Tichys Einblick
Zuzug von Union, SPD und Nichtwählern

Die Freien Wähler auf dem Weg in die Landesparlamente

Die Freien Wähler gelangen allmählich in die Landesparlamente Deutschlands. Ihr Vorsitzender will nun in den Bundestag. Wer sind die Freien Wähler? Haben sie das Potenzial zu einer neuen Partei der Mitte?

Wahlplakat der Freien Wähler in Rheinland-Pfalz mit dem Spitzenkandidaten Joachim Streit

IMAGO / Revierfoto

Die Freien Wähler sind die Sensation der Landtagswahl in Rheinland-Pfalz: Mit 5,4 Prozent zogen sie in den Mainzer Landtag ein, belegen dort sechs Sitze. Damit liegen sie mit der FDP (5,5 Prozent) fast gleich auf. Die Freien Wähler sind somit die eigentliche Sensation der Wahl. Sie haben ganze 3,2 Prozent an Stimmen dazu gewonnen, wohingegen die CDU ein Verlust von 4,1 Prozent verzeichnet. Zum Vergleich: Während SPD, CDU, FDP und AfD Stimmenverluste erlitten, waren es allein die Freien Wähler und die Grünen (+ 4,0 Prozent), die einen Stimmungszuwachs in hohem Maße erzielten.

2008 zogen die Freien Wähler das erste Mal in das bayerische Landesparlament ein und regieren seit 2018 in einer Koalition mit der CSU. Ihr Bundesvorsitzender Hubert Aiwanger ist seither Wirtschaftsminister in Bayern. 2019 folgte der Einzug in den Brandenburger Landtag. Und jetzt, nach dem dritten Landtagswahlerfolg in Rheinland-Pfalz verkündet der Bundesvorsitzende Hubert Aiwanger, dass er in den Bundestag will.

Wer sind die Freien Wähler?

Wer sind die Freien Wähler? Sie entstanden 1965 als überregionale Vereinigung kommunaler Wählergemeinschaften, die vorerst nicht den Status einer politischen Partei beanspruchten. Wählervereinigungen wurden nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet, um kommunalpolitische Interessen zu vertreten. Schon 1998 traten in Bayern die Freien Wähler erstmals zur Landtagswahl an. Erst 2010 wurde die Bundespartei „Die Bundesvereinigung FREIE WÄHLER“ vom Bundesverband der freien Wählergemeinschaften gegründet, indem sich mehrere Landesverbände zusammenschlossen. Damit war sie offiziell eine Partei nach deutschen Parteiengesetz.

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Ihr Anspruch ist es, die Kommunen zu stärken sowie strikte Sachpolitik zu betreiben. Da sie aus Wählervereinigungen entspringen, liegt ihr Kern darin, sich von herkömmlicher Parteipolitik abzugrenzen und Gemeinden sowie Städte zu stärken. Sie verkörpern den Versuch, bürgerlich-konservative Meinungen zu bündeln. Zudem fordern sie mehr direkte Demokratie auf kommunaler und Landesebene. In ihrem Grundsatzprogramm definieren sie sich als „Bürger aus der Mitte der Gesellschaft, die sachbezogen und ohne Parteiideologie politische Verantwortung zum Wohle der Menschen übernehmen wollen“.
Corona-Entschädigungen und Lockerungen

So ist es nicht überraschend, dass in Rheinland-Pfalz die Freien Wähler im Wahlkampf vor allem auf kommunale Themen setzten. In Sachen Gesundheit positionieren sie sich gegen Schließungen von Krankenhäusern, die überwiegend unter finanziellen Problemen leiden. Zugleich fordern sie eine „Qualitätsoffensive“ für Pflegepersonal und Patienten wie eine bessere Bezahlung und neueste Technik. Sie wollen den Ärztemangel auf dem Land stoppen. Auch wollen sie die stark verschuldeten Kommunen stärken. So kündigten sie an, die Reform des kommunalen Finanzausgleichs anzugehen, 400 Millionen Euro pro Jahr für die „kommunale Familie“ herauszuholen. Für die vier Millionen Selbstständigen, darunter zwei Millionen Solo-Selbständige in Deutschland fordern sie eine Entschädigung, unter anderem weil teilweise immer noch nicht alle Corona-Hilfen angekommen sind. Aber auch mit der Forderung nach schnellem Internet, Abbau von Bürokratie, Digitalisierung in Schulen, Schulreform und Stärkung der Landwirtschaft konnten die Freien Wähler punkten. Sie setzen auf freie Marktwirtschaft und wollen den Mittelstand fördern.

Insbesondere bedienen die Freien Wähler in Pandemie-Zeiten den Wunsch vieler Wähler nach einer pragmatischen Corona-Politik. So wollen sie die Geschäfte unter der Bedingung des Tragens von FFP2-Masken öffnen. In Bayern legten die Freien Wähler kürzlich ein Lockerungskonzept vor, das weg von der Inzidenzzahl geht, die sie als „ideologische Führung“ kritisieren.

