende Schutzausrüstung für das Krankenhauspersonal und die deutlich zu spät erfolgte Schließung der Schulen. Auf Italien jetzt herabzublicken, wäre daher ein fataler Hochmut. Andererseits ist nicht zu leugnen, dass Italien schon vor der Corona-Epidemie unter einer viel zu hohen Staatsverschuldung litt. Wirtschaftliches Wachstum blieb auch deshalb aus, weil dringend notwendige Strukturreformen immer wieder verschoben wurden oder ganz unterblieben. Die fast einzige Ausnahme in dieser Hinsicht war die Zeit, in der Mario Monti italienischer Ministerpräsident war von Ende 2011 bis Ende 2012. Allerdings hatte sich die EZB damals noch nicht verpflichtet, italienische und andere Staatsanleihen der Eurozone in enormer und tendenziell unbegrenzter Höhe aufzukaufen. Italien stand somit unter dem Druck der Finanzmärkte. Ohne diesen Druck wären vermutlich auch die Monti-Reformen in Italien nicht durchsetzbar gewesen. Seitdem ist zwar an unterschiedlichen Stellen bei den Ausgaben gespart worden, das ist sicher richtig, strukturell hat sich aber wenig geändert.

Sicher ist die jetzige Extremsituation nicht der richtige Zeitpunkt, dies den Italienern haarklein vorzurechnen, und der Hilferuf Italiens und anderer besonders stark von der Corona-Krise betroffener Länder, zu denen Deutschland allerdings am Ende durchaus auch gehören könnte, sollte nicht ungehört verhallen, schon deshalb, weil ein regelrechter wirtschaftlicher Zusammenbruch Italiens auch den Rest Europa gefährden würde. Von daher ist eine gewisse Großzügigkeit gegenüber Italien und gegenüber anderen Regionen und Ländern, die besonders stark von den Folgen der Seuche betroffen sind, durchaus angebracht. Zu denken wäre hier etwa an zinslose Kredite der Kreditanstalt für Wiederaufbau, für die die Bundesregierung die Kosten und die Bürgschaft übernähme. 

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Sehr viel gefährlicher wäre es jedoch, wenn sich jetzt die Forderungen unserer europäischen „Freunde“ nach Corona-Bonds oder nach einem billionenschweren europäischen Marshall-Plan durchsetzen würden, die vor allem von Frankreich mit einer Leidenschaft verfochten werden, die doch stark an die Reparationsforderungen nach dem 1. Weltkrieg erinnert. Jedenfalls sprach sich der französische EU-Kommissar Thierry Breton für einen EU-Wiederaufbaufonds aus, der ein Volumen von 1,6 Billionen (ja, Billionen) Euro haben solle. Dass Breton vor allem Deutschland und die Niederlande als Geldgeber dieses Fonds sieht, sei es durch direkte Transfers aus Steuergeldern oder durch eine gesamtschuldnerische Haftung für die Anleihen, die dieser Fonds ausgibt, um Kapital einzusammeln, versteht sich von selbst. Sicherlich hofft Breton weit über die Bekämpfung der Corona-Rezession hinaus eine Transfergemeinschaft zu etablieren, mit der auch der französische Staatshaushalt entlastet werden kann. Indirekt soll damit vermutlich auch der französische Sozialstaat, der immer noch deutlich großzügiger ist als der deutsche subventioniert werden, denn dass Macron nach der jetzigen Katastrophe das Projekt einer Rentenreform wieder aufnehmen kann, ist mehr als unwahrscheinlich.
Gibt jetzt in Brüssel ein neuer französischer Clemenceau den Ton an?

