Tichys Einblick
Rotbraun ist die Haselnuss seit je

Ein Breilibü für KuehniKev

KuehniKev und die Braun-T-Shirt-Truppe sind einträchtig für Verstaatlichung. Spezielle Journalisten finden das bei KuehniKev eigentlich irgendwie gut.

Odd Andersen/AFP/Getty Images

Die Redaktion von Extra3, eine Art Abteilung des NDR für politische Kommentare, fertigte kürzlich zu der Debatte um Kevin Kühnert und die BMW-Kollektivierung eine sogenannte Kachel an, also eine für die sozialen Medien gedachte Kurzbotschaft.

Sie zeigt zwei Bilder, eins von dem Aufmarsch der rechtsradikalen Kleinstpartei „Der III. Weg“ in Plauen, eins von Kevin Kühnert mit der Sprechblase: „BMW kollektivieren!“ Über beiden steht jeweils ein Satz, den die extra-3-Leute offenbar für ein gesamtgesellschaftliches Rauschen halten. Der Satz lautet für den Rechtsradikalenaufmarsch „Muss eine Demokratie aushalten“, bei Kühnert: „Die sozialistische Diktatur kommt!“ Die Botschaft lautet also, die Öffentlichkeit solle sich besser über Kleinstadtnazis erregen als über die Forderung des Juso-Vorsitzenden nach mehr Venezuela in Deutschland.

So etwas nennt man Whataboutismus. Oder ins Deutsche übersetzt: Übergriffe in Köln? Oktoberfest! Die Technik ist nicht unbeliebt bei Leuten, die das Gesprächsthema gern in ihre Richtung lenken möchten. Was auch ganz in Ordnung geht. Lenken möchte ja jeder.

Zunächst einmal: Die Demokratie hält vieles aus, eine Partei mit bundesweit 500 Mitgliedern, deren Mitglieder in einheitlichen braunen T-Shirts auftreten, verdaut ihr Magen genau so wie einen 29jährigen Berliner Studenten mit derzeit ruhendem Studium, der sich Gedanken über die Zukunft des Landes macht. Wobei ein gewisser Unterschied insoweit besteht, als es sich bei den Drittweglern um die Sorte Specknacken handelt, denen Gegendemonstranten jedenfalls früher zugerufen hatten: „ohne den Verfassungsschutz/wärt ihr nur zu dritt“, während Kevin Kühnert die Nachwuchskaderorganisation einer Regierungspartei leitet.

Aber zurück zu der These von Extra3: Die Aussage, den Rechtsradikalenaufmarsch in Plauen müsse eine Demokratie aushalten, fand sich in der vergangenen Woche medial eher selten. Im Gegenteil, es überwog die Kritik daran, dass er erlaubt wurde, etwa hier und bei der Tagesschau, wo man bei der Berichterstattung über regionale Ereignisse bekanntlich sehr wählerisch ist.

Irgendeine wie auch immer geartete Bekundung, von den Speckspacken in Plauen ginge ein ernstzunehmender Debattenanstoß aus, lässt sich selbst mit großem Aufwand nirgends aufspüren, in keiner anderen Partei, keiner Redaktion, rundum nirgends. Offenbar verhält sich die real existierende Gesellschaft eben doch anders, als es die Friedrich-Ebert-Stiftung gerade in einem sehr umfangreichen steuerfinanzierten Papier nahelegte.

Wie sah nun in der abgelaufenen Sozialismuswoche das politisch-mediale Echo auf Kühnert aus? Von selbst käme ich natürlich nicht auf diesen Vergleich. Extra3 zwingt mich dazu.

Der SPD-Europaabgeordnete Tiemo Woelken twitterte:

„Der zentrale Satz in Kevins Interview ist übrigens dieser: ‚Was unser Leben bestimmt, soll in der Hand der Gesellschaft sein und demokratisch von ihr bestimmt werden.’ Wer hat damit ein Problem?“

Nun, zum Beispiel viele ältere und mittelalte Ostdeutsche, die sich noch ganz gut an den Erfolg staatlich gelenkter Wohnungsbau-, Backwaren- und Getränkekombinate erinnern können. Dass die Wagen von BMW unser Leben bestimmen und zur Daseinsvorsorge gehören – so muss man Woelken ja verstehen – ist eine nicht unoriginelle sozialdemokratische Debattenbereicherung, immerhin.

