Tichys Einblick
Der Weg in die Verzicht-Wirtschaft

Deutschland wird Abschied nehmen vom Wohlleben

Zum ersten Mal in der Nachkriegszeit dämmert am deutschen Wohlstandhimmel ein Szenario heran, in dem die deutsche Politik den Bürgern keine bessere Zukunft, jedenfalls keinen steigenden Wohlstand in Aussicht stellen kann.

Als in den letzten Jahren Greta Thunbergs Schüler*innen weltweit mit ihrer „Fridays-for-Future“-Bewegung für Aufsehen sorgten, erreichte das unmittelbar die politische Szene in Deutschland. Unterlegt durch die als Klimawandelfolge gedeutete Flutkatastrophe im Ahrtal sowie Wald- und Tundrabrände rund um den Globus wurde der Bundestagswahlkampf aller bürgerlichen Parteien (einschließlich der Linken) zur gebetsmühlenartigen Beschwörung des Kampfes gegen den Klimawandel und der überfälligen Modernisierung der Gesellschaft. Das nachfolgende Wahlergebnis galt als Bestätigung der Reformbereitschaft der Gesellschaft.

Alle waren der Meinung: Die Transformation zur umweltfreundlichen, nachhaltigen Wirtschaft und Gesellschaft ist überfällig und unverzichtbar. Davon, dass eine klimafreundlichere Produktionsweise in der Industrie und eine auf knappe Ressourcen und saubere Umwelt stärker Rücksicht nehmende private Lebensführung ohne Verschwendung zwangsläufig auch das Abschiednehmen von bisherigen Produktions- und Konsumgewohnheiten erfordern würde, war kaum die Rede. Über Verzicht auf liebgewonnene Gewohnheiten oder auf Produktionsprozesse, die nur private, nicht aber soziale Kosten minimierten, wurde nie gesprochen. Worte wie Verzicht oder Entbehrung kommen im politischen Vokabular nicht vor. Sondern nur, dass immer und überall „alles sehr, sehr schnell“ gehen müsse (Annalena Baerbock).

Die Realität hat ein anderes Drehbuch vorgesehen! Russlands Angriffskrieg gegen den Nachbarn Ukraine und dessen ahnbar schmerzliche Folgen für die politische und vor allem auch wirtschaftliche Weltordnung rücken jetzt unvermeidbar Verzicht und auch Entbehrung für den wohlhabenden Westen in den Fokus. Wachstumsprognosen sind zu Makulatur geworden, sie werden rund um den Globus nach unten korrigiert, ob von OECD, EU, China oder den inländischen Forschungsinstituten und Konjunkturexperten: Alle sehen eine Abschwächung des BIP-Wirtschaftswachstums um bis zu zwei Prozentpunkte und eine Beschleunigung der Inflation um weitere zwei Prozentpunkte voraus. Der Mangel an Energie- und sonstige strategische Rohstoffe wie Nickel, Platin, Kobalt, Kohle, Erdöl, Erdgas, aber auch Weizen aus Russland und der Ukraine stürzt den Westen in die Rezession und treibt die Inflation bedrohlich hoch. Sinkende Realeinkommen und womöglich gar die Rationierung plötzlich knapper Güter und Energie sind die Folge. Aus Überfluss wird plötzlich und ungewohnt Mangel. Betroffen sind alle, die einen mehr, die anderen weniger.

Auch wenn dieser Krieg wegen des einzigartigen atomaren Bedrohungspotenzials wesentlich gefährlicher einzuschätzen ist als alle bisherigen Weltwirtschafts- und Finanzkrisen oder Ölkrisen seit 1973, so liefern diese Krisen dennoch Blaupausen für das, was ziemlich sicher kommen wird.

Die vergangenen Wirtschaftskrisen lehren eines: Die Wirklichkeit ist im Zweifel schlimmer, als sämtliche ökonomischen Appeasement-Prognosen voraussagen. Denn die Wirklichkeit lässt sich als dynamischer Prozess mit Kettenreaktionen nicht prognostisch seriös in Zahlen pressen. Niemand kann vorhersagen, was in Zukunft im Zweifel an Verzicht und dann an Entbehrungen auf die deutsche Wohlstandsgesellschaft zukommt – und schon gar nicht, wie lange ein solcher Zustand anhält, ob er nur vorübergehend sein wird oder nachhaltig strukturell in eine Absenkung des liebgewonnenen Lebensstandards münden wird. 