Macron wird in seinem Kampf gegen Corona in Frankreich öffentlich schon mit Clemenceau verglichen, dem Premier, der den Ersten Weltkrieg gegen Deutschland gewann. Das richtet sich zwar nicht direkt gegen den vermeintlich unendlich reichen Nachbarn östlich des Rheins – es geht eher um die Entschlossenheit, mit der Clemenceau den Krieg führte – , aber dass solche höchst problematischen Vergleiche überhaupt möglich sind, zeigt doch, dass die Krise dem immer schon wenig gezügelten französischen Nationalismus weiteren Auftrieb gegeben hat. Leider ist es der deutschen Politik seit Ausbruch der Eurokrise – oder sollte man sagen, seit Begründung der EWG? – nie gelungen, eigene nationale Interessen im Konflikte mit Frankreich offen und klar zu formulieren. Es ist bedrückend dies festzustellen, aber in gewisser Weise ist Deutschland aus der Außenseiterposition unter den europäischen Staaten, die es nach 1945 aus verständlichen Gründen einnahm, nie herausgekommen. Alles andere hat sich seit Ausbruch der Eurokrise vor 10 Jahren als Illusion erwiesen. 

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Sicherlich hat die Bundeskanzlerin den französischen Präsidenten mit seinen gigantomanen Umverteilungsplänen in Brüssel immer wieder auflaufen lassen und rhetorische Zugeständnisse mit dem Versuch verbunden, den unmittelbaren finanziellen Schaden für Deutschland zu begrenzen. Andererseits besteht innerhalb der Eurozone auf dem Umweg über die EZB ohnehin eine potentiell unbegrenzte Haftungsunion. Wenn die EZB jetzt noch stärker und offener zur monetären Staatsfinanzierung übergeht, also die Ausgaben der Staaten über elektronisch neu geschaffenes Geld finanziert, und das wird sie, wird die daraus resultierende Geldentwertung, die sich in den vergangenen Jahren schon stark bei den Vermögenspreisen bemerkbar machte, auch die Deutschen treffen, und zwar zunächst vor allem wiederum die Mieter und Sparer, bald aber wohl auch die Konsumenten und die Bezieher von Löhnen und Gehältern.

Man könnte sogar meinen, dass Corona-Bonds mit gemeinschaftlicher Haftung gegenüber der stillen Vergemeinschaftung von Schulden durch die EZB den Vorteil haben, dass ihre Nutzung mit klaren Bedingungen verbunden sein könnte. Außerdem würden sie die negativen Konsequenzen des Euro für Deutschland, die jetzt schamhaft vor den Wählern verschwiegen werden, offen legen, wären also ehrlicher als das jetzige System. Allerdings würden sich damit die Zinsen für die einzelnen Länder der Eurozone noch mehr angleichen als bisher schon, und damit würde der letzte Anreiz für eine sachgerechte Fiskalpolitik entfallen. Sinnvoll wären Corona-Bonds auch eigentlich nur, wenn es gemeinsame europäische Steuern gäbe, um den Schuldendienst abzusichern, die das EU-Parlament, in dem Deutschland massiv unterrepräsentiert ist, dann beliebig erhöhen könnte, was die nationalen Parlamente endgültig entmachten würde. 

Außerdem ist es zweifelhaft, dass Deutschland für Konzessionen mit Blick auf gemeinsame Anleihen wirklich Gegenleistungen erhielte. Die Partner Deutschlands in der Eurozone, allen voran Frankreich, waren noch nie wirklich bereit, sich an einmal vereinbarte Bedingungen in einer Krise wirklich zu halten (man denke an den Maastricht-Vertrag und speziell den Stabilitätspakt), und die europäische Kommission ist auch weder gewillt noch in der Lage, die Einhaltung solcher Bedingungen zu erzwingen. Auch auf den EuGH sollte man in diesem Kontext auf keinen Fall rechnen, da er auch in der Eurokrise die europäischen Verträge und die Statuten der EZB immer sehr flexibel ausgelegt hat. Hier galt dann doch das Prinzip: Im Krieg und in Finanzkrisen schweigen die Gesetze. Mit einklagbaren Gegenleistungen kann Deutschland somit bei eigenen Zugeständnissen wohl kaum rechnen. 