Es gehört zum Diskurshandwerk, jetzt einzuwenden: „Ja, aber die Kombinate waren nicht demokratisch bestimmt.“

Da waren die Genossen des Politbüros anderer Meinung. Sie sahen das wie jeder andere auch, der sich direkt von der Geschichte beauftragt fühlt.

Auch unter anderen Sozialdemokraten stieß Kühnert nicht auf Ablehnung. Der Vorsitzende der SPD in Nordrhein-Westfalen und damit Chef des größten SPD-Landesverbandes Sebastian Hartmann forderte als Reaktion auf Kühnert eine Debatte nach einem “grundlegend neuen Wirtschaftsmodell”.

Die grüne Politikerin Jamila Schäfer wiederum fand es auf Twitter „Ziemlich verrückt, dass sich so viele nicht mehr vorstellen können, dass ein Betrieb auch den Menschen gehören könnte, die dort arbeiten. Wir brauchen mehr langfristige Diskussionen darüber, wie wir eigentlich leben wollen. Und wir brauchen weniger Schnappatmung.“

Jamila Schäfer, ehemals leitende Funktionärin der Grünen Jugend und geboren 1993 in München, studiert laut eigenen Angaben Philosophie und Soziologie. In ihrer Vita finden sich keine Hinweise auf Erwerbsarbeit, anders als bei Kevin Kühnert, der immerhin sehr vorübergehend in einem Callcenter tätig war. Tja, ziemlich verrückt, Jamila, aber viele, viele Bürger dieses Landes können sich durchaus vorstellen, dass Betriebe auch den Menschen gehören, die darin arbeiten. Zum Beispiel die Inhaber von landwirtschaftlichen, gastronomischen und Handwerksfamilienbetrieben, in denen die Eigentümer sehr oft entweder die gesamte oder zumindest relevante Teile der Belegschaft ausmachen. Dazu kommen noch ebenfalls sehr viele Einzelunternehmer, vom freiberuflichen Statiker bis zum Imbissbüdchenbetreiber. Zu diesem Modell gehört allerdings auch, dass die kollektiven oder einzelnen Eigentümer eher keine 35-, 30- oder 28-Stunden-Arbeitswoche kennen, kein bezahltes Sabbatical, wie es die Linken-Vorsitzende Katja „Kingpin“ Kipping vorschlägt, und dass die Eigner dann, wenn es nicht so gut läuft, nicht nur mit wenig bis keinen Einnahmen auskommen, sondern auf das Ersparte zurückgreifen müssen, wobei sich das Ersparte als das definiert, was das Finanzamt in guten Zeiten übriggelassen hat. Jedenfalls unterscheidet sich die Praxis dieser Menschen etwas von dem Bild der Erwerbsarbeit, wie es die SPD verbreitet:

Ein Leben mit Risiko, Kredithaftung und ohne Überstundenvergütung ist nicht jedermanns und jederfrau Sache, was auch völlig in Ordnung geht. Deshalb gibt es ja sowohl Unternehmer als auch Angestellte in der freien Wirtschaft. Und es gibt Leute wie Kevin Kühnert und Jamila Schäfer, die auf ein bezahltes politisches Amt, einen Job beim Staat, einer NGO oder einer Werbefirma mit SPD-Aufträgen hinarbeiten. Oder eins der Ziele schon erreicht haben, wie Katja Kipping.

Dass kein Mistforkenaufstand der Kleinunternehmer gegen Quälgeister dieser diversen Sorten stattfindet, liegt übrigens daran, dass Mistforken in landwirtschaftlichen Betrieben ebenso wie ihre Eigentümer damit vollauf ausgelastet sind, Vieh zu füttern und Ställe auszumisten. Jeder, der damit schon einmal in Berührung gekommen ist, weiß: Erst das Vieh, dann der Mensch. Und dann ist Feierabend, weil es morgens um fünf weitergeht.) Wie sieht es mit dem Kevin-Echo in den Qualitätsmedien aus?

„Wenn selbst ein Juso-Chef keine Kapitalismuskritik mehr anzetteln darf, können wir das Nachdenken über andere Wirtschaftsformen gleich einstellen“, teilt Markus Feldenkirchen vom Spiegel-Hauptstadtbüro mit.

Die herzlose Antwort lautet: Wenn Markus Feldenkirchen und andere Schwergewichte in der Echozelle Berlin Mitte das Nachdenken über andere Wirtschaftsformen einstellten, würde das schon in Zehlendorf noch nicht einmal irgendjemand mitbekommen. Geschweige denn im Rest der Republik.