Schwachstelle der deutschen Wohlstandsgesellschaft ist die Versorgung mit Energien und Rohstoffen

Bert Rürup, Ex-Wirtschaftsweiser und Präsident des Handelsblatt Research Institute (HRI), glaubt ex post halbwegs gesichert festzustellen, dass der deutschen Wirtschaft durch die Corona-Pandemie drei Jahre Wirtschaftswachstum fehlen. Das bedeutet laut Rürup, dass „das Bruttoinlandsprodukt auf Dauer nominal 300 Millarden Euro niedriger (ist), als es ohne Pandemie gewesen wäre“. Hinzu kämen noch die Verluste des Ukraine-Krieges und solche aus den Sanktionen gegen Russland. Rürups Fazit: „Deutschland ist heute gemessen an den Erwartungen von 2019 deutlich ärmer!“ (Handelsblatt 18.03.2022).

Es wird schlimmer kommen. Das HRI legt seiner Wachstumseinschätzung noch die Annahme zugrunde, das deutsche BIP werde 2022 das Vor-Corona-Niveau wieder erreichen. Das ist so gut wie ausgeschlossen, da

  • der Krieg absehbar nicht so schnell zu Ende sein wird,
  • die gegen Russland verhängten Sanktionen über irgendwann ausbleibende Energie- und Rohstofflieferungen (zum Beispiel Nickel, Palladium, Eisenerze, Edelgas etc.) auf die inländische Industrie und Wertschöpfung negativ zurückwirken. Ersatz aus anderen Regionen der Welt ist so leicht nicht aufzutreiben, ähnlich wie beim Ausfall der Speicherchips-Lieferkette für die deutsche Autoindustrie.

Zum ersten Mal in der Nachkriegszeit dämmert am deutschen Wohlstandshimmel ein Szenario heran, in dem die deutsche Politik – anders als bei temporären Krisen in der Vergangenheit – den Bürgern keine immer bessere Zukunft mit einem stetig steigenden Wohlstand in Aussicht stellen kann. Und in den Jahren 2022 ff. vermutlich auch keine sauberere Umwelt ohne Klimakrise bei gleichzeitig gesicherter Altersvorsorge. 

Das aktuell geschnürte Entlastungspaket vor den Folgen der Energiepreis-Explosion in Höhe von 17 Milliarden Euro legt noch Zeugnis ab von der bisherigen Politik: Dem Bürger nur nicht wehtun, ihm finanzielle Belastungen ähnlich wie in der Finanzkrise 2009 und der laufenden Corona-Pandemie vom Halse halten. Die Belastungen sollten sich darauf beschränken, künftig mit einem Elektroauto in den Sommerurlaub zu fahren, statt mit dem reichweitenstarken Diesel- oder Benzin-Verbrenner, wie seit Kindesbeinen gewohnt. Andere Folgen der Energiepreissteigerung und des Kampfes gegen den Klimawandel sollen die Bürger möglichst nicht verspüren. Hinzu kommen Appelle auf breiter Front zu freiwilligen Energie-Einsparungen, durch Verzicht statt durch „Regulatorik“ (Robert Habeck), zum Beispiel langsamer fahren statt Tempolimit, etwas frieren statt voll heizen (Joachim Gauck).

Das wird nicht reichen! Die Fakten zeigen, dass Europa und insbesondere die deutsche Industriegesellschaft in der Substanz höchst verwundbar ist, nämlich bei ihrer Versorgung mit Energie (Erdgas; Flüssiggas LNG, Kohle und Erdöl) und anderen Rohstoffen aus Russland, höchst verwundbar ist. Dazu folgende Fakten (Quellen: Süddeutsche Zeitung, Nr.71; Spiegel, Nr. 13.):

  • Russland steht für 45 Prozent der Gasimporte in die EU; eine allmähliche Reduzierung ist möglich, die EU-Kommission hat als Ziel eine völlig Unabhängigkeit von Gas-, Öl- und Kohleimporten aus Russland bis zum Jahre 2027 als Ziel angepeilt.
  • Insgesamt sollen die Gasimporte aus Russland bereits 2022 um zwei Drittel sinken, 50 Milliarden Kubikmeter russisches Gas sollen durch Flüssigerdgas (LNG) aus Mitgliedsstaaten ersetzt werden – von Fachleuten als sehr ambitioniert angesehen. Reduzierung des Gasverbrauchs fürs Heizen sowie rascher Ausbau der Wind- und Solarenergie sind ebenfalls erforderlich.
  • Eine erhebliche Steigerung der Bezüge von LNG aus USA ist vorgesehen, hat allerdings lange Vorlaufzeiten, weil in den USA die Förderung erst hochgefahren und in Europa Terminals für die Anlandung von LPG-Tankern noch gebaut werden müssen. In Deutschland sind zwei Terminals geplant, vorhanden ist keines. 
  • Deutschland bezieht laut Energiesicherheits-Bericht 55 Prozent seines Erdgases aus Russland. Bis Ende 2022 soll der Anteil durch höhere Bezüge aus Norwegen und den Niederlanden auf 30 Prozent sinken. Schneller soll es bei Erdöl und Kohle gehen, weil hier der Weltmarkt breiter aufgestellt ist – aber auch nur bei beschleunigtem Ausbau der erneuerbaren heimischen Quellen.
  • Nicht nur bei Energie und Weizen auch bei Metallen hängt Deutschland stark von russischen Lieferungen ab. Zwar machen Metalleinfuhren aus Russland laut Deutscher Rohstoffagentur nur knapp 4 Prozent der deutschen Gesamtmetallimporte von gut 70 Milliarden Euro aus. Die Zahl täuscht allerdings: Hoch ist die Abhängigkeit bei strategischen Metallen, die zu 20 bis 40 Prozent aus Russland kommen, und ohne die, wie bei den Speicherchips, die Produktion in Deutschland stillstünde (Anteil in Prozent)
    • Nickel                                                            44
    • Titan ( Stangen, Profike, Draht)                    41
    • DRI-Eisenerzeugnisse (Eisenschwamm)     35
    • Titan (Bleche, Bänder. Folien)                      33
    • Eisenerz und -konzentrat                             23
    • Rohaluminium                                               22
    • Kupfer (Kathoden)                                        19
    • Palladium                                                      18                                         
    • Aluminium (legierte Stangen                        17

