Tichys Einblick

Die Magersucht der Meinungsfreiheit

Fragen dazu, wo Meinungsfreiheit enden sollte, müssen in einer Demokratie immer wieder diskutiert werden. Auch und gerade heute. Ein Vorfall in Bayern bietet einen Anlass.

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Die Ereignisse: Die Zeitung WELT veröffentlichte Anfang 2017 den Artikel „Subsidiärer Schutz: Zehntausende Flüchtlinge verklagen Deutschland“: Für die dann folgenden Ereignisse vgl. den Bericht der Zeitung „Münchner Merkur“. Zu dem Beitrag bei WELT schrieb eine Putzfrau (so die Medien, sonst werden gerne auch andere Jobbezeichnungen für den Berufsstand gewählt) einen Kommentar. Die Frau aus dem Ort Vierkirchen, 41, Mutter, nicht vorbestraft, tippte nur wenige Zeilen auf Facebook. Sie finden diese hier vollständig zitiert.

Daraufhin wurde eine Polizeibeamtin in Fürstenfeldbruck tätig, und die Angelegenheit landete vorm Amtsgericht Dachau. Vor wenigen Tagen nun, am 13. Juli 2018, bestrafte Richter Christian Calame die „Tat“ (so seine Wortwahl) nach §130 „Volksverhetzung“ mit 1.650 Euro Strafe. Calame sagte belehrend: „So etwas schreibt man nicht“. Dies ist überheblich, auch und gerade angesichts des Unterschieds in der „Schicht“, die zwischen ihm und der Angeklagten besteht. Kann man hier nicht Nachsicht walten lassen?

Gedanken zur Meinungsfreiheit sozial Schwacher

Ein Gedanke, den ich bisher noch nicht in der Diskussion über politische Verfolgung und Einschränkungen der Meinungsfreiheit gelesen habe – ob in Deutschland, Schweden oder anderswo – ist folgender: Die Verfolgung trifft vor allem sozial Schwache. Das ist aus folgenden Gründen der Fall. Der Gebildete ist eher in der Lage, sich differenziert auszudrücken, Fettnäpfchen zu vermeiden, Verallgemeinerungen durch einschränkende Adverbien oder andere sprachliche Mittel zu unterlassen usw.; seine Fähigkeiten zum Umgang mit der Sprache wird ihn schützen.

Der einfache Mann von der Straße dagegen, dem es „auch mal reicht“, wird abgestraft. Demokratie ist jedoch etwas für alle – gleich welcher Bildung. Meiner Ansicht nach ist es enttäuschend, dass sich der Staat, als ob es nichts Wichtigeres gäbe, sich mit solchen Postings überhaupt befasst. Zu bedenken ist, dass in Deutschland echte Verbrechen geschehen, die z. B. physische Schäden oder sogar Tote hinterlassen. Diese Bereiche sind es, in denen gehandelt werden muss. Man bedenke auch die Überlastung der Justiz. Hier dagegen geht es nur um Buchstaben.

Ist schon die Verschwendung von Zeit und Mitteln ein Problem, so kommt hinzu: Meines Erachtens darf erst recht keine Verurteilung erfolgen. Zudem ist die Gesetzeslage nicht in Ordnung. Ich empfinde es als peinlich, in einem Land zu leben, in dem Gesetzgebung und Rechtssprechung – zumindest in manchen Angelegenheiten – das Augenmaß, den Blick fürs Wesentliche verloren haben. Zwei Fragen kann sich jeder Leser zu den oben zitierten Aussagen der Frau stellen:

  • Ist man der gleichen Meinung?
  • Ist man der Meinung, dass es in einer Demokratie möglich sein sollte, dies zu schreiben?

Natürlich besteht zwischen diesen zwei Fragen ein Unterschied wie Tag und Nacht. Wer nicht geistig in der Lage oder nicht willens ist, den Unterschied zu verstehen, wird Schwierigkeiten haben, in der Diskussion kompetent mitzureden.

Oft wird aber eben doch beides vermengt. Ob man der gleichen Meinung wie die Autorin der Wutschrift ist, kann jeder selbst entscheiden; in einer Demokratie darf er es natürlich anders sehen. Die Kritik könnte z. B. damit beginnen, dass die Sätze zu pauschal klingen. Was die Möglichkeit oder Unmöglichkeit angeht, die Sätze zu äußern, so ist es gerade eine Ingredienz einer Demokratie, dass man etwas eben schreiben kann oder könnte, wenn man denn unbedingt will.

Die hier dargelegten Gedanken dienen also nicht dem Ziel, die Sätze der Frau als empfehlenswert hinzustellen. Sie dienen vielmehr dem Ziel, die Meinungsfreiheit zu verteidigen. Diese erlebt in Deutschland heute schwere Zeiten. Bei einer Magersucht leidet die (seltener: der) Betroffene unter der Wahrnehmungsstörung, der Körper sei zu dick, und dies kann im schlimmsten Fall tödlich enden.

Meinungsfreiheit ist nicht die Freiheit auf nur eine Meinung

Die gegenwärtige Tugendwächterei und Blockwartmentalität in Deutschland hat die Wahrnehmungsstörung, es würden zu viele Meinungen geäußert. So kommt es zu einer „Korridorisierung“ der möglichen Meinungen, einem schmalen Pfad, abweichend vom dem sogleich Schnappatmung eintritt oder die Staatsanwaltschaft anrückt. Dies kann im schlimmsten Fall ebenfalls tödlich enden – in diesem Fall für die Freiheit.

Sarkastisch könnte man vorschlagen: Die Regierung müsste wöchentlich Listen herausgeben, was man in Deutschland bereits alles nicht mehr sagen darf.

