Tichys Einblick
Niedergang der Sozialdemokratie

Die neue Bourgoisie der linken Gewinner der Globalisierung

Die SPD und ihre linken Schwesterparteien haben ihre Wählerklientel aus den Augen verloren, die die Zeche der Massenmigration bezahlen - und sich jetzt abwenden: Das historische Versagen der Sozialdemokratie.

© Patrik Stollarz/AFP/Getty Images

Nachdem nicht nur die SPD, sondern auch die Partei Die Linke (PdL) bei der Bundestagswahl in hohem Maße Wähler an die AfD verloren hat, ist dort in der Frage der Flüchtlings- und Zuwanderungspolitik vor einigen Tagen ein offener „Kampf zweier Linien“ zwischen Parteiführung und Fraktionsführung entbrannt.

Der Richtungsstreit in allen linken Parteien

Ausgetragen wird er zwischen Katja Kipping und Sarah Wagenknecht, den beiden Frontfrauen der Partei. Was manchem als eine Art Zickenkrieg von zwei ebenso ehrgeizigen wie machtbewußten Politikerinnen vorkommen mag, ist in Wahrheit jedoch Ausdruck eines Richtungsstreits, der alle linken Parteien in Europa entweder schon erfasst hat oder noch erfassen wird. Dass er im Unterschied zur SPD von der PdL inzwischen sogar öffentlich ausgetragen wird, spricht für die PdL und gegen die SPD. Deren Führung zieht es bislang (noch) vor, sich nicht offen mit den Ursachen ihrer Wählerverluste bei den einfachen Arbeitern und Angestellten sowie den Arbeitslosen auseinanderzusetzen.

In einem Interview mit der WELT vom 6. Oktober hat der französische Geograph und Gesellschaftskritiker Christophe Guilluy den Zustand der linken Parteien in Deutschland folgendermaßen beschrieben: „Soziale Gerechtigkeit kommt bei der Unterschicht nicht mehr an. Die deutsche Linke ist wie die französische: sie erreichen die Leute nicht mehr. Das Problem der Linken in den westlichen Ländern allgemein ist, dass sie die Schwierigkeiten beim Zusammenleben mehrerer Kulturen nicht wahrhaben wollen. Sie betreibt Realitätsverweigerung, ist in Wahlzitadellen gefangen und außerstande, außerhalb der eigenen Wahlklientel zu denken. Sie spricht zu den linksliberalen Großstadtbürgern, den Beamten und vielleicht zu ein paar Einwanderern.“

Die neue Bourgeoisie der Globalisierunsgewinner

Guilluy beschreibt in seinem neuesten Buch (La Crépuscule de la France en haut), das leider noch nicht ins Deutsche übersetzt ist, die linken Parteien als Teil einer „neuen Bourgoisie“, die sich im Zuge der Globalisierung in den großstädtischen Metropolen herausgebildet hat und sich im wesentlichen aus den Gewinnern globalisierter Produkt- und Finanzmärkte zusammensetzen. Zu dieser neuen „herrschen Klasse“ zählen keineswegs nur Unternehmer und Topmanager, sondern auch viele Beschäftigte der global tätigen Unternehmen und ihres wirtschaftlichen wie gesellschaftlichen Umfelds, etwa in den Medien oder den Wissenschaften. Sie vertritt laut Guilluy nicht nur in Fragen der Produkt- und Finanzmärkte, sondern auch in Fragen der Arbeitsmärkte eine strikt neoliberale Haltung. Ihr Credo ist die weltoffene, vielfältige und multikulturelle Gesellschaft, zu der jeder Zutritt erhält und an der jeder teilhaben kann, der dies wünscht. Ihr ökonomischer Liberalismus verschmilzt auf diese Weise mit einem kulturellem Liberalismus, dessen zeitgenössische Wurzeln sowohl personell wie ideologisch in der links-libertären 68er-Bewegung liegen.

Kampfbegriff schadet der politischen Kultur
Abschied vom Populismus
Der „neuen Bourgoisie“ gegenüber stehen gemäß Guilluy die Verlierer der Globalisierung, die „Classes populaires“ (wörtlich übersetzt: Volksklassen). Sie können sich aufgrund der horrend steigenden Immobilienpreise und Mieten ein Leben in den prosperierenden großstädtischen Metropolen nicht mehr leisten und werden deswegen in deren Randbezirke und auf das flache Land abgedrängt. Dort müssen sie mit schlecht bezahlten, meist prekären Jobs oder als Arbeitslose ein Leben in der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen „Peripherie“ führen. Die Globalisierung ist für sie eher Bedrohung als Verheißung und signalisiert ihnen laut Guilluy „dass die Welt ohne sie, ohne Arbeiter, ohne Angestellte funktioniert. Gleichzeitig verlangt man von diesen Personen, dass sie den Mulikulti-Traum der ‚United Colors of Benetton‘ träumen. Das ist ungeheuer hart und von großer Arroganz.“
Menschenrechte als Moral der neuen Unterdrückung

