Tichys Einblick
Die Kretzschmar-Debatte

Endet Meinungsfreiheit erst im Gefängnis?

Die Debatte um die Kritik der Handball-Legende Stefan Kretzschmar an fehlender Meinungsfreiheit zeigt eine Verkümmerung des Demokratie-Verständnisses in Deutschland. Und Mängel bei der Aufarbeitung unserer Vergangenheit.

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Endet Meinungsfreiheit erst im Gefängnis? Oder wenn man für eine „falsche“ Meinung umgebracht wird? Die Empörung an Kretzschmars Aussage kommt vor allem von denjenigen, deren Meinung nicht oder wenig von der vorherrschenden Stimmung in Politik und Medien abweicht – und denen deshalb die von dem Handballer angesprochenen Probleme eher fremd sind. Das ist, zugespitzt, so, wie wenn Veganer in einem Restaurant, das per Gesetz einen veganen Tag einlegen muss, nicht nachvollziehen können, dass sich die Steak-Liebhaber am Nachbartisch beklagen. Herrscht doch aus Sicht der Veganer große Vielfalt.

Wer die Meinungsfreiheit in Deutschland beurteilen will, sollte dabei nicht Katrin Göring-Eckardt, Andrea Nahles oder Sarah Wagenknecht und ihre Anhänger als Maßstab anlegen (wobei letzterer sogar verziehen wird, dass sie sich nie glaubhaft von ihrem früheren Stalin-Lob distanziert hat). Entscheidend ist das Motto von Rosa Luxemburg: Die Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden. Nur der Umgang mit diesen kann als Maßstab für Meinungsfreiheit gelten. Also etwa mit Thilo Sarrazin. Mit dem in Bremen attackierten AfD-Bundestagsabgeordneten Frank Magnitz. Mit Islam-Kritikern, die nur mit Polizeischutz leben können. Mit einem Schriftsteller, dessen Bücher aus dem Handel genommen werden. Mit Politikern, die wegen ihrer Parteizugehörigkeit aus Restaurants und Kinos rausgeschmissen werden, deren Kindern die Aufnahme in eine Schule verweigert wird, die pauschal als „Nazis“ entmenschlicht werden.

Dieser Teil der Realität wird von vielen ausgeblendet. So ein Mangel an Empathie und Einfühlungsvermögen ist nicht nur menschlich erschreckend. Er ist eine politische Bankrotterklärung. Eine der wichtigsten Lehren aus unserer Geschichte müsste es sein, Toleranz und Offenheit zu wahren für abweichende, vielleicht auch schwer zu ertragende Meinungen. Ihnen mit Argumenten zu widersprechen statt sie mit Tabuisierung und Stigmatisierung zu unterbinden.

Im Vergleich mit klassischen Diktaturen ist die Bundesrepublik ein freies Land. Doch das sagte ja auch Kretzschmar, indem er betonte, dass niemand für eine abweichende Meinung ins Gefängnis kommt. Aber genau an diesem Punkt wird deutlich, wie verengt bei vielen das Gesichtsfeld ist. Denn auch autoritäre Systeme modernen Zuschnitts setzen gegen Kritiker nur noch selten auf Knast oder physische Gewalt wie ihre Vorgänger. Sie grenzen Andersdenkende aus, diskriminieren und entmenschlichen sie: Sie bekommen keine Aufträge oder Arbeit mehr, werden in den großen Medien totgeschwiegen, in der Gesellschaft gemieden, als „Faschisten“ diffamiert, etc..

Diesen Methoden aus dem politischen Giftschrank kommen einem leider auch hierzulande nicht (mehr) völlig unbekannt vor. Das ist erschreckend, weil die Geschichte zeigt, dass autoritäre Denkweisen und Systeme oft langsam wachsen, dass es entscheidend ist, den Anfängen zu wehren. Fast kafkaesk ist, dass ausgerechnet die Diskussion um Kretzschmars Aussage, die massiven Vorwürfe gegen ihn, der Versuch, ihn sofort in die rechtsradikale Ecke zu drängen, seine hastige Abbitte, belegen, dass er Recht hatte. Und dass dieser offensichtliche Schluss von vielen ignoriert wird.

Es gehört einiges an Realitäts-Resistenz dazu, um Kretzschmars Stimme in den Wind zu schlagen. Denn auch über den Handballer hinaus gibt es Warnungen: “Merkwürdig ist es in Deutschland, dass normale politische Äußerungen abqualifiziert werden mit Nazi-Vorwürfen“, schrieb etwa Bassam Tibi in der Basler Zeitung. “Es geht darum, politische Überzeugungen der Mitte als illegitim im demokratischen Diskurs zu brandmarken.” Jaques Schuster diagnostizierte in der „Welt“ einen “Drang…, die Meinung des anderen nicht nur abzulehnen, sondern sie auszumerzen und ihn mit der Wucht eines Großinquisitors zu vertilgen, dem es bisher nicht gelang, die Ketzerei auszurotten.”

Der Historiker Heinrich August Winkler schrieb im Juli 2018 in der “Welt”: “Die deutsche Debattenkultur trägt leider immer noch Schlacken der absolutistischen Zeit. Es gibt auch eine Art von intellektuellem Absolutismus, die typisch ist für Staaten, die eine lange absolutistische Vergangenheit haben. In Deutschland gibt es (…) noch immer Spuren der Parole: ,Und willst du nicht mein Bruder sein, dann schlag’ ich dir den Schädel ein. Diese Art von politischer Debatte im Geiste der Religionskriege ist ein Stück der deutschen Pathologie.”

Zu dieser deutschen Eigenschaft scheint auch zu gehören, das Problem per se auszublenden. Frei nach Kurt Tucholsky: „In Deutschland gilt derjenige, der auf den Schmutz hinweist, für viel gefährlicher als derjenige, der den Schmutz macht.“