Tichys Einblick
Amokfahrer von Berlin soll in Psychiatrie

Die notwendige Debatte über Psychotiker ist in Deutschland ein Tabu

Schwer psychotisch Erkrankte wie der Täter, der am Mittwoch mit dem Auto in eine Menschengruppe raste, bleiben aufgrund der gesetzlichen Regelungen über Jahre ohne psychiatrische Versorgung und rutschen immer tiefer in die Verwahrlosung und ihren Wahn, sodass sie immer behandlungsresistenter werden.

Blumen für die getötete Person in Berlin, Rankestraße Ecke Tauentzienstraße, 09.06.2022

IMAGO / Stefan Zeitz

Am frühen Mittwochvormittag kam es in Berlin-Charlottenburg zu einer schrecklichen Bluttat, bei der ein Mensch getötet und mindestens 14 weitere zum Teil schwer verletzt wurden. Ein Mann hatte sein Auto gezielt in eine Gruppe Fußgänger gelenkt, fuhr dann zurück auf die Fahrbahn und krachte am Ende in das Schaufenster eines Parfümerie-Geschäfts. Während die Berliner Bevölkerung noch fürchtete, dass es sich um einen Terroranschlag handelte – wie 2016, als der Islamist Anis Amri nur ein paar Meter weiter mit einem LKW in den Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche raste und dreizehn unschuldige Menschen aus dem Leben riss –, wurde das Attentat bereits von allen Seiten politisch ausgeschlachtet und instrumentalisiert.

Der Geschmacklosigkeit waren dabei keine Grenzen gesetzt: Es wurden sogar Forderungen nach einem Tempolimit laut, so als hätte das irgendetwas geändert. Die Wahrheit will dabei, mal wieder, niemand sehen: Es war weder ein Unfall noch Terror. Es war die Tat eines psychisch schwer kranken Mannes – an dessen Gewaltausbruch die Linken durch ihre Anti-Psychiatrie-Politik mit schuld sind. Ich habe vor der Gefahr durch unbehandelte Psychotiker schon vor Hanau, vor Würzburg und jetzt vor Berlin gewarnt – von diesem immensen Bedrohungspotenzial will aber niemand etwas wissen.

Zeit zum Lesen
„Tichys Einblick“ – so kommt das gedruckte Magazin zu Ihnen
Nach derzeitigem Erkenntnisstand fuhr der Täter Gor H., ein 29-jähriger Deutsch-Armenier, um 10.26 Uhr an der Straßenecke Ku’Damm/ Rankestraße plötzlich auf den Bürgersteig und raste in eine Menschenmenge – unter ihnen eine Schülergruppe aus dem hessischen Bad Arolsen. Mindestens 14 Schüler der 10. Klasse werden verletzt, neun von ihnen schwer. Ihre 51-jährige Lehrerin wird bei dem Aufprall so hart getroffen, dass sie noch am Unfallort vor den Augen ihrer Schüler stirbt. Nach Informationen der BZ hatte ein herbeieilender Handwerker noch versucht, die Frau zu reanimieren, aber leider vergeblich – sie sei sofort tot gewesen.

Der zweite Lehrer, der die Abschlussfahrt betreute, wurde ebenfalls verletzt. Doch die Amokfahrt war noch nicht vorbei. Gor H. raste weiter. Auf seiner Motorhaube sollen laut den Berichten eines schockierten Augenzeugen zwei Menschen gelegen haben – „Das Auto hatte 60 bis 80 Sachen drauf!“. Der Mann rast mit seinem silbernen Kleinwagen über die Kreuzung in die Tauentzienstraße und lenkte seinen Wagen Ecke Marburgstraße erneut auf den Bürgersteig, wo er ein anderes Auto touchierte und zwei weitere Passanten, die ebenfalls schwer verletzt wurden, umraste. Die Fahrt endet nach zweihundert Metern mit Vollgas in einer Schaufensterscheibe des Parfümerie-Geschäfts Douglas.

Am Ende der Amokfahrt von Gor H. ist eine Frau tot, vierzehn Schüler sind verletzt. Eine schwangere Frau erlitt einen Hüftbruch, ein Mann einen offenen Oberschenkelbruch, eine andere eine Platzwunde am Kopf. Ein 16-jähriges Mädchen kommt mit Schädel-Hirn-Trauma ins Krankenhaus. Am Abend schwebten sechs Opfer noch in Lebensgefahr, drei weitere gelten als schwerst verletzt.

