Tichys Einblick
Merkelismus

Die EU am Scheideweg

Ein grundlegender Zug deutscher Politik ist seit nunmehr 13 Jahren, abzuwarten, keine Stellung zu beziehen und die Entscheidung der Mehrheit am Ende als den eigenen Erfolg zu verkaufen. Das gilt für Brüssel genauso wie für Berlin.

Spanish Prime Minister Mariano Rajoy, Hungarian Prime Minister Viktor Orban, German Chancellor Angela Merkel and French President Emmanuel Macron pose for a family photo during a High Level Conference on the Sahel at the European Commission in Brussels on February 23, 2018

© Olivier Hoslet/AFP/Getty Images

Die Europäische Union steht an einem Scheideweg. Die einen träumen von der Abschaffung der Nationalstaaten und wollen einen europäischen Superstaat schaffen. Die anderen wollen diesen zunehmenden Zentralismus stoppen und wieder mehr Verantwortung und Entscheidungsfreiheit auf die nationalen Regierungen übertragen. In dieser Situation ist die EU festgefahren. Ambitionierte Projekte der Vergangenheit, wie der Euro, die EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit oder die offenen Schengen-Grenzen, sorgen für gewaltige Probleme und sind mit dem bestehenden Rechtsrahmen nicht unter Kontrolle zu bringen. In den nächsten Monaten wird sich voraussichtlich entscheiden, welchen Weg die EU einschlägt. Deutschland als wichtigstem Netto-Zahler kommt dabei eine besondere Bedeutung zu.

Ein wichtiger nordwesteuropäischer Nettozahler hat sich bereits gegen den Zentralismus entschieden. Mit den freiheitsliebenden Briten und ihrer langen Demokratie-Tradition tritt eines der wichtigsten Mitglieder und tragenden Säulen sogar aus der Gemeinschaft aus. Für diesen Schritt war zum einen die sehr hohe Binnenmigration in der EU verantwortlich, die zur Entvölkerung ganzer Länder wie z.B. Bulgarien führt, aber zum anderen auch die Furcht vor Wirtschaftsmigration aus Arabien und Afrika, die insbesondere durch Deutschland in die EU einströmt. Der Austritt der Briten beschädigt bestehende wirtschaftliche Strukturen und schlägt große finanzielle Löcher in den Haushalt der EU.

Um die EU und insbesondere das Euro-System zu stabilisieren, braucht die zentrale Ebene in Brüssel bzw. die EZB in Frankfurt mehr Geld. Neue Transfermechanismen und Garantien sollen die Staaten, die noch heute unter der Euro-Krise leiden, stabilisieren und stärken. Dutzende Reformvorschläge der letzten Jahre, von Juncker, Macron, Verhofstadt, Lagarde, Schulz und vielen anderen, zielen alle in diese Richtung.

Diese Vorschläge könnten in der Theorie funktionieren. Man will die südeuropäischen Banken sanieren, den Investoren die Angst vor der Zahlungsunfähigkeit der Staaten nehmen und so neue Investitionen ermöglichen und anziehen. In der Realität bestehen aber erhebliche Zweifel:

  1. Sie packen das Problem der unterschiedlich starken Volkswirtschaften in der Eurozone nicht an der Ursache bzw. den Wurzeln des Übels an, sondern kurieren lediglich die Auswirkungen.
  2. Die Transfers sind nie ausreichend und werden Forderungen nach weiteren Geldern nach sich ziehen.
  3. Sie untergraben das System der Eigenverantwortung, weil sie nicht nur unverschuldet in Not geratenen Ländern helfen, sondern auch unsolide wirtschaftende Mitglieder für ihre Schuldenpolitik belohnen.
  4. Sie höhlen das Vertrauen der Bürger in die EU und deren Verträge immer weiter aus.

