Tichys Einblick
Nicht erst seit „Chemnitz“

„Die Unfähigkeit zu trauern“ 2.0

Eine Gesellschaft, die um Verbrechensopfer nicht öffentlich trauern kann, ohne die Umstände des Verbrechens für billige ideologische Zwecke zu instrumentalisieren, ist eine fortschreitend dehumanisierte Gesellschaft.

Symbolbild

© Getty Images

Im Jahr 1967 und dann weit über dieses Jahr hinaus machte ein Buch des Psychoanalytiker-Ehepaars Alexander Mitscherlich (1908 – 1982) und Margarete Mitscherlich-Nielsen (1917 – 2012) Furore. Der vollständige Titel des Buches lautet: „Die Unfähigkeit zu trauern – Grundlagen kollektiven Verhaltens“. Das Buch ist ein nicht gerade leicht lesbarer Essayband, in dem der Titelessay rund ein Viertel des Gesamtwerkes ausmacht.

Der Titel wurde zum geflügelten Wort – benutzt auch von vielen, die das Buch weder gelesen noch verstanden hatten. Zum Beispiel von den 68ern, die das Buch als willkommene Munition gegen ihre Elterngeneration nutzten. Die Kernaussage des Titelessays war nämlich: Die Deutschen seien vor und nach 1945 nicht fähig zur „Trauerarbeit” gewesen. Der „soziale und politische Immobilismus der Bonner Republik“ (Mitscherlich) habe selbst nach 1949 die Verweigerung von Erinnerung verhindert; man habe gerne verleugnet, was der Nationalsozialismus verbrochen habe. Dahinter habe im Kern eine Trauer um das Idol Hitler gesteckt, die man habe kaschieren wollen durch ein Hineinstürzen ins Wirtschaftswunder.

Dass es dem Werk des Ehepaars Mitscherlich an jedem empirischen Beweis fehlte; dass hier zwei Psychoanalytiker Erfahrungen mit Patienten, die in der NS-Zeit als Offiziere oder SS-Mitglieder Teil des Hitlerregimes gewesen waren, radikal verallgemeinerten; dass selbstverständlich in Millionen deutscher Familien um Millionen von Toten und um millionenfache Vertreibung getrauert wurde; dass die „Aufarbeitung“ des Nationalsozialismus politisch, juristisch, medial längst vor 1967 begonnen hatte: All das spielte lange Zeit keine Rolle in der Rezeption des Buches, dessen Titel bald zum geflügelten Wort wurde.

Wie auch immer: Das Schlagwort von der „Unfähigkeit zu trauern“ mag abgegriffen sein. Aber diese Unfähigkeit zu trauern, begegnet uns in aktueller Form – zumindest öffentlich – seit einigen Jahren alltäglich wieder. Die Zahl der „Fälle“ von Vergewaltigungen, Messermorden und Attentaten, begangen von „Asylbewerbern“, „Migranten“, „Schutzsuchenden“, „Flüchtlingen“ ist unüberschaubar geworden. Man will es offiziell gar nicht mehr so genau wissen. Was tut das „öffentliche“ Deutschland stattdessen? Es wirft „Wutbürgern“ eine Instrumentalisierung der Opfer vor, lenkt selbst ab, indem es hirnlose, auch kriminelle Aktionen „Rechter“ instrumentalisiert, um ein ritualisiertes „Nie wieder!“ abzusetzen und den Mythos „Willkommenskultur“ zu pflegen.

Um die Opfer – mögen sie Maria, Anna, Mia, Daniel S. oder wie zuletzt Daniel H. heißen – geht es nie. Von den Hunderten von Opfern sexueller Belästigung auf der Kölner Domplatte ganz zu schweigen. Ein volles Jahr brauchte eine Kanzlerin Merkel, um auf die Angehörigen der zwölf getöteten bzw. der vielen für ein Leben lang gezeichneten Opfer des Anschlages am Berliner Breitscheidplatz vom 19. Dezember 2016 zuzugehen. Und auch dazu bedurfte es erst eines Briefes der Angehörigen und des Drucks der Medien. Lichterketten gab es in all diesen Fällen von „Tötungsdelikten“ nie.

Die Leitmedien machen dieses Vertuschen mit: „Hat nur regionale Bedeutung“, „Einzelfälle“ heißt es dann. Nein, die Unfähigkeit, ja der dezidierte Unwille, um all diese Opfer zu trauern, wenigstens einen Moment innezuhalten vor erneuten generalisierten Pawlowschen Verbalreflexen und schlauen rhetorischen Rundumschlägen, ist nicht nur traurig, sondern zynisch. Eine Gesellschaft jedenfalls, die um Verbrechensopfer nicht öffentlich trauern kann, ohne die Umstände des Verbrechens für billige ideologische Zwecke zu instrumentalisieren, ist eine fortschreitend dehumanisierte Gesellschaft. Das ist dann wirklich eine „Unfähigkeit zu trauern“ – diesmal als Version 2.0.