Gor H. soll nach der Tat unverletzt aus dem Auto gestiegen sein und versucht haben zu fliehen, wurde aber von Passanten festgehalten, bis die Polizei kam. Während Dutzende Rettungswägen herbeifuhren, ein Rettungshubschrauber landete, etwa 130 Polizisten und 100 Feuerwehrleute den Tatort sicherten und Verletzte versorgten, soll Gor H. bei seiner Festnahme „Bitte Hilfe, bitte Hilfe“ gestammelt und „Aua! Aua!“ „gewimmert“ haben. Videos zeigen den Mann bei der Festnahme – er scheint verwirrt, regungslos, sieht sich suchend um. Laut Zeugen habe er hilflos gewirkt. Auch laut den mutigen Passanten, die den Mann nach seiner Flucht bis in ein Sportgeschäft verfolgt und gestellt hatten, habe Gor H. einen „wirren“ Eindruck gemacht – er habe immer wieder um Hilfe gebeten. Er wurde von Polizisten zunächst in ein Krankenhaus gebracht, um anschließend beim LKA vernommen zu werden.

Das Kennzeichen des Autos hatte die Ermittler derweil zur 31-jährigen Schwester von Gor H. geführt, auf die der Wagen zugelassen war. Polizisten nahmen daraufhin vor ihrer Wohnung Stellung. Auch die Melde-Adresse von Gor H., in der er seit mindestens 14 Jahren mit seiner Mutter – einer Pflegerin in einer Einrichtung für behinderte Menschen – und einer weiteren Schwester gewohnt haben soll, wurde überprüft. Polizisten observierten zunächst das Haus, bevor zehn Einsatzkräfte des SEK die Wohnung stürmten und mit einem Erkundungsroboter jeden Raum überprüften – doch es wurden weder Sprengstoff noch irgendwelche gefährlichen Gegenstände gefunden. Es gab keine Hinweise auf ein politisches Motiv – Gor H. ist weder beim Nachrichtendienst noch beim Verfassungsschutz oder beim Staatsschutz bekannt. Aber bei der Polizei – unter anderem wegen Diebstahl- und Eigentumsdelikten. Es soll in der Vergangenheit Ermittlungen wegen Körperverletzung, Hausfriedensbruch und Beleidigung gegeben haben.

Die Polizei wollte sich am Donnerstagmorgen gegenüber TE aus „ermittlungstaktischen“ Gründen nicht äußern. Sie bestätigten jedoch, dass sie in die Richtung eines Erkrankungshintergrundes ermitteln und es keine Hinweise auf politische Motivation des Täters gibt. Innensenatorin Iris Spranger tätigte derweil schon am Mittwoch die Aussage: „Nach neuesten Informationen stellt sich das heutige Geschehen an der Tauentzienstrasse als eine Amoktat eines psychisch beeinträchtigten Menschen dar.“ Die Generalstaatsanwaltschaft bestätigte diese vage Aussage am Donnerstagnachmittag, als sie bekannt gab, dass alles darauf hindeute, dass Gor H. an einer paranoiden Schizophrenie litt. Der Mann soll in ärztlicher Behandlung gewesen sein – bei der Durchsuchung seiner Wohnung wurden Medikamente gefunden. Laut dem Sprecher der Staatsanwaltschaft, Sebastian Büchner, habe man deshalb die Unterbringung in einer psychiatrischen Einrichtung beantragt.

Für die Diagnose einer paranoiden Schizophrenie sprechen auch die Ermittlungen wegen Körperverletzung, Hausfriedensbruchs und Beleidigung, die es in der Vergangenheit gab – das sind klassische Vergehen eines wahnhaften Menschen. Auch die ständige Bitte um Hilfe, die Verwirrung und Lethargie nach der Tat könnte Symptome der Krankheit sein. Genau wie die Tatsache, dass er mit Vollgas in die Fensterscheibe der Douglas-Filiale raste – warum hätte er das tun sollen, wenn er tatsächlich bei klarem Verstand und auf der Flucht gewesen wäre? Ein weiteres Indiz ist die Aussage der Schwester von Gor H. gegenüber der Bild-Zeitung: „Er hat schwerwiegende Probleme.“