Neue bürgerliche Partei

Sozial, öko, liberal, konservativ – von allem ist was dabei, doch strikt werteorientiert mit einem bürgerlichen Fundament, frei von Ideologien. Denn das, was diese Partei wirklich ausmacht, ist ihr bürgerlicher Charakter. Der Mann hinter dem Erfolg des Einzugs ins Mainzer Landesparlament ist Joachim Streit. Der Jurist und Landrat aus der Eifel hat als Spitzenkandidat die Freien Wähler ins Parlament geführt. Als er Bürgermeister von Bitburg in der Eifel wurde, gehörte er keiner Partei an, sondern zog mit seiner „Liste Streit“ in den Stadtrat ein. Auch ins Landratsamt im Kreis Bitburg-Prüm gelangte er durch eine Urwahl und nicht durch etablierte Parteien. In seinem Kreis ist er bekannt dafür, dass er sich den Bürgern persönlich vorstellt, ihre Sorgen und Bedürfnisse anhört. Seit 1996 klopft er selbst an die Türen der Bürger. Bei der Landratswahl 2009 besuchte er alle Bürgermeister der 234 Dörfer sowie über hunderte Veranstaltungen. Derartige Bürgernähe ist selten geworden in der Politik. Seinen Doktortitel stellt Joachim Streit auf Wahlplakaten oder Flyer nicht zur Schau, weil er sich damit nicht von den Bürgern abgrenzen will.

Lösen die Freien Wähler die Volksparteien ab?

Ein Blick auf die Wählerwanderung nach ARD-Infratest dimap legt die Gründe nahe, wieso die Freien Wähler gerade jetzt Aufwind bekommen. Die meisten Stimmen erhielten sie von den zwei Volksparteien CDU und SPD. Von der CDU gingen danach 20.000 und von der SPD 17.000 Wähler zu den Freien Wählern über. Noch viel größer war allerdings die Abwanderung früherer CDU-Wähler in Rheinland Pfalz zur Nicht-Wahl: 70.000. Bei der SPD waren es sogar 78.000.

Die Ursachen liegen nahe: Die Regierungskoalition im Berliner Bundestag hat vielen Bürgern endgültig das Vertrauen in die zwei Volksparteien während der Corona-Krise genommen. Nach den fatalen Entscheidungen zur Energiewende, zur grenzenlose Einwanderung und der Euro-Politik, versagt Merkel nun in der Corona-Krise mit einem Mangel an Kreativität und einer Taktik, die nur aus Lockdowns und Impfdesastern besteht.

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Mit der Linksverschiebung konnte die CDU zwar auch einige links oder grün orientierte Neuwähler ködern, aber nur schlappe 14.000. Die wählten lieber die Originale (Grüne: 26.000 Neuwähler; SPD: 22.000 Neuwähler). Vor allem rechnen sich die Neuwähler nicht, da selbst linksgrüne CDU-Wähler trotz Merkels Parteilinie absprangen: 48.000 wählten die SPD, 17.000 die Grünen. Auch die ehemalige Arbeiterpartei SPD konnte mit Themen wie Feminismus und Genderwahn im linken Wählerlager nicht punkten, auch sie verlor ganze 32.000 Wähler an die Grünen.
Die neue Partei der Mitte

Die zwei Volksparteien verlieren das Volk. Von einer sogenannten „politischen Mitte“ haben sich die Parteien CDU und SPD nach links links entfernt. Dadurch ist in der wirklichen Mitte eine große Lücke entstanden, die die Freien Wähler nun – jedenfalls teilweise – zu füllen scheinen. Sie grenzen sich von der AfD ab, bezeichneten sich selbst als „Antithese“ zu dieser Partei.

Auch besetzen sie Themen wie Klimaschutz, Tierschutz oder Wohnraum, ohne dass sie dabei auch nur ansatzweise nach links rutschen. Für sie ist Fleischproduktion zugleich Klimaschutz, weil die Bauern in Deutschland unterstützt werden sollten, statt Importen aus China. Viele Parteimitglieder der Freien Wähler sind selbst Handwerker, Landwirte oder Ladenbetreiber.

Vorsitzender Hubert Aiwanger will in den Bundestag

Nach dem Erfolg bei der Landtagswahl in Rheinland-Pfalz wollen die Freien Wähler in weitere Parlamente einziehen. In Rheinland-Pfalz wollen sie die nächsten fünf Jahre nutzen, um die Freien Wähler als Partei weiter auszubauen. Währenddessen schmiedet ihr Bundesvorsitzender Huber Aiwanger, der Wirtschaftsminister und stellvertretender Ministerpräsident Bayerns ist, größere Pläne. Er will nicht nur, dass Deutschland wieder vernünftig regiert wird, anstatt unter ideologische Räder zu geraten, sondern will mit den Freien Wählern eine neue liberal-konservative Kraft auf Bundesebene. Aiwanger kündigte nach der Landtagswahl an, dass er für die Bundestagswahl im September als Spitzenkandidat der Freien Wähler kandidieren wird. Dafür dürfte er den meisten Rückenwind aus seiner Partei zur Verfügung haben; seine Nominierung ist somit nur Formsache.

Das nächste Ziel Aiwangers und der Freien Wähler? Die Fünf-Prozent-Hürde bei der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt im Juni 2021 erreichen.

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