Gerade der letzte Punkt belastet das Verhältnis vieler deutscher Bürger zur EU. Ein fundamentaler Eckpfeiler der bestehenden EU-Verträge von Maastricht und Lissabon ist die sogenannte Nichtbeistandsklausel (No-Bailout-Klausel). Sie besagt, dass weder die Gemeinschaft als Ganzes noch einzelne Mitgliedstaaten für die Verbindlichkeiten anderen Mitgliedsstaaten oder deren Körperschaften haften darf. Diese Klausel soll für Haushaltsdisziplin der nationalen Regierungen sorgen und verhindern, dass solide geführte Staaten für andere, unsolide wirtschaftende Mitglieder zahlen müssen. Es ist das Prinzip der Eigenverantwortung.

Dieser Grundpfeiler der Gemeinschaft wird, z.B. durch Hilfspakete im Zuge der „Griechenland-Rettung“, durch Notfallkredite, durch die Schaffung des Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM, durch die an den schwächsten Staaten ausgerichtete Geldpolitik oder durch die Target-II-Mechanismen bereits permanent umgangen.

Die Target 2-Salden, ursprünglich als Ausgleichskonten der Mitglieder bei der Europäischen Zentralbank EZB gedacht, sind seit der Finanzkrise 2007/2008 zu dauerhaften Schuldenkonten verkommen und dabei massiv auseinandergedriftet. Die Verbindlichkeiten von Italien (450 Milliarden Defizit) und Spanien (400 Milliarden Defizit) entsprechen dabei ungefähr dem deutschen Guthaben von aktuell 914 Milliarden Euro. Deutschland haftet also in großem Umfang für die kranken Mittelmeerstaaten.

Nur gewaltige Investitionen in die wirtschaftlichen Strukturen der südeuropäischen Staaten, insbesondere Italiens, können deren Niedergang theoretisch aufhalten. Der Bankenexperte Markus Krall schätzt allein den zusätzlichen Bedarf an Eigenkapital im europäischen Bankensystem auf mindestens 1.000-1.200 Milliarden Euro. Welcher Politiker soll das angesichts des zunehmenden Misstrauens zwischen Nord und Süd noch vermitteln? Jean-Claude Juncker hat das Problem bereits 2007 auf den Punkt gebracht: „Wir alle wissen was zu tun ist, aber wir wissen nicht wie wir wiedergewählt werden sollen, nachdem wir es getan haben.“

Wie sehen die Vorschläge der deutschen Bundesregierung zu möglichen Reformen der EU aus? Es gibt bislang keine. Einer der grundlegenden Charakterzüge von Kanzlerin Merkel ist seit nunmehr 13 Jahren, abzuwarten, zu beobachten, keine Stellung zu beziehen und die Entscheidung der Mehrheit am Ende als den eigenen Erfolg zu verkaufen. Das gilt für Brüssel genauso wie für Berlin.

In Brüssel sind die Interessen der Mehrheit aber nicht die Interessen Deutschlands. Die Mehrheit der europäischen Mitgliedsstaaten hat Interesse an mehr Transfers und weniger fiskalischer Disziplin. Von den Interessen der Zentralisten und der Südeuropäer in Brüssel getrieben, droht Deutschland eine hohe Rechnung. Unsere Regierung hatte jahrelang Zeit, ein Gegenmodell zu entwickeln und hat diese nicht genutzt. Sie sieht seit Jahren tatenlos zu, wie EZB-Präsident Mario Draghi mit seiner radikalen Niedrigzins-Politik die soliden Sparer dauerhaft schädigt und sich immer höhere Haftungsrisiken ansammeln.

Vermutlich wird unsere Regierung sich für den Pfad entscheiden, der im Quiz ganz rechts zu finden ist. Man wird weiterhin versuchen, die Zahlungen zu verschleiern und schönzureden.

Der Schaden für unser Land wird also immens sein und unter der neuen Bundesregierung mutmaßlich weiter anwachsen. Merkels und viele andere Karrieren wurden noch einmal verlängert – wenn die Bürger den Preis dafür realisieren, wird es zu spät sein.


Ulrike Trebesius ist Europaabgeordnete (Liberal-konservative Reformer).