Dies erstens aus Altruismus, weil der Staat den Bürgern etwas Gutes tut, indem er sie über mögliche verbale Straftaten informiert und sie vor den juristischen Folgen bewahrt. Zweitens, weil der Staat sich selbst entlasten könnte: Was gar nicht erst gesagt wird, braucht er nicht zu verfolgen.

Oft wird argumentiert, der Staat müsse so hart gegen Meinungsäußerungen vorgehen, damit nicht „Hass“ gesät werde; es müsse auch angeblich der Leser „geschützt“ werden. Diese Ansicht kann ich nicht teilen. Der Staat muss sich vorrangig auf eine gute Qualität seiner Politik zum Wohle der Bürger konzentrieren. Vieles regelt sich dann von ganz allein. Das funktionierte früher auch (im Westteil). Meinungsäußerungen müssen frei sein, denn gerade das ist integraler Bestandteil eines gesunden demokratischen Landes.

Weitere Aspekte einer Einordnung der Geschehnisse

Die Angelegenheit ist auch textlinguistisch zu kommentieren. Es ist, wie immer bei Sprache, Auslegung, Interpretation im Spiel. Ob in Deutschland oder anderswo: Personen werden oft gar nicht verurteilt für das, was sie gesagt oder geschrieben haben, sondern für das, was andere daraus herauslesen, zum Teil sogar herauslesen wollen (um jemandem einen Strick zu drehen, oder weil Sie Böses hinter jedem Wort wittern).

Dies gilt sowohl für echte juristische Verurteilungen als auch für rein verbale Verurteilungen in öffentlichen Debatten. Erst wird um eine oder mehrere Ecken etwas hineininterpretiert, dann ist der Skandal da, und dann wird verurteilt.

Sprache ist aber immer vage, und bekanntlich geschieht es ständig, dass A etwas sagt und B etwas anderes versteht – jeder Ehestreit belegt das. Die geographische, internationale Dimension sollte bedacht werden. Von Deutschen wird immer wieder der Mangel an Meinungsfreiheit in gewissen Teilen der Welt angesprochen – und das zu Recht. Natürlich ist die Lage vielerorts wesentlich schlechter.

Jedoch macht Deutschland sich unglaubwürdig, es muss vor seiner eigenen Haustür zuerst kehren. Man kann nicht sagen, hier „sei es ja etwas ganz anderes“; nein, das ist es eben nicht. Es läßt sich da ein Zitat aus der Bibel (Matthäus 7:3, Lukas 6:41) leicht abändern: Man sollte nicht nur in der Lage sein, den Balken im Auge des anderen zu sehen, sondern auch den Splitter im eigenen Auge. In manchen Ländern ist die Lage auch besser als in Deutschland, und in dieser Hinsicht können sie als Vorbild dienen.

Über die USA sollte man ein differenziertes Bild haben, d. h. positive und negative Seiten dieses Landes wahrnehmen; in puncto freedom of speech sind sie Deutschland jedenfalls voraus. Mark Zuckerberg sagte vor ein paar Tagen sogar, es müsse möglich sein, den Holocaust zu leugnen. Möglicherweise ist der Mann genervt von Regierungen wie in China oder Deutschland, die ihn in ihre Zensurmaßnahmen einspannen wollen. Das kennt er aus seiner Kultur nicht.

Später müssen Urteile zur Meinungsfreiheit revidiert werden

Die zeitliche Dimension ist ebenfalls zu beleuchten. Viele Bürger äußern heutzutage, dass sie sich an andere Zeiten Deutschlands erinnert fühlen – so vor allem viele derjenigen, die noch die DDR erlebt haben. Außerdem setzt sich die Bundesrepublik Deutschland mit Urteilen aus früheren Jahrzehnten ihrer Geschichte (ehemaliger Westen) auseinander. Dabei werden z. B. Urteile wegen Ausübens von Homosexualität kritisiert und revidiert. Wer jetzt agiert, z. B. als Richter, sollte versuchen, sein Handeln nicht nur aus der Ameisenperspektive unserer Zeit (und dann auch noch aus nur einer Deutungsrichtung) zu sehen.

„Volksverhetzung“, immer wieder „Volksverhetzung“: Dieser Terminus wird in die Geschichte eingehen als derjenige, unter dem zahlreiche Menschen zu Gefängnisstrafen und anderen Dingen abgeurteilt wurden. Hinzu kommt das seit 1.1.2018 gültige NetzDG: Es ist nichts anderes als ein zusätzliches Problem für unsere Demokratie.

Es scheint, dass später vieles, was heute geschieht, wird „aufgearbeitet“ werden müssen, und Unrechtsurteile werden zurückzunehmen sein. Es wäre daher am besten, würden diese gar nicht erst gefällt. Im Internet ist auf manchen Seiten erwartungsgemäß festzustellen, dass große Wut über das Urteil zum Ausdruck gebracht wird, und manch einer kann sich dabei wiederum schwer zügeln. Dies ist eine Spirale, die der Staat nicht anheizen sollte, weder Legislative (mit §130, NetzDG usw.) noch Judikative (mit Urteilen wie dem behandelten). Besonnenheit sollte einkehren, und zwar sowohl bei manchen Bürgern als auch bei manchen Vertretern des Staats.

Ich hatte einmal eine Freundin, bei der mir im Zusammenhang mit Konflikten irgendwann folgender Gedanke kam: Die Rollen in unseren Auseinandersetzungen sind klar verteilt: Ich bin für die Deeskalation zuständig, sie ist für die Eskalation zuständig. Wir brauchen jetzt in Deutschland mehr Leute, die sich für die Deeskalation zuständig fühlen. Auch wäre es gut, wenn wir im Sinne mündiger Bürger eine neue Diskussion über die Meinungsfreiheit führen.