Besonders hoch ist die Abhängigkeit von russischen Edelmetallen beim „Motor der deutschen Wirtschaft“, der Autoindustrie. Laut Bericht der Südeutschen Zeitung ist vor allem bei Palladium und Nickel die Versorgungslage kritisch: Es gibt auf dem Weltmarkt kein Puffer oder Produktionsüberhänge, alles was gefördert wird, ist bereits verkauft.

In die Autoindustrie gehen 80 Prozent der Palladium-Importe. Das Edelmetall wird dort neben Platin und Rhodium beim Bau der gesetzlich vorgeschriebenen Abgaskatalysatoren eingesetzt, ohne Katalysator ist kein Autobau möglich. Diese Edelmetalle werden aber nicht nur bei Verbrennern eingesetzt, sondern auch bei Brennstoffzellen-Antrieben oder großen stationären Wasserstoffanlagen. Das Gleiche gilt für Nickel, dass Deutschland zu 44 Prozent aus dem Osten bezieht. Ohne Nickel keine Batterien für Elektroautos, ohne Elektroautos keine Verkehrswende.

Aus gutem Grund stehen alle diese Edelmetalle nicht auf der Sanktionsliste der EU gegenüber Russland. Ein Verzicht auf Titan aus Russland hätte beispielsweise für den Flugzeugbauer Airbus einen totalen Produktionsstopp zur Folge, bei Nickel käme die von allen Auto-Herstellern geplante Batterie-Eigenfertigung für Elektroautos ins Schwimmen. Der Ausfall von Paladium und Titan brächte die Katalysator-Fertigung zum Erliegen, die größte Fabrik für das notwendige Neon-Gas liegt im völlig zerstörten Mariupol.

Wie immer man es dreht und wendet, die Schwachstelle der deutschen Industrie- und Wohlstandsgesellschaft ist die sichere Versorgung mit Energien und Rohstoffen. Kies, Sand, Granit etc. sind reichlich vorhanden, Rheingold und Edelmetalle in homöopathischen Dosen. Ebenso fehlt es an ausreichend elektrischer Energie aus nachhaltigen Quellen, da Kohlekraftwerke und Atommeiler stillgelegt werden. Letzteres wird von Elon Musk als „Wahnsinn“ bezeichnet. 

Gesicherte Importe sind eine Voraussetzung für wirtschaftliches Überleben in Wohlstand. Selbst ohne Importausfall aus Russland wird die Beschaffung von gesicherten Alternativen und Ersatzquellen zeitaufwendig und mühsam, und vor allem ist sie nur zu erheblich höheren Kosten möglich. Die temporäre Verteuerung von Neongas um das Sechsfache oder von Nickel um das Zehnfache an der Londoner Metallbörse haben bereits einen kleinen Ausblick auf die Zukunft der Wohlstandsgesellschaft gegeben. Alternativen zu Russland-Importen sind in jedem Fall teuer und kosten Realeinkommen und Wohlstand. Einen Ausgleich dafür kann die Regierung nicht leisten, höhere Einkommenssubventionen beseitigen keine Knappheiten.

Abschiednehmen fällt schwer. Der Spiegel zitiert dazu Philipp Lepenies (Professor für Politik mit Schwerpunkt Nachhaltigkeit, FU-Berlin): „Wir leben in einer Konsumkultur, nicht in einer Verzichtskultur.“ Und weiter: „Die Idee, dass Politik gut ist, die nicht verbietet, ist unfassbar stark in den Köpfen verankert.“

Wollen die Bürger die staatliche „Regulatorik“ vermeiden, könnte es für sie tatsächlich sinnvoller werden, freiwillig Verzicht durch Einschränkungen zu üben. So kann jeder vermeiden, dass aus Verzicht Entbehrung wird.

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