Tichys Einblick
„Querdenker”-Proteste

Ein deutschlandweiter ziviler Ungehorsam?

Erstmals seit dem Fall der Mauer keimt eine gesamtdeutsche Protestbewegung auf, die sich politisch keiner der bekannten Bewegungen der Nachkriegszeit zuordnen lässt.

imago Images/Stefan Zeitz

Der aufkeimenden „Querdenker”-Bewegung wird von weiten Teilen der polit-medialen Eliten mit der Nazi-Keule begegnet. Das wird ebenso wenig Erfolg haben wie der Einsatz der Kommunisten-Keule gegen die 68er-Bewegung und der Klassenfeind-Keule gegen die Bürgerrechtsbewegung.

Der ehemalige Herausgeber der WELT, Thomas Schmid, hat den Aktivisten, die während der Proteste gegen die Verabschiedung des „Bevölkerungsschutzgesetzes“ im Bundestag dort mehrere Abgeordnete bedrängt und beschimpft haben, in WELT-online vom 19. November „erpresserische Instandbesetzung“ nach dem Vorbild der Nazis vorgeworfen. Kurz zuvor berichtete der stellvertretende Chefredakteur der WELT, Robin Alexander, von einem massiven „Mobbing“ der Abgeordneten via Internet im Vorfeld der Abstimmung. Das hätten sich „die Querdenker von links abgeschaut“, zum Beispiel von Attac und Extinction Rebellion. Den Teilnehmern der „Querdenker”-Proteste, bei denen „Veganer auf Rocker treffen und Anthroposophen auf Reichsbürger“, bescheinigt Alexander: „Diese Bewegung ist nicht rechts“; sie verweigere allerdings hartnäckig die von ihr allseits geforderte Distanzierung zum Rechtspopulismus. Der Vollständigkeit halber hätte Alexander noch erwähnen können, dass nicht wenige der Teilnehmer, wie etwa die Impfgegner, bislang eher auf Demos der Grünen anzutreffen gewesen sind.

Diese gegensätzlichen und deswegen manchen Leser der WELT vermutlich irritierenden Bewertungen der jüngsten „Querdenker”-Aktionen stehen für eine öffentliche Auseinandersetzung um eine neu aufkeimende Protestbewegung, die sich wie viele bedeutsam gewordenen sozialen Bewegungen zu Beginn ihrer Entstehung politisch nicht eindeutig verorten lässt. Meist handelt es sich um ein Gemisch unterschiedlicher Gruppierungen mit verschiedenen politischen Ausrichtungen, die sich um ein oder mehrere Themen und Forderungen zusammentun. Das gilt auch für die „Querdenker”. Ihrem eigenen Selbstverständnis nach sehen sie sich weder in der Tradition rechter, noch in der Tradition linker Protestbewegungen der Weimarer oder der Bonner Republik; unter der Parole „Wir sind das Volk“, stilisieren sie sich vielmehr selbst als eine Art Neuauflage der Bürgerbewegung in der DDR, die ebenfalls ein breites Bündnis aus verschiedenen Gruppierungen gegen das dortige SED-Regime war.

Dies bringt erwartungsgemäß vor allem diejenigen polit-medialen Kräfte auf die Palme, die fleißig daran arbeiten, die „Querdenker”-Proteste öffentlich als eine Wiederkehr der Nazi-Bewegung der 1920er Jahre zu entlarven. Ihre weitere Ausbreitung soll so, vor dem Hintergrund des Holocausts, durch die in Deutschland maximal mögliche politische Brandmarkung und Desavouierung gestoppt werden. Eine Art „Bazouka“, die in diesem Fall nicht gegen eine Wirtschaftskrise, sondern mittlerweile gegen jede politische und/oder soziale Bewegung zum Einsatz kommt, die sich nicht links der Mitte verorten lässt.

Die „Querdenker” lassen sich dadurch von ihren Protesten, die eher zu- als abnehmen, bislang allerdings nicht abhalten. Vielmehr revanchieren sie sich für die gegen sie vorgebrachten Vorwürfe inzwischen ihrerseits mit dem Vorwurf, die Bundesregierung schaffe mit ihren derzeitigen legislativen Eingriffen in die Grundrechte wie die NSDAP im Jahr 1933 ein neues „Ermächtigungsgesetz“ zur Beseitigung der Demokratie in Deutschland. Damit erklären sie sich, gleichsam als Revanche für den Vorwurf, erklärte „Feinde der Demokratie“ zu sein, selbst zu den Verteidigern dieser Regierungsform, die nicht von ihnen, sondern von der Regierung selbst und den sie tragenden politischen Strömungen bedroht werde.

