Tichys Einblick
Grüne Verkehrswende

Die Friedrichstraße: Stellvertreterkrieg grüner Mobilitätsträume

Der Zank um die Zukunft der Berliner Friedrichstraße geht in die nächste Runde. Wie bei Parkplätzen wollen die Grünen Fakten schaffen – gegen die verkehrspolitische Realität. Bürgermeisterin Giffey will die Straße schnell freigeben, Umweltsenatorin Jarasch versucht das zu verhindern. Es geht um mehr als Fahrradwege.

IMAGO / Reiner Zensen
Man könnte es für eine Erzählung aus der Feder von Giovannino Guareschi („Don Camillo und Peppone“) halten. Irgendwo in der tiefsten Po-Ebene im Örtchen Brescello setzt eine autoritäre Verwaltung durch, dass eine Straße gesperrt werden soll. Zur Legitimierung heißt es, dass es zum Besten der Einwohner ist, es täte dem Dorf gut. Aber eigentlich wollen die Einwohner gar nicht, dass sie geschlossen wird.

Während der Bürgermeister auf dem Podium behauptet, die Lebensqualität in Brescello verbessert zu haben, klagen die Betroffenen darüber, dass die Traktoren nicht mehr zu den Feldern kommen. Der alte Beppo fährt jetzt einen Umweg und hängt auch nicht mehr in der Taverne ab, auch nicht mehr Karren-Carlo oder Giuseppe aus dem Borgho zwei Meilen weiter. Ausgerechnet die von der Moderne so beglückten Dorfbewohner sind es deswegen, die vor Gericht ziehen, und siehe da: Der Richter gibt ihnen Recht.

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An dieser Stelle laufen Erzählung und die Geschichte in Berlin zusammen. Denn ebenso wenig, wie ein kommunistischer Bürgermeister diesen Rückschlag hinnehmen könnte, können es die Grünen im Senat. Die gerichtliche Anweisung, die rechtswidrig gesperrte Berliner Friedrichstraße wieder freizugeben, ist eine reaktionäre Provokation, die den Fortschritt ignoriert und die Geschichte zurückdrehen will.

Wie so oft machen die Ideologen einen Schritt, schauen, was passiert, und gehen dann weiter, wenn es keinen Widerspruch gibt. Auf diese Weise hat man in Berlin schon zig Parkplätze abgeräumt, Fahrspuren zugunsten von Buslinien oder Radwegen („Pop-Up-Radwege“) abgeschafft – bis das Verwaltungsgericht die Beschlüsse wieder einkassierte. Die Umweltsenatorin Bettina Jarasch, die sich nie so ganz damit abgefunden hat, nicht der erste grüne Regierende Bürgermeister zu sein, trifft die Entscheidung besonders hart. Denn dass der Senat willkürliche Entscheidungen gegen Recht und Gesetz trifft, könnte das fabelhafte Image der Grünen als außerordentliche Demokratiefreunde und „nahe bei den Menschen“ stehende Partei ins Wanken bringen.

Auch das darf nicht sein. Ähnlich wie bei kommunistischen Bürgermeistern in der Po-Ebene besteht die Überzeugung, dass nicht nur das Volk in der Kommune herrscht, sondern vor allem, dass man selbst das Volk sei.

Die eigentliche Regierende Bürgermeisterin, Franziska Giffey, bekommt wohl selbst kalte Füße bei so viel fanatischem Übereifer. Anders als das grüne Pendant hat sie die Entscheidung schnell akzeptiert. „Es ist ein Urteil gefallen und ich erwarte, dass dieses Urteil umgesetzt wird“, sagte sie überraschend deutlich. Spätestens jetzt sei der Zeitpunkt, wo die Beendigung des Verkehrsversuchs auch umgesetzt werden sollte. Man müsse zum ursprünglichen Zustand zurückkehren, bis ein neues Gesamtkonzept vorliege.

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Die gefühlte Regierende Bürgermeisterin hat dem vehement widersprochen. „Ich möchte für die Flaniermeile Friedrichstraße eine gute dauerhafte Lösung als Fußgängerzone“, sagte Jarasch. Man könnte hinzufügen, dass Flaniermeilen üblicherweise Altbauten, lang bestehende Cafés und Restaurants sowie ein gewisses Flair mitbringen, das zum Spazieren einlädt, und sich nicht durch eine velodromartige Atmosphäre mit Rennrädern auszeichnet. Dass die Grünen offenbar ganz eigene ästhetische Vorstellungen haben, steht allerdings auf einem anderen Blatt. Marx hat Hegel vom Kopf auf die Füße gestellt, die Grünen ihn wieder umgedreht. Seitdem dreht er sich ungebrochen um sich selbst.

Obwohl die Geschäftsleute in der Friedrichstraße deutlich gemacht haben, dass sie auf Ratschläge aus dem Roten Rathaus verzichten können, träumt Jarasch weiterhin von ihrer „Flaniermeile“. Man prüfe deswegen bereits, ob man gegen den Gerichtsbeschluss Beschwerde einlegen könne. Man werde dazu schnellstmöglich eine Entscheidung fällen. Überhaupt: Der Beschluss ändere nichts daran, dass es langfristig bei der Sperrung und dem Umbau der Straße zu einer Fußgängerzone bleibe. Der Sieger der Geschichte steht fest.