Ideologisch verbrämt wird die Arroganz der „neuen Bourgoisie“ mit Hilfe einer „höheren Moral“ der allgemeinen Menschenrechte, in deren Namen die unteren Gesellschaftsschichten durch den Import ausländischer Arbeitskräfte einem äußerst brutalen Wettbewerb an den Arbeits- und Wohnungsmärkten ausgesetzt werden. Verkünder dieser „höheren Moral“ sind nicht zuletzt die linken Parteien, die sich mit Nachdruck für einen grenzenlosen Zuzug von Arbeitskräften aus den Armutsregionen dieser Welt nach Europa einsetzen. Damit machen sie faktisch gemeinsame Sache mit den global tätigen Unternehmen, die gegen eine Vergrößerung des Arbeitskräfteangebots durch potentielle Billigarbeitskräfte aus naheliegenden Gründen noch nie etwas einzuwenden hatten, solange ihnen selbst dadurch keine Nachteile entstehen.

Auslaufendes Muster
Ach, Parteien
Nachteilig ist die grenzenlose Zuwanderung lediglich für die unteren und mittleren Arbeiter- und Angestelltenschichten, soweit sie nicht Teil einer „Asylindustrie“ sind, die von der illegalen Einwanderung unmittelbar profitiert. Den Interessen eines großen Teils der Arbeitnehmerschaft wird auf diesem Wege nun ausgerechnet von den Parteien zuwidergehandelt, die sich die Vertretung der Interessen der „kleinen Leute“ auf die Fahne geschrieben haben. Das gilt in Deutschland nicht nur für die SPD, sondern auch für die PdL. Beide verlieren dadurch in Teilen ihrer bisherigen Anhängerschaft erheblich an Glaubwürdigkeit. Dieser Verlust wird mit dem Argument in Kauf genommen, die neoliberalen Konzepte der offen Grenzen und der multikulturellen Vielfalt sei Kernbestandteil „linker“ Politik. Diese dürfe keinen Unterschied zwischen den sozial Benachteiligten im eigenen Land und den sozial Benachteiligten auf der ganzen Welt machen. Vielmehr gehe es darum, die Interessen aller Benachteiligten dieser Welt zu vertreten. Dies muss nach Ansicht der PdL zwar vorrangig dadurch geschehen, dass Fluchtursachen in den Herkunftsländern, etwa durch Entwicklungshilfe oder neue Handelsbeziehungen, bekämpft werden. Solange derlei Maßnahmen aber nicht von Erfolg gekrönt sind, gilt es, möglichst viele Kriegs- und Armutsflüchtlinge in Deutschland aufzunehmen und ihnen ein dauerhaftes Bleiberecht zu verschaffen.
Leere Versprechungen der Einwanderungsgesellschaft

Im Wahlprogramm der PdL gefordert wird daher „eine solidarische Einwanderungsgesellschaft: mit sozialer Sicherheit statt Konkurrenz um Arbeitsplätze, Wohnungen und Bildung. Mit einer sozialen Offensive für alle, die den Zusammenhalt der Gesellschaft stärkt.“ Das ist angesichts der realen Verhältnisse an den Arbeits- und Wohnungsmärkten wie auch in den Schulen jedoch reines Wunschdenken, dem möglicherweise ein Großteil der Mitglieder und Funktionäre der PdL Glauben schenken, nicht jedoch ein wachsender Teil ihrer bisherigen Anhänger und Wähler. Diese betrachten die „solidarische Einwanderungsgesellschaft“, mit der eine unbegrenzte Zuwanderung nach Deutschland legitimiert wird, nämlich keineswegs als Ausdruck einer linken, die Interessen der „kleinen Leute“ vertretenden Politik, sondern als das, was sie tatsächlich ist: ein neoliberaler Stresstest an den Arbeits- und Wohnungsmärkten zu Lasten der 40 Prozent Einheimischen, die von den wirtschaftlichen Erfolgen des Exportweltmeisters Deutschland wenig bis gar nichts abbekommen haben.