Nun gibt es in Deutschland natürlich Politiker und „Experten“, die gerade dies begrüßen, weil sie den Gedanken, dass es legitime deutsche Interessen geben könnte, von jeher verneint haben. Man denke an Herrn Habeck oder an Ökonomen wie den fabelhaften Herrn Fratzscher oder auch jene fatalen, in Wirtschaftsfragen meist vollständig ignoranten „Kulturschaffenden“, die sich vor kurzem in der SZ mit einem flammenden Plädoyer für Corona-Bonds zu Wort gemeldet haben, und die von einem gewissen Herrn Bong, den sonst niemand kennt, angeführt wurden. Nur, in der jetzigen Krise sollte man sich bewusst werden, was die Politik von Herrn Habeck und seiner Anhänger in der Praxis bedeutet. Wer in Deutschland Ausgaben kürzen will, um andere europäische Staaten zu unterstützen und darauf läuft die Politik von Herrn Habeck ja unweigerlich hinaus, auch wenn er das nicht sagt, der muss am Ende auch weniger Geld für das Gesundheitssystem ausgeben. Noch ist dieses, obwohl ebenfalls deutlich unterfinanziert, etwas stabiler als das vieler Nachbarländer. Kommt es nun zu weiteren Einsparungen, wird spätestens bei der nächsten Epidemie, und die jetzige Katastrophe kann sich natürlich jederzeit wiederholen, die Zahl der Toten hier steil in die Höhe gehen – wobei das, was uns in den nächsten Monaten bevorsteht, vermutlich auch schon schlimm genug sein wird. Das heißt, am Ende gefährdet die Politik der post- und antinationalen Linken ganz konkret Menschenleben. Darüber sollte man in diesen Tagen sehr gründlich nachdenken, wenn man es mit solchen Menschen zu tun hat. Hier maskiert sich oft nur der Hass auf das eigene Land als Liebe zur EU (noch nicht einmal zu Europa) und zur Menschheit.

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Wie freilich soll man mit der Finanz- und Wirtschaftskrise, die nun ganz Europa niederwerfen wird, auch Deutschland, überhaupt umgehen? Am Ende werden die enormen zusätzlichen Ausgaben, wie schon angedeutet, vermutlich maßgeblich über die EZB, also über die „Druckerpresse“ finanziert werden, genauso wie in den USA oder Großbritannien über die dortigen Zentralbanken. Dieser Politik kann sich auch Deutschland nicht verweigern, weil es selbst auf eine massive Finanzkrise zusteuert. Die Wirtschaft muss durch gigantische Subventionen gestützt werden, die Steuereinnahmen brechen weg und viele Menschen werden in Not geraten, und bedürfen daher der Unterstützung durch den Staat.

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Sicherlich könnte man zusätzlich zur Finanzierung durch die EZB einen EU-Hilfsfonds auflegen, der besonders stark betroffenen Regionen wie der Lombardei Unterstützung gewährt und an der Finanzierung eines solchen Hilfsfonds im Umfang von dann vielleicht 100 bis 150 Milliarden sollte sich auch Deutschland großzügig beteiligen, aber eben durch national aufgenommene Kredite nicht durch gemeinsame europäische Anleihen, die mit Sicherheit ein Fass ohne Boden sein werden. Das Wichtigste aber wäre zu begreifen, dass die Corona-Krise den Euro endgültig zur Ramsch-Währung machen wird, womit er sich freilich dann vom Dollar oder dem britischen Pfund vielleicht nicht einmal gar so groß unterscheiden wird, wenn man davon absieht, dass hinter diesen Währungen immerhin noch ein handlungsfähiger Nationalstaat steht, nicht eine labile Föderation von Einzelstaaten. Im Grunde genommen könnte Corona das Endspiel in der Krise des Fiat-Geldes, dessen Kaufkraft durch keine reale Werte hinterlegt ist, einleiten. Eine Währungsreform als mittelfristige Folge, ähnlich wie nach verlorenen Kriegen, ist keineswegs auszuschließen. 