Vermutlich ohne es zu wissen, knüpfen die Querdenker damit an die Proteste gegen die „Notstandgesetze“ an, die Ende der 1960er Jahre von der ersten Großen Koalition (GroKO) aus Union und SPD erlassen worden sind und einer der Katalysatoren für die damals aufkeimende, linksradikale 68er-Bewegung war. Auch damals äußerten die Protestierer den Verdacht, die GroKo wolle sich diktatorische Befugnisse über den eigentlichen Souverän, das eigene Volk verschaffen. Die „Notstandsgesetze“ konnten die damaligen Protestierer freilich ebenso wenig verhindern wie die Protestierer von heute das neue „Bevölkerungsschutzgesetz“ – es sei denn, dieses scheitert noch vor dem Bundesverfassungsgericht. Der Protest gegen die „Notstandsgesetze“ wurde jedoch mit zu einer der Keimzellen einer politischen Bewegung, die sich gegen die damals herrschenden Verhältnisse und das mit ihnen verbundene Establishment in Wirtschaft, Politik, Kultur und Medien wandte.

Wenn man sich die Bilder und Berichte der „Querdenker”-Demos von heute anschaut, dann erinnern sie, bei allen offenkundigen Unterschieden in den politischen Vorstellungen und Zielen, am ehesten an die aufkommende 68er-Bewegung und deren Nachfolger in Gestalt der Friedens- und der Anti-Atomkraftbewegung, am wenigsten hingegen, trotz vereinzelter Reichkriegsflaggen, an die Aufmärsche der Nazis. Ins Auge stechen die vielfältige und recht bunte Zusammensetzung ihrer Teilnehmer ebenso wie die Skurrilität des Auftrittes mancher Demonstranten. Hinzu kommen die Vielschichtigkeit, Widersprüchlichkeit, teils auch eklatante Irrationalität ihrer Ansichten und Forderungen sowie die Ungestümheit, Rücksichtslosigkeit, Radikalität und Emotionalität, mit der sie vorgetragen werden. Letzteres wiederum unterscheidet sie deutlich von der Bürgerrechtsbewegung in der DDR, die sich angesichts der großen Risiken für Leib und Leben, die ihre Aktivisten mit ihren Protestaktionen gegen eine Diktatur eingingen, derlei Verrücktheiten nicht erlauben konnte.

Wie jetzt wieder, wandte sich schon Ende der 1960er Jahre in der Bundesrepublik, „eine kleine radikale Minderheit“ lautstark gegen die herrschende Politik und die sie tragenden Eliten. Diese Bewegung geriet nach ihrem Höhepunkt im Jahr 1968 zunächst in eine tiefe Krise und drohte am linksextremen Sektierertum vieler ihrer Wortführer und Anhänger Anfang der 1970er Jahre sowie am Terrorismus der RAF endgültig zu scheitern. Schlussendlich entwickelten sich aus ihr jedoch, trotz jahrelanger Überwachung durch den Verfassungsschutz und Berufsverboten, sowohl eine im Laufe der Jahre systemkonform gewordene neue (grüne) Partei wie auch weithin akzeptierte Organisationen und Netzwerke des „zivilen Ungehorsams“, sei es gegen die Umweltzerstörung, die Aufrüstung, die Atomkraft, den Freihandel und neuerdings gegen die Nutzung fossiler Brennstoffe.

Die noch sehr junge „Querdenker”-Bewegung versucht unübersehbar, an dieses Ergebnis anzuknüpfen, indem sie zu denselben Methoden des „zivilen Ungehorsams“ und der digitalen Kommunikation greift wie die Aktivisten der diversen grün-roten Organisationen und Netzwerke. Sie stellt sich allerdings nicht hinter, sondern gegen deren politischen Vorstellungen von gesellschaftlichem Fortschritt, dessen Folgewirkungen auf das soziale Zusammenleben durch maßloses Übertreiben zusehends problematischer und für breite Bevölkerungsschichten als Beeinträchtigungen ihrer Lebensweise spürbarer geworden sind. Das hat unter anderem Douglas Murray in seinem Buch über den „Wahnsinn der Massen“ nicht nur für Deutschland eindrücklich beschrieben.

Die derzeitige Corona-Politik wirkt in diesem Zusammenhang eher als Katalysator für eine in breiten Bevölkerungsschichten schon länger um sich greifende Missstimmung und Unzufriedenheit, als dass sie der alleinige Anlass und Bezugspunkt des Protestes wäre. Das zeigt sich unter anderem an dem Versuch der „Querdenker”, an den „zivilen Ungehorsam“ der Bürgerrechtsbewegung in der DDR anzuknüpfen, der sich gegen den von dem einstigen Bürgerrechtler Rolf Henrich kritisierten „vormundschaftlichen Staat“ richtete. Einen solchen Staat sehen viele „Querdenker”, vor allem aus den neuen Bundesländern, derzeit in einigen Teilaspekten wieder im Entstehen. Sie fürchten aus leidvoller Erfahrung, dass ihnen erneut staatlicherseits vorgeschrieben werden soll, wie sie zu leben, zu denken und selbst zu sprechen haben.

