Tichys Einblick
unverbindliche Einigung zu Nord Stream 2

Die Gemeinsamkeiten zwischen Deutschland und den USA schwinden

Der Konflikt über Nord Stream 2 ist nur zugepudert, die Interessengegensätze zwischen Berlin und Washington und der EU bleiben. Aus dem Bild des Gentleman-Biden kann für Berlin schnell ein Schmuddel-Trump werden.

IMAGO / UPI Photo

Zumindest vom Hören-Sagen kennt fast jeder die Situation der Versöhnung nach einem Seitensprung. Der betrogene Partner vergibt und die Person, die das Treue-Gelöbnis einer Ehe gebrochen hat, bedauert und verspricht, diese Ruchlosigkeit nie mehr zu wiederholen. Dann legt das Paar Verhaltensregeln für die Zukunft fest und fällt sich anschließend entspannt mit neuem Optimismus in die Arme. Dabei weiß doch jeder, dass dieser Sprung im zarten Porzellan eines einst gegebenen Versprechens nie wieder vergessen und auch nicht geheilt werden kann. Ein, wenn auch noch so kleines, Stückchen Misstrauen bleibt und der Partner wird nie wieder mit den gleichen Augen gesehen wie zuvor. Nach außen hin aber gibt sich das Paar, als sei alles wieder Friede, Freude, Eierkuchen!

Genauso ist es jetzt zwischen den USA und Deutschland – zur Zeit repräsentiert von Joe Biden und Angela Merkel. So hat man Deutschlands Gas-Tête à Tête mit Russland professionell zugepudert, gab sich gleichzeitig aber mit vagen Bekundungen zu Strafmaßnahmen im Falle russischer Schikanen gegenüber der Ukraine zufrieden. Absichten, die so wenig Garantien bieten wie das Funktionieren eines Gebrauchtwagens ohne Motor. Washington wird nie vergessen, mit welcher Raffinesse und Kaltblütigkeit Merkel die Iran-Sanktionen unterlaufen hat und Bidens Versuch, die USA wieder zum Meinungsführer des Westens gegenüber Moskau und China zu machen, durch den Coup eines Gipfeltreffens der EU mit Putin vereiteln wollte. Dass er nicht gelang, ist dem Widerspruch nicht nur der mitteleuropäischen EU-Partner zu verdanken.

Aber es ist eben wie bei jeder Scheidung: Vor diesem gravierenden Schritt müssen auch die Folgen bedacht werden. Da gibt es gemeinsame Verpflichtungen, da müssen materieller Schaden und Nutzen für jeden gegeneinander abgewogen werden, und nicht zuletzt muss jeder für sich die eigenen Möglichkeiten in der Zukunft bedenken. Und so ist das auch hier.

Die Gemeinsamkeiten zwischen Deutschland und den USA sind in Wirklichkeit viel kleiner geworden, als man nach außen zugibt. Die nahezu unverbindliche Einigung zu Nord Stream 2 kann jederzeit in neue Konflikte münden.

Die nächsten Monate werden zeigen, ob ein Neubeginn der Beziehungen wirklich gelingen kann. Merkel und ihr Umfeld stehen mental möglicherweise Russland näher als jede politische Führung der Bundesrepublik zuvor. Diese Vermutung darf zumindest für die Siegerin der Russisch-Olympiade in der DDR und spätere Studentin im Sowjetparadies, Angela Merkel, gelten. Anders ist vieles nicht zu erklären.

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Dies führt natürlich zu unterschiedlichen Beurteilungen. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, steht Angela Merkel damit in Deutschland nicht allein da. Nicht zuletzt viele Kommentare unserer Leser legen nahe, dass das Verständnis von Freiheit und Souveränität hier anders ausgeprägt ist, als in Großbritannien und den USA. Kurzum, es herrscht eine Mischung aus Illusionen über und Verklärungen des Gesellschaftsverständnisses und der Weltsicht im Kreml. Sonst würde man den Schutz der USA, insbesondere durch nukleare Kapazitäten, nicht so achtlos beiseiteschieben.

Oder wollen sich die Deutschen gar durch eigene Atomwaffen schützen? Der Rest Europas würde das, schon mit Blick auf die Geschichte, zu verhindern wissen. In der aktuellen Situation braucht es nur wenige Irritationen, und schon wird aus dem Gentleman Biden für die Deutschen ein etwas gepflegterer Trump. Immer mehr Unordnung herrscht auf dem europäischen Kartentisch. Nur mal so zum Nachdenken: Was wäre denn, wenn Ungarn und Polen als Antwort auf die angedrohten Sanktionen ihren Austritt aus der EU beantragten? Neue Partner, die mit Geld und Interessen das Vakuum füllen könnten, stehen mit Sicherheit bereit.

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