„Die Friedrichstraße wird Fußgängerzone werden. Und die Charlottenstraße, die Parallelstraße, wird Fahrradstraße“, verkündet Jarasch. Diesem unbändigen Willen zur Verwirklichung politischer Ziele, die über Gerichten und den hiesigen Geschäftsleuten steht, muss sich auch Bürgermeisterin Giffey beugen. „Ich bin mir nicht sicher, ob Franziska Giffey genau verstanden hat, worum es bei diesem Urteil ging.“ Da ist es wieder, das grüne Narrativ: Nur die Grünen verstehen wirklich, was in der Welt passiert, sind fachlich beraten und können richtige von falschen Urteilen scheiden.

Zum Hintergrund: Es ist richtig, dass das Verfahren zur Einrichtung einer Fußgängerzone noch nicht abgeschlossen ist. Und es ist durchaus möglich, dass es zur Einrichtung eines solchen grünen Traumes kommt. Was nicht geht: nach einem zeitlich begrenzten „Verkehrsversuch“ diesen per Anordnung so lange zu verlängern, bis das Ende des Verfahrens das erwünschte Ergebnis liefert und damit Fakten schaffen. Genau das hat das Gericht festgestellt: Die Anordnung zur Sperrung nach dem Feldversuch war rechtswidrig, weil es dafür keine rechtliche Grundlage gibt.

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Es herrscht das grüne Narrativ
In diesem Fall ist fraglich, ob Bettina Jarasch genau verstanden hat, worum es bei dem Urteil ging; nämlich, dass man nicht einfach irgendwelche Verordnungen erlassen kann, wenn es einem passt. Auch nicht zur Überbrückung und auch nicht, wenn in ein paar Jahren wirklich eine Fußgängerzone eingerichtet wird. Mit derselben Begründung darf auch ein 14-jähriger Auto fahren, weil er sowieso irgendwann den Führerschein bekommt.

Sicher ist dagegen, was alle genau verstanden haben: Es geht gar nicht um die Friedrichstraße, sondern die grüne Verkehrswende im Ganzen. Und dabei darf kein Zentimeter preisgegeben werden. Jarasch hat es selbst gesagt: „Für die Verkehrswende bin ich in diesem Senat zuständig. Was aus der Friedrichstraße wird, darauf haben wir uns verständigt in Koalitionsverhandlungen und dieses Verfahren geht weiter, es geht ausschließlich um den Weg dahin – und das weiß auch Frau Giffey.“ Antje Kapek, verkehrspolitische Sprecherin der Grünen, bezeichnete Giffeys Aussage sogar als „frühes Wahlkampfmanöver“, um klarzumachen, „dass sie auf Seiten der Autofahrer steht“. Dagegen setzten sich die Grünen für die Verkehrswende ein.

Oder übersetzt: Giffey erdreistet sich als Bürgermeisterin doch tatsächlich, sich zuerst für die Anliegen der Bürger zu interessieren, statt für die große Idee, der alles unterzuordnen ist. Es ist vielleicht der einzige Moment eines langen politischen Lebens, in dem man fast Sympathie für die Sozialdemokratin aufbringen könnte, denn selbst diese kalte Wahltaktik wäre eher auf individuelle Interessen bezogen denn auf den utopistischen Kollektivismus von Maos Erben.

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Dazu gehört auch zu leugnen, dass man das Scheitern des eigenen Projektes selbst mal eingestanden hat. Jarasch hat im Mai zugegeben, dass es sich bei dem Projekt Friedrichstraße nicht um das handele, was man sich von einem attraktiv gestalteten Stadtraum verspreche. Gestern forderte sie dann, dass die Friedrichstraße dem Niveau einer modernen europäischen Metropole gerecht werden müsse. Dabei ist der Fall für jeden klar: Die Friedrichstraße wird nie eine italienische Altstadtgasse oder eine arkadenumsäumte spanische Piazza sein. Doch wer das offen ausspricht, zeigt auf den nackten Kaiser.

Wie bei Don Camillo und Peppone ist der banalste Anlass Streit dazu, den Kampf zweier Systeme auszufechten. Der Traktor muss aus der Sowjetunion sein, weil die Sowjetunion überlegen ist, auch wenn das Modell „Chruschtschow“ nach viel PR nicht anspringt; sonst ist das ein Sieg für die Reaktion. Auf dieselbe Weise bildet ein Fußballspiel zwischen christlichen und kommunistischen Fußballern einen Stellvertreterkrieg. Und wenn ein schlecht geplantes Straßenprojekt zum Scheitern verurteilt ist, darf es nicht scheitern, weil es sonst in die Hände der grünen Mobilitätsfeinde spielt.

Das Dorf Brescello und die Millionenstadt Berlin sind sich damit bestechend ähnlich. Mit dem feinen Unterschied, dass der kommunistische Bürgermeister Peppone verstanden hat, dass die Realität irgendwann die Ideologie übertrifft, und man einlenken muss, bevor es zu spät ist.

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