Tichys Einblick
Anmerkungen von Klaus-Rüdiger Mai

Der Traum von Notre Dame oder die Ruinen Europas

Wollen wir als Deutsche, als Franzosen, als Italiener, als Engländer, als Ungarn und als Angehörige all der anderen Nationen Europas bestehen, denn nur so existiert Europa, müssen wir uns an das Vergangene erinnern, das Orientierung ermöglicht, denn ohne Ausgangspunkt kann nicht navigiert werden.

PHILIPPE LOPEZ/AFP/Getty Images

Machen wir uns nichts vor und betäuben wir uns nicht mit wohlklingenden Phrasen, die Feuersbrunst, die in der alten Kathedrale wütete, hat Notre Dame zerstört. Die Ruine des Bauwerks erinnert an den Beginn des Stückes „Die Hamletmaschine“ des Dramatikers Heiner Müller: „Ich stand an der Küste und redete mit der Brandung BLABLA, im Rücken die Ruinen von Europa.“

Die zerstörte Kathederale versinnbildlicht die Ruine, die Europa heißt. Dass sie so leicht Feuer fing, offenbart wie fragil, wie leicht entflammbar nicht nur die alte Kirche, sondern auch unser Gemeinwesen inzwischen geworden ist. Blickt man in die Gesichter der neuen Herrschaft, der neuen Eliten, die Europas Tradition und Identität in gelebter und vorangetriebener Dekonstruktion zerreden und zerhandeln, steigt ein berechtigter Zweifel auf, ob ein Wiederaufbau überhaupt glücken kann, wo man sich doch schon auf das „Wieder“ nicht mehr zu einigen vermag.

Was in den nächsten Jahren entstehen wird, mag vieles sein, eine Rekonstruktion vielleicht, eine Synthese aus altem und neuem, eine Kathedrale womöglich, die viel Ähnlichkeit mit dem alten Kirchenbau besitzt, aber nicht mit ihm identisch ist. Es steht sogar zu befürchten, dass die neue Kathedrale ein Werk der Eitelkeit sein wird. Die reichsten Familien Frankreichs haben sofort großzügig für den Wiederaufbau gespendet, doch was bedeutet diese Generosität, die den eigenen Namen poliert und auch noch erlaubt, bis zu 60 % des Gespendeten von der Steuer abzusetzen?

Damit finanziert der französische Steuerzahler zu fast zwei Dritteln die gute Tat der Reichen, für die eine Spende in Millionenhöhe doch nur Kleingeld bleibt. In der Bergpredigt heißt es jedenfalls: „Wenn du nun Almosen gibst, sollst du es nicht vor dir ausposaunen, wie es die Heuchler tun in den Synagogen und auf den Gassen, damit sie von den Leuten gepriesen werden. Wahrlich, ich sage euch: Sie haben ihren Lohn schon gehabt. Wenn du aber Almosen gibst, so lass deine linke Hand nicht wissen, was die rechte tut, auf dass dein Almosen verborgen bleibe; und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird dir’s vergelten.“

Glaubwürdiger wären verschwiegene Spenden – und der Verzicht auf die steuerliche Erstattung. Doch um das Spenden noch attraktiver zu gestalten, will Emmanuel Macron ein neues Gesetz über die Absetzbarkeit von Steuern einbringen. Der Präsident, der um kein hohles Pathos in seinen Reden verlegen ist, begreift die Katastrophe von Notre Dame und den Wiederaufbau als persönliche Rettung. In seinen Träumen scheint er sich an der Spitze eines geeinten Frankreichs zu sehen, das mit Notre Dame die verlorene historische Größe der Grande Nation rekonstruiert. Doch kann das wirklich mehr sein als ein Traum?

Walter Benjamin berichtete von einem ganzen anderen Traum, in dem er am „linken Seine-Ufer vor Notre Dame“ stand. Dieser Nachtschatten besitzt etwas Prophetisches, denn: „Da stand ich, aber da war nichts, was Notre Dame glich. Ein Backsteinbau ragte nur mit den letzten Staffeln seines Massivs über eine hohe Verschalung von Holz. Ich aber stand, überwältigt, doch eben vor Notre Dame. Und was mich überwältigte, war Sehnsucht.“

Sehnsucht ist in diesem Zusammenhang und im Angesicht der Katastrophe das entscheidende Wort. Notre Dame erinnerte stets an das christliche Europa, deshalb zog die Kathedrale bereits den Hass der Jakobiner auf sich, die dort den „Kult des höchsten Wesens“ feiern wollten. Jetzt aber, da Notre Dame brannte, wird der Verlust als Sehnsucht, als Sehnsucht nach einer Erinnerung verstanden werden müssen. Wollen wir als Deutsche, als Franzosen, als Italiener, als Engländer, als Ungarn und als Angehörige all der anderen Nationen Europas bestehen, denn nur so existiert Europa, müssen wir uns an das Vergangene erinnern, das Orientierung ermöglicht, denn ohne Ausgangspunkt kann nicht navigiert werden.

Der französische Präsident lässt die Rekonstruktion international ausschreiben. Es steht zu befürchten, dass das hippeste Architektenbüro den Auftrag erhält, dessen Konzept des Kaisers neuen Kleidern gleicht. Darf man Notre Dame den Architekten überlassen?

Wäre es nicht richtiger, sich darüber zu verständigen, wie Frankreich re-konstruiert werden könnte, um herauszufinden, was Notre Dame ist und was Notre Dame, was Europa werden kann? Ein Aufbruch womöglich in eine selbstbewusste Zukunft in ein Europa der Vaterländer, das seine Identität nicht verleugnet? Notre Dame ist Frankreich und ist auch Europa.

Walter Benjamin hatte in dem Essay „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner Reproduzierbarkeit“ einmal geschrieben: „Die Einzigartigkeit des Kunstwerks ist identisch mit seinem Eingebettetsein in den Zusammenhang der Tradition. Diese Tradition selber ist freilich etwas durchaus Lebendiges, etwas ganz außerordentlich Wandelbares.“

Im Wiederaufbau von Notre Dame könnte die Tradition lebendig werden, wenn man denn den Diskurs wagt, wenn man sich von der Zerstörung, die Dekonstruktion heißt, abwendet und sich auf das besinnt, was wir sind. Es handelt sich doch allein darum, im Wandel sich treu zu bleiben. Denn so wie Tradition etwas Lebendiges ist, benötigt Leben Tradition.

Notre Dame war, ist und bleibt ein Symbol.