Eine Paranoide Schizophrenie ist eine Krankheit, bei der die Betroffenen unter Verfolgungswahn, Bedrohungserleben, Halluzinationen und Behandlungsuneinsichtigkeit leiden. Solche, häufig schwer psychotischen, Erkrankten bleiben aufgrund der gesetzlichen Regelungen, die es fast unmöglich machen, jemanden gegen seinen Willen zu behandeln, über Jahre ohne medizinische und psychiatrische Versorgung und rutschen so immer tiefer in die Verwahrlosung und ihren Wahn, sodass sie mit der Zeit auch immer behandlungsresistenter werden.

Ich arbeite in einem Betreuungsbüro – von 119 Klienten sind hier insgesamt 52 genau solche chronifizierten Psychotiker. Rechtliche Betreuer vertreten Erwachsene, die wegen einer psychischen Krankheit oder einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung ganz oder teilweise nicht in der Lage sind, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln. Die Pressestelle der Gerichte in Berlin gab gegenüber TE auf die Frage, ob der Täter der Amokfahrt einen Betreuer habe, an: „Es liegt nahe.“

Die unbehandelten Psychotiker, die von unserem Büro betreut werden, sind Menschen, die jeglichen Bezug zur Realität verloren haben. Ohne Behandlung und Zwangsunterbringung in der Psychiatrie entläd sich ihr Wahn nicht selten in Aggressionen, Gewalt, Selbstverletzung und sogar Tötungsdelikten. Und auch wenn die meisten Psychotiker harmlos sind, handelt es sich inzwischen nicht mehr um Einzelfälle, sondern um ein Massenphänomen.

Dabei sind leider auch Amokfahrten nicht selten. Erst im August 2020 hatte ein wahngetriebener Psychotiker auf der A100 in Berlin regelrecht Jagd auf Motorradfahrer gemacht und diese gezielt umgefahren, um sie zu töten. Jedes Jahr finden sich solche Fälle in den Schlagzeilen – und das sind nur die, die es aufgrund der Schwere und Opferzahlen in die Presse schaffen. Bei uns im Büro habe ich leider schon etliche solcher Fälle erlebt, etwa von einem Mann, der ohne Führerschein regelmäßig Frauen angefahren und sie verletzt hat – ohne, dass es deshalb Konsequenzen gab.

Oder den von einem anderen Betreuten, der im Wahn seine Mutter angriff, sie mit Schlägen und Tritten traktierte, bevor er ihre Autoschlüssel stahl. Dann setzte er sich ohne Führerschein ans Steuer ihres Wagens und fuhr mit dem Auto quer durch Deutschland. Auf dem Weg beschädigte er diverse Autos, verursachte Unfälle, tangierte andere Fahrer auf der Autobahn und fiel so schließlich der Polizei auf. Trotz mehrfacher Aufforderung ignorierte er jedes Anhaltezeichen der Beamten und lieferte sich eine wilde Verfolgungsjagd, bei der die Polizisten am Ende so lange auf die Reifen und das Fahrzeug schossen, bis es zum Stehen kam. Noch bei der Festnahme aus dem völlig zerlöcherten Auto verletzte der junge Mann zwei Polizisten. Er glaubte, dass das LKA ihm Computerchips in sein Gehirn implantiert hatte und so seinen Geist kontrollierte. Es grenzte an ein Wunder, dass durch seine Wahnfahrt niemand außer ihm selbst verletzt wurde. Das hätte anders ausgehen können.

Wie allumfassend der Realitätsverlust solcher Menschen sein kann, kann man sich wahrscheinlich kaum vorstellen, wenn man es nicht selbst erlebt hat. Er kann alle normalen menschlichen Reaktionen, Gefühle, Impulse und Handlungen völlig aushebeln. Die Betroffenen leben in ihrer eigenen Welt, mit eigenen Regeln und eigener Logik – weshalb auch nicht ausgeschlossen ist, dass Taten gezielt und geplant durchgeführt werden. Paranoid Schizophrene beziehen alles um sie herum auf sich und bauen fremde Menschen oder Dinge in ihren Wahnkonstrukt ein.