Ging es in der DDR dabei um die Durchsetzung der Wertvorstellungen einer umfassend herrschenden roten Elite im realen Sozialismus, geht es heute um die Durchsetzung von Wertvorstellungen und politischen Konzepten einer bislang vorwiegend kulturell herrschenden grün-roten Elite im realen Kapitalismus. Wer sich ihnen nicht beugt, droht von ihr als Menschenfeind, Rassist und Feind der Demokratie abqualifiziert zu werden, so wie non-konformistische und freiheitsliebende DDR-Bürger, die sich den Vorschriften der SED-Elite nicht beugten oder gar widersetzten, einst kurzerhand zu Klassenfeinden abgestempelt und aus der Öffentlichkeit verbannt worden sind.

Die staatlichen Vorschriften und Verbote zur Bekämpfung der Corona-Pandemie, die in das Alltagsleben der Menschen tief eingreifen, befördern den ohnehin schon bestehenden Verdacht zunehmender staatlicher Bevormundung, auch wenn sie mit den auf Diversität, Multikulturalität, Gender-Mainstreaming und Transnationalität geeichten Wertvorstellungen des grün-roten Milieus und dessen Wunsch, sie zur allgemein verbindlichen gesellschaftlichen Norm zu machen, direkt gar nichts zu tun haben. Es genügt, dass der Staat in einem gesundheitspolitischen Ausnahmezustand auf die Lebenswelt der Bürger zunehmend übergriffiger wird, um bei weiten Teilen von ihnen inzwischen die Befürchtung auszulösen, er wolle und werde es dabei, wie einst zu DDR-Zeiten, nicht belassen.

Erstmals seit dem Fall der Mauer keimt so eine gesamtdeutsche Protestbewegung auf, die sich politisch keiner der bekannten Bewegungen der Nachkriegszeit zuordnen lässt. Da sie zudem das westdeutsch geprägte, grün-rote Monopol auf „zivilen Ungehorsam“ in Frage stellt, schafft sie im wiedervereinten Deutschland eine neue, bislang unbekannte Lage. Sie beunruhigt und verstört damit vor allem diejenigen Teile der polit-medialen Eliten, die sich heute in großer Zahl aus den einstigen 68er-Rebellen und deren Nachfahren zusammensetzen.

Ebenso beunruhigt und verstört zeigen sich aber auch die polit-medialen Nachfahren der SED-Bonzen, die lange Zeit dachten, die alleinigen Gralshüter des sozialen Straßen-Protestes in den neuen Bundesländern zu sein. Auch von ihnen haben es dreißig Jahre nach dem Fall der Mauer viele inzwischen (wieder) in Amt und Würden geschafft und bilden zusammen mit ihren westdeutschen Gesinnungsgenossen eine gesamtdeutsche Elite grün-roter Prägung bis weit hinein ins bürgerliche Lager.

Gegen sie und ihre Politik richten sich nach dem Aufkommen und den Erfolgen einer neuen Partei in Gestalt der AfD nun – unabhängig von ihr – zusätzlich eine neue soziale Bewegung in Gestalt der „Querdenker”. Ein explosives Gemisch, das herrschende Verhältnisse in jeder Gesellschaft umso mehr unter Druck und in Bewegung setzt, je kritikanfälliger und hinfälliger sie sind. Entsprechend beunruhigt und über weite Strecken hysterisch reagiert die polit-mediale Elite daher inzwischen auf diese neue Protestbewegung. Dabei gilt es zu bedenken: So wenig wie der 68er-Bewegung einst mit der Kommunisten-Keule beizukommen war, war die Bürgerrechtsbewegung mit der Klassenfeind-Keule kleinzukriegen. Beide Male waren die Protestierer am Ende erfolgreich und setzten ihre Vorstellungen und Ziele mehr oder weniger durch.

Deswegen wird, trotz Nazi-Keule, wohl auch die „Querdenker”-Bewegung ihren Weg weiter fortsetzen, es sei denn, ihre Anführer stellen ihr selbst ständig die Beine, indem sie, wie zum Beispiel vor einiger Zeit vor dem Reichstag und einige Zeit später innerhalb des Reichstags, wiederholt so handeln, wie ihre Gegner es gerne hätten. Auch das muss nicht zwangsläufig zum völligen Aus führen, wie ebenfalls die 68er-Bewegung und die Bürgerrechtsbewegung mit ihren zahlreichen Auf und Abs zeigen. Die Warnung Konrad Adams an die AfD vom Juni diesen Jahres in der Neuen Züricher Zeitung (NZZ), dass es wohl nichts Dümmeres gibt, als sich selbst ständig in die Ecke zu begeben, in die einen die eigenen Gegner zu drängen suchen, müssen sich gleichwohl auch die „Querdenker” hinter die Ohren schreiben.

Anzeige