Genau diese Zielgruppe wollten PdL wie SPD während des Wahlkampfes mit dem Ruf nach mehr „sozialer Gerechtigkeit“ erreichen. Stattdessen haben beide Parteien viele Bürger aus dem unteren Drittel der Gesellschaft an die AfD verloren. Damit vollzieht sich auch in Deutschland eine Entwicklung, wie wir sie zum Beispiel aus Frankreich oder Österreich schon länger kennen. Dort wählen inzwischen viele Arbeiter, einfache Angestellte und Arbeitslose die jeweiligen „rechtspopulistischen“ Parteien, offenbar, weil sie diese eher als Vertreter ihrer Interessen als die linken Parteien betrachten. Sie nehmen dafür sogar in Kauf, von ihren bisherigen „Interessenvertretern“ wahlweise als ausländerfeindlich und rassistisch oder wie Kleinkinder als ängstlich, verunsichert und neuerdings „modernisierungsskeptisch“ gebrandmarkt zu werden. Die „rechtspopulistischen“ Parteien werden so allmählich zu den eigentlichen „Arbeiterparteien“, die den linken Parteien in deren bisherigen Anhänger- und Wählerschaft zunehmend das Wasser abgraben.

Von einem, der 40 Jahre SPD wählte
Adieu - Ich wähle die SPD nicht mehr
Eine Rückbesinnung auf die Interessenvertretung der „kleinen Leute“ wird trotz dieser existenzbedrohenden Entwicklung in der Flüchtlings- und Zuwanderungsfrage von beiden sozialdemokratischen Parteien Deutschlands bislang mit dem Argument abgelehnt, man dürfe sich auf diesem Politikfeld nicht nach „rechts“ bewegen. Dies sei moralisch verwerflich und würde nur die „Rechtspopulisten“ weiter stärken. Das ist jedoch mit hoher Wahrscheinlichkeit der sichere Weg, mit einem moralisch hoch erhobenen Finger weiter dem eigenen Niedergang entgegenzuschreiten. Oskar Lafontaine und Sahra Wagenknecht scheinen dies begriffen zu haben und versuchen daher, diesen Irrweg zu verlassen. Sie definieren „links“ nicht gemäß einer kosmopolitisch ausgerichteten Ideologie, sondern gemäß der Aufgabe, die Interessen der „kleinen Leute“ im eigenen Land wirksam zu vertreten. Diese setzen sich aus Arbeitern, einfachen Angestellten, kleinen Selbständigen, Rentnern und Arbeitslosen ohne und mit Migrationshintergrund zusammen, die kein Interesse daran haben können, dass die Arbeits- und Wohnungsmärkte mit zusätzlichen Bewerbern aus dem Ausland weiter geflutet werden.

Parteien wie die AfD, die FPÖ oder auch der Front National, die mehrheitlich von diesen Bürgern gewählt werden können, sofern sie dies wollen, daher zurecht für sich in Anspruch nehmen, „linke“ politische Forderungen zu vertreten. Sie werden gewählt, da sie ihre Anhänger und Wähler vor den Widrigkeiten und Risiken globalisierter Märkte zu schützen versuchen und insbesondere in Fragen des Arbeitsmarktes insofern keine liberale, sondern eine protektionistische Haltung einnehmen. Dazu gehörte schon immer der Schutz vor einer zu starken Ausweitung des Arbeitskräfteangebots, der deswegen auch seit jeher ein fester Bestandteil gewerkschaftlicher wie auch sozialdemokratischer und damit „linker“ Politik gewesen ist. Sie hat mit den neoliberalen, weltoffenen Zielen und Konzepten der von Guilluy beschriebenen „neuen Bourgoisie“ wenig bis gar nichts gemein und wird von den linken Parteien, die Teil von ihr sind, daher auch nicht mehr vertreten. Damit ist nicht nur auf der christdemokratischen, sondern auch auf der sozialdemokratischen Seite des politischen Spektrums eine „Repräsentationslücke“ entstanden, die die „rechtspopulistischen“ Parteien zusehends schließen. Nicht nur CDU/CSU, sondern auch SPD und PdL stehen daher vor der Frage, ob sie durch eine Rückbesinnung auf ihre politischen Grundwerte verloren gegangene Anhänger und Wähler wieder zurückgewinnen können oder nicht. Lafontaine und Wagenknecht sind bei der deutschen Linken bislang die einzigen, die sich trauen, dies offen zu thematisieren.


Roland Springer arbeitete als Führungskraft in der Autoindustrie. Er gründete im Jahr 2000 das von ihm geleitete Institut für Innovation und Management. Sein Buch Spurwechsel – Wie Flüchtlingspolitik wirklich gelingt erhalten Sie in unserem Shop www.tichyseinblick.shop