Genauso war es auch, als eine ehemalige Betreute von uns auf der Straße einer Frau mit einem Baby begegnete: Sie sah vor sich eine Agentin der Nationalsozialisten, die eine Latexpuppe im Kinderwagen vor sich herschob, mit der unsere Betreute überwacht wurde. Also stürzte sie sich auf den Säugling und würgte ihn beinahe zu Tode. Für die schizophrene Frau war das eine Art Selbstverteidigung. Sie erzählte mir im Gefängniskrankenhaus später unter Tränen und wütenden Schreien, ihre ganze Familie sei von den Nazis ermordet worden und sie würde noch immer von ihnen verfolgt werden. Was sie der jungen Mutter, ihrem Baby und einem zu Hilfe eilenden Passanten angetan hatte, war ihr überhaupt nicht bewusst. Sie hielt die Anschuldigungen, die man ihr vorbrachte, nur für weitere Lügen und Intrigen.

Ich halte es für realistisch, dass Gor H. – so schlimm es ist – sich selbst keiner Schuld bewusst war und in den Menschen, die er umfuhr, ebenfalls Verfolger und Verschwörer, also eine Bedrohung sah, und deshalb möglicherweise auch um Hilfe gebeten hat. Um solche schrecklichen Vorfälle zu verhindern, müsste man die Erkrankten behandeln, bevor es zum Äußersten kommt – und das bei Bedrohungspotenzial, wenn nötig, auch gegen ihren Willen. Aber das passiert nicht. Bis es überhaupt soweit kommt, dass ein Mensch gegen seinen Willen in die Psychiatrie gebracht und zwangsmedikamentiert wird, ist es meist schon zu spät. Dann ist oft schon jemand zu Schaden gekommen.

Die allermeisten Psychotiker kommen mit Feuerwehr und Polizei ins Krankenhaus, nachdem sie jemanden massiv bedroht, angegriffen oder ihr eigenes Leben gefährdet haben. Sie werden dann nach PsychKG (dem Gesetz für psychisch Kranke) untergebracht, nachdem eine akute Eigen- oder Fremdgefährdung vorliegen muss. Eine präventive Behandlung wird in der Regel nicht vom Gericht genehmigt, das ist gesetzlich sehr streng geregelt – im Zweifel entscheidet man immer für die vermeintliche Freiheit des Kranken, auch wenn man ihn damit in seiner Psychose gefangen hält und ihm sowie auch anderen schadet. Das ist im Prinzip politisch gewollte unterlassene Hilfeleistung – und: eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit.

Die Debatte über Psychotiker will in Deutschland kaum einer führen. Denn Zwangseinweisungen und Zwangsbehandlungen regen Assoziationen in dunkle Kapitel der Geschichte. Es ist kein angenehmes Thema – aber es ist dennoch notwendig. Die Bedrohung ist real und alltäglich – sie steht der politisch motivierten kaum mehr nach. Deswegen ist eine Gesetzesanpassung, die Ärzten und Betreuern auch gegen den Willen des Betroffenen einen größeren Handlungsspielraum in puncto Unterbringung und Zwangsbehandlung einräumt, notwendig. Nur so können die Betroffenen vor sich selbst geschützt werden. Und nur so können weitere Gewalttaten wie in Würzburg, Hanau, Frankfurt und jetzt in Berlin verhindert werden.

Hätte man frühzeitig gehandelt, könnte die Lehrerin vielleicht noch leben. Dann hätten 24 Schulkinder eine schöne Abschlussfahrt gehabt, statt eines lebenslangen Traumas. Dann müsste eine andere Frau jetzt nicht um ihr ungeborenes Kind fürchten.

Solange sich am Umgang mit psychisch Kranken mit Bedrohungspotenzial nichts ändert, tragen unsere Politiker an jedem einzelnen Toten und Verletzten eine Mitverantwortung.


Sollten Sie das Gefühl haben, dass Sie Hilfe benötigen, kontaktieren Sie unbedingt die Telefonseelsorge. Unter der kostenfreien Rufnummer 0800-1110111 oder 0800-1110222 bekommen Sie Hilfe von Beratern, die Ihnen Hilfe bei den nächsten Schritten anbieten können. Hilfsangebote gibt es außerdem bei der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention. Im Netz gibt es – Beispielsweise bei der Stiftung Deutsche Depressionshilfe – auch ein Forum, in dem sich Betroffene austauschen können.