In einer solchen Situation darf man alles sein, nur nicht Gläubiger, denn da kann man nur verlieren. Es ist deshalb das Gebot der Stunde, dass Deutschland das Ziel, grundsätzlich keine neuen Schulden zu machen, nicht nur für den Moment aufgibt, sondern für die absehbare Zukunft. Das Geld, das wir auf nationaler Ebene einsparen, um doch noch irgendwie zu einem soliden Haushalt gelangten, weckt nur die Begehrlichkeit unserer europäischen „Freunde“, die sich immer neue Möglichkeiten für die Begründung einer bedingungslosen Transfergemeinschaft ausdenken werden; nach Corona mehr denn je, das sieht man ja schon jetzt. 

Außerdem ist es keine gute Idee, in Zeiten wie diesen so wie Deutschland ein großes Nettoauslandsvermögen zu besitzen (vor der Krise ca. 2 Billionen Euro), da sich dieses in Krisenzeiten meist in Luft auflöst, was jetzt schon zum Teil geschieht und sich in Zukunft dann noch mehr als Problem erweisen könnte. Nein, jetzt gilt es Schulden zu machen, denn das wird der Weg sein, den die anderen Staaten der Eurozone ohnehin einschlagen, die damit auch den Wert unseres Gelds und unserer Währung bestimmen werden. Es bringt nichts, wenn man in dieser Lage auf Sparsamkeit setzt, denn man haftet für die anderen ja ohnehin auf dem Umweg über die EZB mit, abgesehen davon, dass ein drastisches Ansteigen der Schulden vermutlich nur über eine hohe Vermögensabgabe, eine Art Lastenausgleich vermeidbar wäre, die dem deutschen Mittelstand, der für unsere Wirtschaft von zentraler Bedeutung ist, endgültig den Todesstoß versetzen könnte. Entsprechende Vorschläge von Seiten der SPD gibt es ja schon. Damit soll nichts gegen eine höhere Besteuerung von Veräußerungsgewinnen bei Immobilien auch noch nach 20 oder 30 Jahren oder vielleicht auch höhere Erbschaftssteuern gesagt sein. Solche Forderungen werden sich faktisch angesichts der jetzt vermutlich stark sinkenden Realeinkommen der Masse der Bevölkerung ohnehin nicht abweisen lassen, wenn die sozialen Spannungen nicht zu einer politischen Fundamentalkrise führen sollen.

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Aber in dieser Situation noch von einer Rückkehr zu der zumindest phasenweise – auch keineswegs durchgehend – halbwegs soliden bundesrepublikanischen Haushaltspolitik der Jahrzehnte vor Einführung des Euro zu träumen, ist eine Illusion, auch wenn man das bedauern muss. Deutschland stehen so oder so härteste Verteilungskämpfe bei vermutlich irreversibel sinkenden Realeinkommen bevor. Die Regierung wird nicht umhin kommen, diese fatale Entwicklung durch Mehrausgaben zumindest abzufedern. Wenn man freilich dann noch die unbegrenzte Haftung für alle Schulden der Nachbarländer in einer expliziten Transferunion übernimmt oder auf den Gebieten der Umwelt- oder Flüchtlings- und Immigrationspolitik die ganze Welt retten will, wie es den Vorstellungen vieler grüner und linker Politiker, aber auch zahlreicher Protagonisten des linken Flügels der CDU von Laschet bis Günther entspricht, dann wäre es wohl ehrlicher, die Bundesrepublik als Staat ganz aufzulösen und gleich Bankrott anzumelden. Es hätte sich dann erwiesen, dass die Gründung der Bundesrepublik 1949 nur ein Experiment war, ein gescheitertes Experiment, gescheitert an den Deutschen selbst, aber auch an ihren Nachbarn. Einzelne Bundesländer könnten sich dann vielleicht sogar als überlebensfähig erweisen, auch wenn Berlin und Nordrheinwestfalen wohl eher nicht dazu gehören werden.
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