Der Konzernbetriebsratschef von BMW, Manfred Schoch meinte über Kevin Kühnerts Wirtschaftsformversuche: „Für Arbeiter ist diese SPD nicht mehr wählbar.“ Womit er die ganz private Mitte-Studie des Wochenrückblick-Autors stützt, die zu dem Ergebnis kommt: Die allermeisten Leute draußen im Land denken trotz der Veitstänze des politmedialen Justemilieu nach wie vor völlig normal.

Dort, in diesem Justemilieu, schrieb Nils Minkmar, ehemals FAZ, heute Spiegel, so etwas wie ein kollektivistisches Manifest gegen Schoch und für Kühnert („Das Tabu, das er bricht“), er stattete sozusagen #kühnikevs Worte mit Katzengoldschnitt und Lesebändchen aus:

„Nun wird kaum jemand annehmen, dass die Vergesellschaftung von BMW oder die Enteignung der deutschen Immobilienbesitze bevorsteht, dennoch hat ein in der Geschichte der Äußerungen von Juso-Vorsitzenden durchaus moderates Interview von Kevin Kühnert für Diskussionen und entsetzte, ja panische Reaktionen gesorgt. Das Tabu, das er gestört hat, lag nicht in den konkreten Vorschlägen oder in der Anrufung des politischen Zombies namens Sozialismus, sondern schon in seinem Gestus, die Zukunft anders zu verstehen als wir es uns angewöhnt haben und nun mit quasi-religiöser Inbrunst beschwören – nämlich als eine permanente Gegenwart.“ 

Was die Berliner Staatssekretärin und SPD-Politikerin Sawsan Chebli ihrerseits per Twitter zum „besten Debattenvorschlag von KuehniKev“ erklärte.

In ihrer twitterfreien Zeit betreibt Chebli übrigens in Berlin EU-Wahlkampf für die SPD. Bilder von ihrem Account beziehungsweise von dort, wo der Bär steppt, liefern ein einigermaßen realistisches Bild vom Zustand der SPD in einer Stadt, die diese Partei einmal mit absoluter Mehrheit regierte, als es noch galt, sich mit Ernst Reuter vor SED-Zombies zu schützen, die die Zukunft ganz anders verstanden. Nur als Randbemerkung: Es scheint fast so, als würde sich Chebli in ihrer authentischen Straßenagitation auf Leute kaprizieren, die
a) zu alt, b) zu jung oder c) zu beleibt sind, um sich rechtzeitig zu entfernen.

Aber das ist nur der sehr subjektive Eindruck eines weißen mittelalten Chronisten.
Es gäbe noch viel mehr zu zitieren, wir brechen hier ab. Für Kevin Kühnert, für seine Denkanstöße, Tabubrüche, Gesten und Überlegungen, sich ein Loch in die Kniescheibe zu bohren und auf Club Mate zu warten Unternehmen ganz anders zu organisieren, existiert also ein breites linkes Bündnis aus Medien und Politik, ein so genanntes Breilibü, wie es früher hieß, als Minkmar noch jung und Kühnert ungezeugt war.Es existiert eine so genannte Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen: Nach Meinung dieses wohlstandverwahrlosten bundesdeutschen Breilibü brauchen wir mehr Debatten über Kollektivierung, Enteignung und neue Wirtschaftsmodelle. Die meisten Menschen in Venezuela brauchen nach eigener Meinung Toilettenpapier und Eier. Nicht mehr davon, sondern überhaupt.

Um ganz zum Anfang dieses Wochenrückblicks zurückzukehren, zu den Specknacken von Plauen: Im Programm der Partei „Der III. Weg“ heißt es unter Punkt 2:

„Raumgebundene Volkswirtschaft
Ziel der Partei DER DRITTE WEG ist die Verstaatlichung sämtlicher Schlüsselindustrien, Betrieben der allgemeinen Daseinsfürsorge, Banken, Versicherungen sowie aller Großbetriebe.“

Von KuehniKev einerseits und der SED andererseits unterscheidet sich die Braun-T-Shirt-Truppe vor allem durch die Tatsache, dass sie nie Regierungspartei war und nie sein wird.

Wenn schon Whataboutism, dann richtig.


Der Beitrag von Alexander Wendt ist zuerst bei PUBLICO erschienen.